„Arbeit macht frei“ mit Goethe in Bremen und in Dachau.

17. November 2014

„Goethe in Dachau“- das richtige Thema am Goetheplatz in der Villa des ehemaligen Intendanten des Bremer Schauspielhauses am Goetheplatz? Welche Herausforderung in der Stadt von Rudolf Alexander Schröder, dem Schriftsteller und Übersetzer, dem national-konservativen Goethe- Verehrer und Leiter der Kunsthalle. Ein Ehrenbürger Bremens, den freilich die „Ungnade der frühen Geburt“ langsam einzuholen droht, weil er und seine Freunde um den ersten Bundespräsidenten Theodor Heuß der „Gnade der späten Geburt“ (Ex-Kanzler Kohl) nicht teilhaftig wurden. Gewiss, auch Repräsentanten der Wissenschaft und des Bürgertums gehörten zum Widerstand. So wurden u.a. drei prominente Mitglieder der Berliner Mittwochgesellschaft Opfer des NS-Terrors: Johannes Popitz; Ulrich von Hassel und Ludwig Beck. Schröder gehörte nicht dazu, auch wenn er sich mit Manfred Hausmann nach 1945 zum Anhänger der „inneren Emigration“ stilisierte.
Von dem Goethe-Verehrer war kein Einwand zu hören, dass „Arbeit macht frei“, dieses missbrauchte Goethe-Wort aus dem Faust, die Eingangstore von Auschwitz und Dachau „schmückte“. Aber, was er wahrscheinlich nicht wusste: In den Baracken der Lager konnte Goethe durchaus zur Ermutigung und zum Überleben beitragen. Die Konzentrationslager waren als Einrichtung der Ausbeutung und Vernichtung zugleich Orte, in denen Beethoven und Mozart auf dem Programmzettel standen und Goethes Faust gespielt wurde. Es erklang gelegentlich entartete Musik und es wurde zum Swing oder Jazz getanzt. Ein „Nigger-Gesang“, der im „Dritten Reich“ verboten war und dazu führte, dass Schüler nicht nur aus Hamburg, Lübeck und Bremen deshalb ins Jugendkonzentrationslager Moringen bei Göttingen deportiert wurden. Der dafür verantwortliche Oberschulrat wurde nach 1945 einer meiner Lehrer in Lübeck. Es war der einstige Hamburger Gauschulungsleiter Albert Henze, nach 1945 als „Mitläufer“ eingestuft und ab Ostern 1952 wieder Im Schuldienst, eingestellt vom Lübecker Schulsenator Lembke, dem selbst schwer belasteten späteren Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein.
Gewiss, das Konzentrationslager war kein Konzertlager. Aber in den deutschen KZ waren Musik und Literatur nicht ausgelöscht. Fast jedes KZ hatte ein Orchester und eine Bibliothek. Was für die Bürger in Deutschland verboten war, das war den Häftlingen erlaubt. Sie konnten die verbrannten Bücher der deutschen Dichter und Denker lesen und „entartete“ Musik“ von Schönberg hören, gespielt in Auschwitz von seinem Schüler Gideon Klein, der am 18. Januar 1945, dem Tag der Befreiung der Lager, aus Krankheitsgründen zurückbleiben musste und dort starb, bevor die sowjetische Armee Auschwitz am 27. Januar 1945 befreite. Unter den schwierigsten Bedingungen und oft illegal bot sich so den Häftlingen die Möglichkeit, an ihren eigenen Ideen und Fähigkeiten festzuhalten, psychisch zu überleben, widerständig zu bleiben. Erich Klann, der aus Lübeck stammende und ins KZ Sachsenhausen deportierte spätere Direktor des Arbeitsamtes der Hansestadt, organisierte z.B. mit dem illegalen Lagerleiter von Sachsenhausen Harry Naujoks aus Hamburg und dem Bremer Leiter der Häftlingsbücherei Edgar Bennert nach dem Massenmord an 18. 000 sowjetischen Soldaten und der Exekution von jüdischen Häftlingen Musikabende und Lesungen von Goethe- und Tolstoi-Stücken. Sie wollten damit die Moral derjenigen aufrecht erhalten, die angesichts dieser Morde und Untaten verzweifelten. Ein Versuch, die gequälten Häftlinge zu stärken, ihnen Mut zu geben, den Kampf gegen den Faschismus auch und gerade im KZ so lange wie möglich zu führen.
Warum ging die Erinnerung an diese eng mit den Hansestädten verbundenen Männer und Frauen des Widerstands verloren? Zum Beispiel an Edgar Bennert (1890-1960). Er war vor 1933 ein prominenter Schauspieler und Redakteur aus Bremen, der als KPD-Mitglied schon vor 1933 verfolgt wurde. Bennert gehörte zusammen mit seinem Bremer Freund Max Burghardt zum Schauspielensemble des Bremer Stadttheaters und war von 1928 bis 1933 Chefredakteur der Bremer Arbeiterzeitung, der Tageszeitung des KPD-Bezirks Nordwest. Als solcher wurde er schon vor 1933 mehrfach mit Prozessen überzogen und verurteilt. Ähnlich erging es dem Vater von Bürgermeister Hans Koschnick. Beide engagierten sich in der Agitprop-Arbeit der Partei. Edgar Bennert leitete die legendären „Blauen Blusen“. Er gründete an der Wende von 1932 auf 1933 die Marxistische Arbeiterschule Bremen, dem Vorläufer der Masch. Und er leitete mit Eberhard Peters die „Soziologische Studiengemeinschaft“, eine Bildungseinrichtung in Kooperation mit fortschrittlichen bürgerlichen Kräften zur Intensivierung der antifaschistischen Aufklärung. Hier kamen noch vor 1933 Erich Weinert, Erich Mühsam und Alfons Goldschmidt zu Wort.
Als KZ-Häftling in Bremen-Mißler, in Esterwegen und Sachsenhausen setzte Bennert die kulturelle Überlebensarbeit fort, u.a. mit Helmut Bock von der SPD als Regisseur von Theaterstücken von Goethe und Hauptmann im KZ Sachsenhausen. Er spielte im KZ den Faust, Gustav Voss den Wagner und Bock den Mephisto. Und er leitete die Häftlingsbibliothek als Keimzelle des Widerstands im KZ. Nach der Befreiung kam kein Ruf aus Bremen. Aber Bennert wurde Intendant des Mecklenburgischen Staatstheaters in Schwerin. 1955 war er mit seiner legendären Schweriner Inszenierung des „Teufelkreises“ von Hedda Zinner in 11 Städten der BRD zu Gast. Warum nicht in seiner alten Wirkungsstätte Bremen? Lag es am politischen Inhalt dieser mehrfach ausgezeichneten Inszenierung, die unter Verwendung dokumentarischen Materials aus dem Reichstagsbrandprozess die Fehler der Arbeiterbewegung aus Anlass der Machtübertragung an Hitler thematisiert- aus der Sicht der Erzählerin mit jüdisch-österreichischer Herkunft?
Nicht anders und besser erging es zunächst dem Bremer Schauspieler, Regisseur, Theaterleiter und Kulturpolitiker Max Burghardt(1893-1977). 1945 nach Verfolgung und Zuchthaus zurückgekehrt nach Bremen, gehörte er zu denen, die das Theaterleben hier wieder aufbauten. Er verfasste für die Bremer Kampfgemeinschaft gegen den Faschismus (KGF) einen Grundsatzbeitrag zum „Theater als Spiegel der Zeit“, nachzulesen im „Aufbau“, dem Organ der KGF, Nr.8 vom September 1945: „Aus tiefer Not geboren, dient das Theater der Milderung der Not und der Herstellung der Wahrheit“. Vergeblich wartete der Kommunist Burghardt auf ein Angebot aus Bremen. Er hatte dennoch Glück: Der prominente Theatermann überlebte für kurze Zeit ab Mai 1946 mit Hilfe der britischen Besatzungsmacht als „Roter Intendant“ am Kölner Sender, dem Vorläufer des WDR. Er wurde 1947 Intendant der Leipziger Bühnen, bevor er den ehrenvollen Ruf als Leiter der Deutschen Staatsoper in Berlin erhielt und Präsident des Kulturbundes wurde. Ebenso erging es seinem Freund aus Bremer und Düsseldorfer Jahren, dem KZ- Börgermoor-Häftling Wolfgang Langhoff (Die Moorsoldaten). 1945 zurückgerufen aus dem Exil als Mitglied des Züricher Schauspielhauses in seine Heimatstadt als Generalintendant der Städtischen Bühnen Düsseldorf, musste er Platz machen für den Göring-Freund Gustaf Gründgens, konnte aber seine Weltkarriere als Intendant des Deutschen Theaters in Berlin fortsetzen. Also in jenem Theater, das von 1934 bis 1944 von Gründgens als Staatstheater geleitet worden war . In den offiziellen Darstellungen des Theaterlebens von Bremen tauchen sie bis heute nicht auf. Keine Straße, keine Ehrentafel hält die Erinnerung an sie fest.
Jörg Wollenberg Vortrag am 28.10. 2014 um 20 Uhr in der Villa Ichon

