18. August 2019
„Leidenschaft, die noch brennt, ist ein schlechter Ratgeber für jemanden, der gewissenhaft Wissenschaft ausüben will.“ Das sind nicht meine Worte, sondern die des Parlaments, das am 24. Februar 1945 den Gesetzentwurf für ein belgisches Weltkriegsmuseum beriet. Zu der Zeit war der Krieg noch in Gang. Belgien war bereits befreit, aber Nazi-Deutschland noch nicht besiegt. Tausende deportierter Belgier mussten noch aus den Lagern zurückkehren. Wenn sie noch zurückkamen. Das sollte in wenigen Monaten geschehen oder erst in den folgenden Jahren. Für viele war das Kriegsende alles andere als ein Fest, sondern vor allem ein banges Warten: Wer hat überlebt, wer wurde Witwe oder Witwer, wer Waisenkind?
Als schließlich die Antwort folgte, bedeutete es gleichermaßen Schmerz wie Befreiung: der Anfang einer nicht endenden Trauerzeit oder für die, die doch zurückkamen, das Versorgen von Narben, die ein Leben lang heftig schmerzen konnten, zu einer Zeit ohne Traumabegleitung, als sich ein Traumatologe noch mit gebrochenen Knochen statt mit gebrochenen Seelen beschäftigte.
Mit über 80.000 Toten bezahlte Belgien während des zweiten Weltkriegs einen hohen Preis. Fast einer von 100 Einwohnern ließ sein Leben. Ebenso viele Familien, Freunde und Bekannte tragen ein Erbe, das schwer zu verarbeiten ist. Vor diesem Hintergrund sollte das vorgesehene belgische Weltkriegsmuseum Hüter der Nation werden. Nach offiziellen Vorgaben sollte es über die „korrekte Erinnerung“ der großen Ereignisse wachen, von denen die gesamte Bevölkerung betroffen war. Zehn Tage nach der Kapitulation Nazi-Deutschlands beschloss das Parlament am 18. Mai 1945 einstimmig das Gesetz, um das Museumsprojekt auf den Weg zu geben. Zehn Monate später war von der ursprünglichen Begeisterung nichts mehr zu spüren. Die „korrekte Erinnerung“ und das Land selbst wirkten so zerrissen und aufgeteilt wie die Kriegstoten.
Natürlich ist der Krieg mehr als nur eine Rahmendarstellung oder Aufteilung von Totenzahlen, mehr als eine Rangfolge an Leid, für ein richtiges historisches Wissen aber sind die Proportionen äußerst wichtig. Auf etwas mehr als 80.000 Tote beläuft sich die größte Gruppe der deportierten Juden, mehr als ein Drittel der Gesamtzahl. Ihnen folgten zivile Opfer, Belgier, die bei den Kämpfen starben oder bei Bombardierungen, ein Viertel der Toten. Dann kommen Widerständler, ein gutes Fünftel: politische Häftlinge, erschossene Geiseln und Menschen, die durch kollaborierende Milizen ermordet wurden. Die gefallenen Soldaten stellen weitere 12 Prozent der Gesamtzahl dar. Und zum Schluss gibt es noch den verbleibenden, kleinsten Anteil von 6,6 %, für die Kollaborateure, die an der Ostfront fielen, bei Anschlägen des Widerstands umkamen oder nach dem Krieg hingerichtet wurden.
Wer ehrt welche Toten und welche Opfer werden vergessen? In Flandern gibt es deutlich mehr Kollaborateure – die Gruppe mit den wenigsten Toten und den meisten Überlebenden – die nach dem Krieg lange Zeit die lauteste Stimme hatten. Nicht die Opfer, die in der Lagern umkamen oder bestenfalls zurückkamen, sondern die, die wohl den Krieg verloren, kämpfen darum die öffentliche Anerkennung zu gewinnen. Als Beweis die Tatsache, dass fünf flämische Gemeinden bis heute noch den Namen des zu Tode verurteilten Nazipriesters Cyrie Verschaeve in ihrem Straßenplan hinnehmen. Im Ausland, selbst im wallonischen Teil Belgiens, bekommt man es vorgehalten. Straßen nach einen zu Tode verurteilten Kollaborateur zu benennen: das sind Zeichen für eine unaufgearbeitete belgische Vergangenheit.
Dass die Leidenschaft noch heute brennt, 75 Jahre danach, hat damit zu tun. Das Fehlen des Wissens um das Leid derer, die unter der Nazi-Besatzung gebeugt gingen. In Belgien geht es nicht darum, von oben herab eine „korrekte Erinnerung“ zu konstruieren. Noch vor Gründung des belgischen Weltkriegsmuseums wurde das ehrgeizige Projekt fallen gelassen.
Dass aber Leidenschaft, die noch brennt, ein schlechter Ratgeber für jemanden sei, der gewissenhaft Wissenschaft ausüben will, dem kann ich heute laut und deutlich widersprechen. Meensel-Kiezegem, wo die Zahl der Opfer nochmal um ein Zehnfaches höher liegt als im belgischen Durchschnitt, eröffnet ein Museum, das eine ausgewogene, von der Geschichtsschreibung dokumentierte Deutung der dramatischen Tage des August 1944 darstellt.
Nach Definition des international Council of Museums ICOM ist ein Museum „eine dauerhafte Ausstellung, nicht ausgerichtet auf Gewinn, Zugänglichkeit der Öffentlichkeit, dem Zusammenleben und seiner Entwicklung verpflichtet.“ Es gibt noch weitere Kriterien, über Sammlungen, die Verwaltung und die wissenschaftliche Forschung, die notwendig ist, um das Erbe verantwortlich darzustellen. All diese Punkte stellen für dieses Museum kein Problem dar, eher im Gegenteil.
Hoffentlich hört die flämische Regierung das, denn Flandern begibt sich heute auf den Weg auf derselben Grundlage, Museen einen offiziellen Status und die dazugehörenden Unterstützungsgelder zu bewilligen.
Zum einen erhält Flandern so die Möglichkeit, die unzureichende Darstellung der Kriegsjahre zu korrigieren. Ich verweise dazu nochmals auf die nach dem Kollaborateur Cyriel Verschaeve benannten Straßen, darauf, dass lange Zeit in Flandern mehr des Schicksals der Geiseln gedacht wurde als derer, die während der Besetzung gelitten haben. Für die ausländischen Vertreter: In Flandern ist es allgemein üblich, die nach dem Krieg bestraften Kollaborateure als Opfer zu bezeichnen. Mit diesem Museum gebt ihr denen ein Gesicht, eine Stimme, die eigentliche Opfer der Besetzung waren. Sie anzuerkennen bedeutet geistige Gesundung. Es ist notwendig, um unseren moralischen Kompass für die vierziger Jahre scharf einzustellen.
Der zweite Grund ist allgemeingültig. Man muss nicht unbedingt reisen, um die Welt kennenzulernen. Er liegt für jeden hier auf der Dorfstraße, sowohl bei schönen Dingen als auch hässlichen. In Meensel-Kiezegem, nicht so sehr in Sarajevo oder Ruanda in den neunziger Jahren. Das Museum zeigt, wie sich normale Menschen in einem System radikalisieren, wie brüchig das Zusammenleben ist und wie der Krieg eine lokale Gemeinschaft mit brutaler Gewalt zerbrechen kann. In Zeiten der Polarisierung, des Extremismus und großer demokratischer Spannungen gewinnt das Museum an erheblicher Bedeutung. Es hat eine große Signalfunktion, fördert das Zusammenleben und seine Entwicklung.
Der dritte Grund schließlich ist eher emotional, und genau daher von grundsätzlicher Bedeutung. Dieses Museum, Meensel-Kiezegem im Allgemeinen und besonders Jozef Craeninckx als letzter Zeitzeuge beweisen, wie eine Gemeinschaft trotz dramatischer Ereignisse den Faden schließlich wieder zurückrollen kann. Vor Kurzem kam es zu einem Treffen zwischen Jozef Craeninckx und ein paar Angehörigen eines der Täter, die für die Razzien von 1944 verantwortlich waren. Sie sind heute auch hier. Die Begegnung verlief ruhig, gefasst und wiederholbar. Es ist für uns alle vorbildlich.
Der Krieg, der uns im Sterben trennte, kann uns heute zusammenbringen. Trotz der Leidenschaft, die noch brennt, gelingt Meensel-Kiezegem, während vor 75 Jahren die Idee eines Weltkriegsmuseums zerbrach.
Anerkennung an die Organisation, die es ermöglichte. Anerkennung an alle Opfer, die den Krieg nicht überlebten und die, die zurückkamen. Anerkennung für Jozef Craeninckx. Ihr seid Hüter der Hoffnung und des Friedens. Wir können, wir müssen allemal daraus lernen.
Koen Aerts (Historiker der Universität Gent)