Sommer in Heideruh

15. September 2014

Gut besucht war am 26. Juli das Sommerfest in Heideruh. Mehr als 300 Besucher*innen erfuhren von den Veränderungen an diesem idyllischen Ort. Seit letztem Winter finden hier Menschen auf der Flucht einen solidarischen Ruhepunkt. Trotz des Wirbels, den Behörden derzeit mit Rückführungen und Abschiebungen veranstalten, konnte Heideruh jungen Sudanesen beim Gang durch die Behördenhindernisse zur Seite stehen…die DDR-Radsportlegende Taeve Schur begeisterte seine Zuhörer mit seinen Geschichten der Friedensfahrten und historischen Begebenheiten, Esther Bejarano und die Microphone Mafia vermochten Jung und Alt zusammenzubringen zu einem musikalischen wie aufrüttelnden Credo….Ein Dutzend internationale Freiwillige aus acht Ländern informierten sich drei Wochen lang über die Geschichte dieses Ortes, über das Schicksal der KZ-Häftlinge, die mit der Heidebahn dem Tod entgegenfuhren, über die Geschichte des Jugendwiderstandes gegen den Faschismus. Für eine Woche gab es auch wieder ein selbstverwaltetes antifaschistisches Jugendcamp für 40 junge Antifas aus der Region…. Gebannt hingen sämtliche Campteilnehmer*innen an den Lippen Esther Bejaranos, als sie von ihrer Deportation nach Auschwitz und der Rettung durch das Mädchenorchester und die Verlegung nach Ravensbrück erzählte.
Auszug BAF10/11.2014

Gedenken in Belgien und Bremen

15. September 2014

Unsere Gastgeber hatten ein tolles Rahmenprogramm für uns zusammengestellt. So wurden wir am ersten Tag durch den Ort gefahren und es wurden uns die Stätten der schrecklichen Ereignisse vom 01. und 11.08.1944 gezeigt. Ich hatte das Glück, dass ich bei Guido Hendrickx im Auto mitfahren konnte, so hatte ich eine besondere Führung durch den Ort… Die Sichtweise der beiden Museen ist doch sehr unterschiedlich, Haus Hageland beschäftigt sich mehr mit persönlichen Schicksalen der Menschen im Ort und das andere doch eher mit den allgemeinen Begebenheiten im August 44. Es wäre schön wenn man sie zusammenlegen würde, dann ergebe es ein noch besseres Gesamtbild der Ereignisse und Schicksale der Familien in Meensel-Kiezegem.
Auszug BAF-10/11.2014

Das Schweigen durchbrechen

15. September 2014

Zu sechst hatten Mitglieder der Bremer VVN/Bund der Antifaschist*innen Anfang August Gelegenheit an den Gedenkfeiern in Meensel-Kiezegem teilzunehmen. Das kleine belgische 900-Seelen-Dorf unweit von Brüssel erlitt vor 70 Jahren die Deportation von 98 Einwohnern bei zwei Razzien der SS…. Seit zwölf Jahren bestehen intensive Kontakte zu ihren Angehörigen. …In Meensel-Kiezegem wurden wir Anfang August bei unserer Gedenkfahrt auf herzlichste empfangen, untergebracht und betreut in einer idyllischen Familienpension, hatten intensive Gespräche, eine ausgedehnte Führung durch die örtlichen Gegebenheiten, den Spuren der Razzien folgend, was dann in den beiden Museen anhand von Dokumenten, Bildern und einem Panorama vertieft wurde… Josephine (17) und ihr Bruder Anton (13) waren tief beeindruckt von dem Respekt, den man beiden Bremer Jugendlichen bei der Kranzniederlegung zollte.
Auszug BAF 10/11.2014

Spurensuche in Emden

15. September 2014

Zu fünft haben wir am 7. September den Besuch der Kamerad*innen aus Emden erwidert. Gemeinsam hatten wir Ende Januar in dichtem Schneegestöber die Gräber von fünf ukrainischen Zwangsarbeitern auf dem Osterholzer Friedhof in Bremen besucht. Jetzt konnten wir bei frühherbstlichem Sonnenschein den Ort besuchen, an dem sie am 26. Januar 1944 erschossen worden waren….Auf dem Friedhof kamen wir zunächst zu anonymen Gräbern für Kinder von Zwangsarbeiterinnen,… Eine lange Baumallee führte entlang Gräbern für Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge, großenteils sowjetischer Herkunft,…Vom Friedhof fuhren wir zu einigen in Emden verlegten Stolpersteinen in Erinnerung an eine Reihe jüdischer Familien, die bis zur Reichspogromnacht 1938 dort in guter Nachbarschaft lebten.
Auszug BAF 10/11.2014

1950 bereits unerwünscht

15. September 2014

Ernst Thälmann, der vor 70 Jahren im KZ Buchenwald nach elfjähriger KZ-Haft ermordet wurde, ist ein Beispiel dafür, wie das antifaschistische Erbe der deutschen Arbeiterbewegung nach 1945 in Westdeutschland ausgeblendet worden ist….Sowohl in Hamburg wie auch in Bremen wurde nach dem Zweiten Weltkrieg jeweils eine Straße nach Ernst Thälmann benannt. …In Bremen wurde bereits im Dezember 1945 die Moltkestraße in Hemelingen in „Thälmannstraße“ umbenannt. Den Beschluss dazu fasste der Präsident des Bremer Senats Bürgermeister Wilhelm Kaisen (SPD). Schon keine fünf Jahre später entschied auf Antrag von Bewohnern der Thälmannstraße der Ortsamtsbeirat die Umbenennung….Die Geschäftsführung der Bremischen Bürgerschaft hielt es nicht für notwendig, die Umbenennung der Straße im Plenum zu behandeln….Als die Umbenennung im Juli 1951 vom Senat ratifiziert wurde, stand in derselben Sitzung das „Verbot der Freien Deutschen Jugend (FDJ)“ auf der Tagesordnung. …Als Ende der fünfziger Jahre das Wohngebiet Vahr entstand, erhielten die Straßen Namen nach Personen der deutschen Arbeiterbewegung und des antifaschistischen Widerstands….Hier war die Möglichkeit gegeben, einer der Straßen den Namen Ernst Thälmann zu geben. Aber weder er noch ein anderer aus der KPD wurde berücksichtigt…Bremen dagegen wartet bis heute eine Straße oder ein Platz darauf, den Namen dieses unbeugsamen Reichstagsabgeordneten und Vorsitzenden der KPD wieder zu tragen.
Auszug BAF 10/11.2014

15. September 2014

Ethnische Säuberungen, Völkermord, Flucht und Vertreibung im Europa der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschreibt der polnische Autor Jan M. Piskorski auf eindrucksvolle Weise. Auch wenn er hin und wieder antisowjetische Ressentiments zum Ausdruck bringt, ist es ein sehr faktenreiches und fundiertes Werk. Zunächst beschreibt er die Massenvertreibungen in den Balkankriegen, die dem Ersten Weltkrieg vorausgingen und endet mit einem Epilog zu den ethnischen Säuberungen in den Staaten des ehemaligen Jugoslawien zwischen 1989 und 1999. Bewusst unterscheidet er zwischen Vertreibungen, Umsiedlungen und ethnischen Säuberungen. In den Mittelpunkt seiner Darstellung stellt er die staatlichen Versuche einer ethnischen „Homogenisierung“ der Mittel- und Südosteuropäischen Länder zwischen 1918 und 1948. In voller Absicht gibt er seinem Buch den Titel „Die Verjagten“ und stellt den Vertreibungsplänen verschiedener Staaten den unbedingten Vernichtungswillen gegenüber der jüdischen, russischen, polnischen, serbischen Bevölkerung durch die Nationalsozialisten entgegen.
Piskorski widerlegt die kruden Thesen Ernst Noltes, der Stalins Umsiedlungsaktionen in den dreißiger Jahren und während des Zweiten Weltkriegs als Modell für Hitlers Vernichtungspläne gegenüber dem europäischen Judentum ausmachen will. Deutlich wird dabei auch, welch lange Tradition zaristische Umsiedlungsaktionen gegenüber ganzen ethnischen Gruppen hatte. Anhand neuerer Archivfunde und realistischer Berechnungen relativiert er die während des Kalten Krieges gängigen Zahlen in Bezug auf die Anzahl ermordeter oder vertriebener Menschen in Ostmitteleuropa. Piskorski stellt der aus Furcht vor einer möglicherweise wieder erwachenden Stärke der Deutschen verordneten Vertreibung kriminelle oder aus Hunger, Rachegefühlen, Neid erwachsene massenhafte Übergriffe in der letzten Kriegsphase und zu Ende des Krieges entgegen. An Einzelbeispielen macht er deutlich, dass „anständige“ Deutsche dabei sehr wohl von Nachbarn wie von Behörden in Schutz genommen wurden.
Fluchtgründe, Ängste, Sehnsucht und Hoffnung der Verjagten versucht Piskorski eindrucksvoll durch Schilderungen aus literarischen Werken deutlich zu machen. Erich Maria Remarque und Irène Némirovsky kommen in ihren Fluchterlebnissen zu Wort. Der aufbewahrte Hausschlüssel ist für ihn Symbol vergeblicher Hoffnung auf eine Rückkehr in ein längst beendetes früheres Leben in gewohnten Bahnen. Mit ausführlichem Ortsregister und Literaturverzeichnis.
Jan M. Piskorski, Die Verjagten. Flucht und Vertreibung im Europa des 20. Jahrhunderts, 433 S., 24,99 Euro, dt. Ausg. Siedler Verlag München 2013, ISBN 978-3-8275-0025-0
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Attraktion der NS-Bewegung

15. September 2014

75 Jahre nach Entfesselung des Zweiten Weltkriegs stellt sich verstärkt die Frage wie es in Deutschland zur Machtübertragung an die Faschisten kommen konnte „Worin bestand die Anziehungskraft der Nazi-Bewegung?“ fragt die Herausgeberin Gudrun Brockhaus anlässlich einer Tagung über die Aufstiegszeit der NSDAP. Die Wahlergebnisse neofaschistischer und rechtspopulistischer Parteien und eine lange Jahre nicht gewollte Aufklärung über das Mordtreiben des so genannten NS-Untergrunds stellen meines Erachtens das Thema in voller Deutlichkeit auf die Tagesordnung. Immer noch werden neue Einzelheiten zur Verantwortlichkeit des Finanzkapitals, des Militärs und der seit dem Kaiserreich bestehenden Eliten in Archiven gefunden. In 17 Beiträgen wird die subjektive Motivation von Teilen des Mittelstands beleuchtet, sich dem Faschismus anzuschließen bzw. zu unterwerfen. Untersucht werden die Verarbeitung des Fronterlebnisses nach dem Ersten Weltkrieg, die Empfänglichkeit verschiedener sozialer Gruppen für die NS-Bewegung, die Bedeutung der wirtschaftlichen Krisen der Weimarer Republik, die Rolle des Antisemitismus, die Rolle von Personenkult und der Einsatz moderner Technik und Kommunikation. Offensichtlich verloren die liberalen und konservativen berufsständischen Honoratiorenparteien mit der Wirtschaftskrise von 1929 ihren Rückhalt im Mittelstand, die Einpunktparteien waren unfähig das verlorene Vertrauen zu binden. Angesicht kriegstraumatischer Erlebnisse schwand die Hoffnung, auf dem Verhandlungsweg mit den Siegermächten eine nachhaltige Besserung zu erreichen. Viele Mittelständische träumten von einem Kaiserreich ohne Kaiser, die Vorstellung von einem Revanchekrieg schien ihnen vielfach der einzige Ausweg aus ihrer unsicheren wirtschaftlichen Lage. Sie hofften auf eine Überwindung des Versailler Vertrag mit einem Handstreich. Die Weimarer Demokratie und ihre Parteien werteten sie vielfach als aufgezwungenes System.
Die Attraktivität des NS-Systems bestand darin, dass es sich ihnen als Bewegung darstellte, als mitreißende tatkräftige Aktionsform, die vorgeblich von einem Mann von ganz unten geführt wurde. Die NS-Bewegung zeigte sich als dynamisch, Hitler absolvierte zwischen April und November 1932 auf vier Flugreisen 148 Reden vor einem Publikum von jeweils 20-30.000 Menschen. 31,7% des Mittelstands träumte von einer harmonischen Volksgemeinschaft, 22,5% war extrem nationalistisch, 18,1% verfiel einem ausgeprägten Hitlerkult. Die Stoßtrupps des Grabenkriegs von 1914/18 wurden in der Zeit der Wirtschaftskrise Vorbild für die Mobilisierung von Angehörigen des Mittelstands auf dem politischen Feld. Militarismus, Vitalität, Gewaltbereitschaft, Jugendkult, Kameradschaft banden Landsknechte in der SA weit mehr als im ultrakonservativen Stahlhelm, wurde doch scheinbar die verkrustete Gesellschaft aufgebrochen. Mit der Entrechtung und Enteignung des jüdischen Teils der Bevölkerung gab es Wohnungen, Arbeitsplätze, sozialen Aufstieg zu gewinnen. Zudem geschah etwas, um die Angst vor revolutionärer Veränderung zu beenden. Diskussionen, Verhandlungen, all das wurde ersetzt durch inszenierte Auftritte mit nächtlichen Inszenierungen, Fackelzügen, Heldenverehrung und Beschwörungsformeln, deutlich symbolisiert mit dem Handschlag zwischen Hitler und Hindenburg vor der Garnisonskirche in Potsdam. Die letzten drei Beiträge beschäftigen sich mit dem Neofaschismus von heute. Darin geht es um Gewaltprävention, der Wirkung nationalistischer Flash Mobs und die Rolle der Gewalt in der neofaschistischen Ideologie und Praxis. Ein ausführliches Literaturverzeichnis erleichtert die weitere Beschäftigung mit dem Thema.
Gudrun Brockhaus (Hrsg.) Attraktion der NS-Bewegung, Klartext Verlag Essen, 341 S., Juli 2014, 22,95 Euro, ISBN 978-3-8375-1033-1

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28 Tage lang

15. September 2014

David Safier war bis jetzt eigentlich bekannt für seine humoristischen Bücher. Mit seinem neuen Roman „28 Tage lang“ greift er nun ein ernstes Thema auf, das Leben und den Aufstand im Ghetto von Warschau.
Mira, 16 Jahre, schmuggelt Lebensmittel ins Ghetto, um Schwester, Mutter und sich am Leben zu erhalten. Ihr Bruder dient sich währenddessen den deutschen Besatzern an, versucht aber seine Familie vor dem Schlimmsten zu bewahren. Auf einem ihrer Schmuggeltouren außerhalb des Ghettos lernt Mira Amos kennen, dessen Identität und seine wahren Hintergründe lange im Dunkeln bleiben. Als sie erfährt, dass das Ghetto geräumt und alle Bewohner umgebracht werden sollen, wird ihre Freundschaft zu Daniel, einem jüdischen Waisenjungen, der im Kinderheim bei Janusz Korczak lebt, auf eine harte Probe gestellt, zumal sie auch eine tiefe Zuneigung zu Amos entwickelt hat. Sie schließt sich der Widerstandgruppe an, der es gelingt sich 28 Tage lang der Räumung des Ghettos zu widersetzen.
Einigen wird sicherlich David Safiers Vermischen von Wahrheit und Fiktion zu diesem Thema nicht unbedingt gefallen. Ich bin allerdings der Meinung, dass der Roman mit dieser Mischung sehr gelungen ist. Er zeigt eindringlich das Elend und die Verzweiflung der Menschen im Ghetto auf, die zum Schluss nur noch den Tod vor Augen haben, mit einfühlsamer Offenheit gleichzeitig aber auch den ungebrochenen Lebenswillen einiger Menschen. Die Geschichte um Mira ist zwar erfunden, könnte sich aber so oder ähnlich mit Sicherheit nicht nur im Warschauer Ghetto abgespielt haben. Ein sehr bewegendes Buch, das mich an manchen Stellen mit den Tränen kämpfen ließ und ich gezwungen war, es öfter als gewollt aus der Hand zu legen, um das Gelesene verarbeiten zu können. Es zeigt uns mal wieder, zu welchen Grausamkeiten der Mensch doch fähig ist und dass sich das Geschehene nicht wiederholen darf. Meiner Meinung ist dieses Buch ein Muss für Jeden, der sich mit unserer Vergangenheit auseinandersetzt.
Im Anhang des Buches befinden sich Auszüge aus einem Gespräch zwischen Michael Töteberg und David Safir, was dem Leser David Safiers Beweggründe zum Schreiben dieses Romans näherbringt.
David Safier „28 Tage lang“ Rowohlt Verlag 16,95 Euro ISBN9783463406404

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Fritz Bauer als Zerrbild – Eine Biografie mit Lücken und Tücken

21. August 2014


Kaum zehn Minuten Fußweg vom Geburtshaus Goethes im Frankfurter Großen Hirschgraben entfernt hat sich 1960 ein Ereignis zugetragen, das der amerikanische Kriminalromanautor James Ellroy („Die schwarze Dahlie“) kaum spannender hätte beschreiben können, als das in Ronen Steinkes Biografie über den Initiator des Frankfurter Auschwitzprozesses, Fritz Bauer, geschieht. (Fritz Bauer oder Auschwitz vor Gericht, Piper Verlag, München 2013). Ort der Handlung, von der niemand weiß, an welchem Tag sie sich abgespielt hat, war ein Gebäude in der Frankfurter Gerichtsstraße, in dem sich das Büro des hessischen Generalstaatsanwalts Dr. Fritz Bauer befand. Kurz danach, am 11. Mai 1960, wurde in Buenos Aires der ehemalige SS-Führer Adolf Eichmann, einer der Organisatoren des Massenmordes der Nazis an den europäischen Juden, von Angehörigen des israelischen Geheimdienstes, festgenommen. Seinen Aufenthaltsort hatten die Israelis von Fritz Bauer erfahren. Und so beginnt Steinkes Buch:

„Die schwere Eichentür in der Frankfurter Gerichtsstraße gibt kaum einen Laut von sich, als der 27jährige Michael Maor sie öffnet und unbemerkt in das dunkle Gebäude hineinschlüpft. Den Weg haben sie ihm vorher genau aufgezeichnet. Rechts die steinerne Treppe hinauf, bis zum zweiten Stock…Du kannst es gar nicht verfehlen, haben sie ihm gesagt… Der Auftrag des israelischen Ex-Fallschirmspringers: Fotografiere die Akte, die links auf dem Tisch liegt. Der Tisch steht im Büro des Frankfurter Generalstaatsanwalts Fritz Bauer.“ (Seite 13).

Woher wusste Steinke diese Einzelheiten? Hatte er gelesen, was am 31. Juli 1995 im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ (Nr. 31) stand? Dort wurde die Szene so beschrieben:

„Wie geplant, war die Eichentür des Gebäudes in der Frankfurter Gerichtsstraße leicht zu öffnen. Michael Maor schlich durch die Vorhalle und gleich rechts die mächtige Steintreppe hoch, über den Flur im ersten Stock. Es war dunkel, niemand war zu hören oder zu sehen, weiter tappte er die nächste Treppe hoch. Dann, im zweiten Stock – ‚Du kannst es gar nicht verfehlen’, hatten sie ihm gesagt – lag gegenüber dem Treppenabsatz das Büro. Der Israeli Maor könnte den Weg durch das Frankfurter Justizgebäude heute noch mit geschlossenen Augen gehen bis zu der Tür, vor der er vor 35 Jahren stehen blieb. Sein Auftrag: ‚Fotografier die Akte, die links auf dem Schreibtisch liegt.’ . . . Der Raum, in den Maor im Frühjahr 1960 heimlich eindrang, war das Dienstzimmer des damaligen hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer . . .“ (Nr. 31 vom 31. Juli 1995).

Den weiteren Fortgang der nächtlichen Spähaktion des israelischen Geheimdienstagenten im Frankfurter Büro des hessischen Generalstaatsanwalts beschreibt Ronen Steinke so:

„Es riecht nach Zigarren, die langen Gardinen sind zugezogen, an den Wänden hängt moderne Kunst. Und links auf dem Schreibtisch, von allen anderen Papieren säuberlich getrennt, liegt ein Stapel. ‚Das waren NS-Unterlagen, Tätigkeitsberichte, auch Fotos’, erinnert sich Maor, ‚und überall Hakenkreuze.’ Es ist die Akte Adolf Eichmanns . . .“ (Seite 13).

Im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ vom 31. Juli 1995 war 18 Jahre davor unter der Überschrift „Feindliches Ausland“ zu lesen gewesen:

„Im Büro des Generalstaatsanwalts fand er alles wie besprochen vor. Die Gardinen waren zugezogen, es roch nach Zigarren, und links auf dem Schreibtisch, von allen anderen Papieren deutlich isoliert, lag ein Stapel. ‚Das waren NS-Unterlagen, Tätigkeitsberichte, auch Fotos’, erzählt Maor, ‚und überall Hakenkreuze.’ . . . Maor ist sich sicher, dass nur der Ermittler die Akte Eichmann derart offensichtlich auf dem Schreibtisch plaziert haben konnte.“

In der Biografie von Ronen Steinke hieß es weiter:

„Gerade hat der israelische Agent in Fritz Bauers dunklem Büro seine Fotoausrüstung aufgebaut, da zuckt er zusammen: ‚Plötzlich hörte ich Schritte, und Licht fiel durch den Türritz.’ Michael Maor versteckte sich eilig hinter dem Schreibtisch, der Mensch auf dem grünen Linoleum draußen näherte sich mit langsamen, seltsam schlurfenden Schritten. Es scheint, als ziehe er irgendetwas hinter sich über den Boden. Maor verharrt – bis ihm klar wird, dass es die Putzfrau sein muss. ‚Offenbar war sie ein bißchen schlampig’, glaubt er, denn die Frau erspart sich die Arbeit im verqualmten 60-Quadratmeter-Büro des Generalstaatsanwalts und schlurft weiter.“(Seite 15).

Die entsprechende Passage liest sich im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ vom 31. Juli 1995 so:

„Er hatte gerade alles vorbereitet, da wurde er gestört: ‚Plötzlich hörte ich Schritte, und Licht fiel durch den Türritz.’ Schnell löschte Maor die Repro-Lampe und versteckte sich hinter dem Schreibtisch. Er konzentriert sich auf die seltsam schlurfenden Schritte, die näher kamen. Der Mensch, so erkannte Maor, zog irgend etwas auf dem Boden hinter sich her. Dann wurde ihm klar, dass es sich nur um die Putzfrau mit ihrem Schrubber handeln könne. ’Offenbar war sie ein bisschen schlampig’, sagt Maor. Die Frau ersparte sich die Arbeit in Bauers Zimmer und schlurfte weiter, nachdem sie kurz vor der Tür verharrt hatte.“

Schwieriger Umgang mit den Fakten

Ein Verleger, der die Textauszüge miteinander verglichen hatte, schrieb mir: „Das schrammt haarscharf am Plagiat vorbei. Auf jeden Fall ist eine solche Arbeitsweise völlig unseriös.“
Dass der Verfasser der Biografie augenscheinlich eine Vorlage benutzt hat, erfährt der Leser zunächst nicht. Erst am Schluss des Buches heißt auf Seite 283 in den „Anmerkungen“: „ ‚Das waren NS-Unterlagen’ und folgende Zitate Maors: ‚Feindliches Ausland’, Der Spiegel, 31. Juli 1995“. Der knappe Satz erweckt den Anschein, als stamme der Text v o r dem erwähnten Zitat aus eigener Quelle. Aber auch der ist unverkennbar abgekupfert, und schon dort stehen, ohne Kennzeichnung, zwei wörtliche Zitate. („Du kannst es gar nicht verfehlen“ und „Fotografiere die Akte, die links auf dem Schreibtisch liegt“; bei Steinke heißt es, leicht abgewandelt: „…die links auf dem Tisch liegt.“

So viel Lässigkeit im Umgang mit dem Gedankengut anderer sollte man sich nicht erlauben, erst recht nicht, wenn man dem Nazigegner Fritz Bauer unter Berufung auf eine Nazipublikation unterstellt, er habe 1933 ein Treuebekenntnis gegenüber der Naziführung abgelegt. Dazu später mehr. Zur angeblichen Homosexualität Fritz Bauers, über die sich Steinke ohne konkreten Beweis und ohne Rücksicht auf die menschliche Würde des Verstorbenen bis zur Peinlichkeit hin verbreitet, nur soviel: weder das Bundesarchiv in Koblenz noch das Archiv des Bundesnachrichtendienstes verfügen, wie sie mir schriftlich bestätigten, über Unterlagen, die auf eine Homosexualität des hessischen Generalstaatsanwalts hindeuten.

Noch ehe ich Steinkes Biografie über Fritz Bauer gelesen hatte, war ich über einen Artikel des promovierten Juristen in der Süddeutschen Zeitung vom 15. Oktober 2013 gestolpert, in dem es hieß, der Saal, in dem der Auschwitzprozess 1963 begonnen habe, sei 120 Meter lang gewesen. Er meinte damit den Tagungsraum der Frankfurter Stadtverordneten im historischen Römer, der dem Gericht überlassen worden war, weil sich die Fertigstellung des eigentlich vorgesehenen Verhandlungssaales im Bürgerhaus Gallus verzögert hatte. Da ich den Auschwitzprozess als journalistischer Berichterstatter miterlebt habe, hielt ich eine Richtigstellung der Wahrheit wegen für angezeigt. Daraufhin schrieb mir Ronen Steinke, ihm sei in der Tat bei der Länge des Saales etwas durcheinander gegangen. 120 Meter lang sei der Saal im Bürgerhaus Gallus gewesen, in dem der Prozess ab Frühjahr 1964 stattgefunden habe. Der Saal im Römer sei zwar auch lang, nämlich 80 Meter, aber doch nicht ganz so lang. Damit hatte er der einen falschen Angabe eine zweite hinzugefügt. In Wirklichkeit beträgt die Länge des Saales im Römer 23,8 Meter, und die des Saales im Bürgerhaus Gallus 24,9 Meter.

Ich habe mich gewundert, weshalb Ronen Steinke sich hartnäckig weigerte, diesen offenkundigen Lapsus zu berichtigen. Bei der Lektüre seiner Fritz-Bauer-Biografie wurde mir klar, weshalb er sich dagegen sträubte. Dort verbreitet er nämlich denselben Unsinn. Wäre es nur das, könnte man vielleicht ein Auge zudrücken. Aber Steinke nimmt es auch bei anderen Dingen nicht so genau. So behauptet er, die Angeklagten im Auschwitzprozess hätten während der Hauptverhandlung auf den „vorderen Reihen im Zuschauerraum“ gesessen. Weiter heißt es: „Mancher nichtsahnende Besucher hat schon einen von ihnen von hinten angetippt und freundlich flüsternd nach dem rätselhaften juristischen Geschehen da vorn gefragt.“ Das ist Boulevard-Journalismus. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der angesehene Schriftsteller Horst Krüger, auf den Steinke sich in diesem Zusammenhang beruft, die Dinge so falsch dargestellt hat. Auf jedem Foto aus dem Verhandlungssaal kann man sehen, dass die Angeklagten keineswegs so dicht neben den Besuchern saßen, sondern getrennt von ihnen in einem von Polizisten flankierten gesonderten Block.

Das Jahrhundertverfahren gegen Beteiligte am Massenmord an den Juden atmosphärisch in die Nähe einer Verhandlung vor einem königlich-bayerischen Amtsgericht zu rücken, lässt sich mit Unerfahrenheit nicht erklären. Steinke ist Jurist. Dass sein Mentor Werner Renz vom Fritz-Bauer-Institut das hat durchgehen lassen, ist unbegreiflich, zumal da er Sachkunde als notwendige Voraussetzung betrachtet, „um über das vielfältige Wirken des Hessischen
Generalstaatsanwalts Fritz Bauer angemessen arbeiten und publizieren zu können“. Hinzu kommt, dass bereits eine ehemals leitende Mitarbeiterin des Instituts eine – wie die Süddeutsche Zeitung schrieb – „exzellente Biografie“ über Fritz Bauer vorgelegt hatte. (Irmtrud Wojak, Fritz Bauer, 1903-1968. Eine Biografie, C.H. Beck, 2009).

Auf der Lauer vor dem Schlafzimmer

Ronen Steinkes Biografie erschien vier Jahre nach der von Irmtrud Wojak. Ihr Werk umfasst rund 600 Seiten, die Recherchen nahmen zehn Jahre in Anspruch. Steinke brauchte für seine rund 300 Seiten nur einen Bruchteil dieser Zeit. Ging ihm das Schreiben so flott von der Hand, oder haben ihn Mitarbeiter des Fritz-Bauer-Instituts so intensiv unterstützt?
Was gab es Neues über Fritz Bauer zu berichten, so kurz nach dem Erscheinen der von Steinke selbst so bezeichneten „hervorragenden wissenschaftlichen Arbeit“ von Irmtrud Wojak? Es seien „weiße Flecken“ geblieben, schreibt er auf Seite 24, und zwar nicht nur in der Arbeit von Irmtrud Wojak, mit der diese sich habilitierte, sondern auch in der Dissertation von Matthias Meusch, der 2001 Fritz Bauers Leben und Werk gewürdigt hatte.

Bauer habe – obwohl aus einer jüdischen Familie stammend – zu anderen Juden auffallend Distanz gehalten, sich selbst aber 1945 stolz einen Juden genannt. Nach seiner Rückkehr aus dem Exil nach Deutschland im Jahr 1949 habe er damit begonnen, „diesen Teil seiner Biografie peinlich vor der Öffentlichkeit zu verbergen“. Im Kopenhagener Staatsarchiv lägen seit Jahrzehnten Berichte darüber vor, „wie Bauer als junger Mann im Exil wegen homosexueller Handlungen verhaftet wurde.“ (Seite 25).

Bauer wurde während seines Exils niemals verhaftet. Dazu hätte es eines Haftbefehls bedurft und des Verdachts einer strafbaren Tat. Beides gab es nicht; Homosexualität war in Dänemark nicht strafbar. Wie die Historikerin Monika Boll im Begleitbuch zur Ausstellung „Fritz Bauer – Der Staatsanwalt“ schreibt, wurde Fritz Bauer zwar von der dänischen Staatspolizei „wegen homosexueller Kontakte regelrecht observiert“ und er bekam „viele Vorladungen“ von der Ausländerbehörde, verhaftet wurde er jedoch niemals.

Dass Ronen Steinke seinen Lesern auch in diesem Fall etwas erzählt, das nicht stimmt, ist schlimm genug, aber es kommt noch schlimmer. (Seite 101 f.) Schon im ersten Monat nach seiner Ankunft in Dänemark habe Fritz Bauer „eine Nacht mit einem Dänen“ verbracht. Ob er in „verbotene schwule Prostitution verwickelt“ sei, hätten dänische Uniformierte ihn barsch gefragt. Und dann zitiert Steinke wörtlich, was ein dänischer Polizist in seinen Bericht geschrieben habe: „Von der Straße aus konnte man beobachten, dass der Deutsche sich ausgezogen hat, ohne sich einen Pyjama anzuziehen.“ Was soll man davon halten? Irmtrud Wojak, die als Erste auf die dänische Polizeiakte über Fritz Bauer gestoßen ist, erwähnt die „angeblichen homosexuellen Freundschaften“ in ihrer Biografie mit sieben Zeilen. Warum lässt es Ronen Steinke nicht auch dabei bewenden? Will er wirklich nur zeigen, „dass Bauer der Willkür der Behörden selbst in seinem Exilland – der Demokratie Dänemark – von Beginn an ausgeliefert“ war. Honi soit qui mal y pense.

„Hässliche Gerüchte“ und „dunkle Elemente“

Was hat es überhaupt auf sich mit der angeblichen Homosexualität von Fritz Bauer, über die Ronen Steinke sich in einer Weise auslässt, die jeden Spanner freuen wird. Hieb- und stichfeste Beweise hat er nicht. Auf Seite 102 räumt er ein, Äußerungen, auf die sich die Annahme stützen könnte, Bauer habe sich selbst als schwul gesehen, seien nicht bekannt.
Später ging er dann noch mehr auf Distanz. Er wisse nicht, wie man beweisen könne, dass Bauer ein homosexueller Mann gewesen sei, sagte er am 19. November 2013 bei der Vorstellung seines Buches in Berlin. Es gebe auch niemanden, der das in der Nachkriegszeit in irgendeiner Weise bestätigt habe. Das hinderte ihn aber nicht, sich in seinem Buch über Fritz Bauer wie folgt zu äußern:

„Nur an den Abenden mit seinen jungen, vom Leben noch unbeschwerten Freunden in seiner Wohnung findet Bauer Zerstreuung“. (Seite 221) Mit dem Sohn eines Hausbewohners habe Bauer sich angefreundet. „Es ist die erste von vielen Freundschaften zu Männern, die vom Alter her seine Söhne sein könnten. Was in Frankfurt bald zu hässlichen Gerüchten führt.“ (Seite 222) „Er ist den jungen Leuten zugewandt, er interessiert sich für ihre Weltsicht, oft bis tief in die Nacht hinein, und er zieht damit den Argwohn mancher Nachbarn auf sich, die zwischen den Gardinen misstrauisch auf das Kommen und Gehen beim Generalstaatsanwalt schauen. Ein pensionierter Polizeibeamter, der mit in Bauers Haus wohnt, spricht einmal vom ‚häufigen Besuch dunkler Elemente’ bei Bauer.“ (Seiten 224/ 225). Über ein Fernsehinterview Fritz Bauers in dessen Büro schreibt Steinke: „Fritz Bauer, weißes, flammendes Haar und Hornbrille, fläzt etwas verdreht im Sessel, was ein Hosenbein hochrutschen und eine helle Socke und etwas Männerbein aufblitzen lässt, und natürlich raucht er …“ (Seite 28).

Als am 16. Juli 2003 der 100. Geburtstag von Fritz Bauer gefeiert wurde, erwähnte keiner der Festredner die angebliche Homosexualität Fritz Bauers auch nur mit einem Wort. Erst nachdem Steinke in seinem Buch mit dem irreführenden Titel „Fritz Bauer – oder Auschwitz vor Gericht“ – nur 12 Prozent des Inhalts befassen sich mit dem Auschwitzprozess – das Thema Homosexualität zum Gegenstand einer öffentlichen Debatte gemacht hatte, wagten sich auch andere aus der Deckung. Wer das alles nicht gut findet, weil der Homosexualität immer noch die wünschenswerte gesellschaftliche Akzeptanz fehlt, und weil die sexuelle Orientierung eines Menschen dessen Privatsache ist, der muss sich sagen lassen, er mache sich die Denkweise der Nazis zu Eigen – ein Totschlagargument, das auf seine Urheber zurückschlägt und zu der Frage führt, ob der Behauptung über die Homosexualität Fritz Bauers am Ende gar antisemitische Motive zugrunde liegen. Immerhin wollen 61 Prozent der Deutschen laut einer Umfrage aus dem Jahr 2006 mit Homosexualität möglichst wenig zu tun haben.

Ablenkung von den politischen Ursachen

Was hat den Journalisten Steinke eigentlich dazu getrieben, sich in seiner Fritz-Bauer-Biografie über die angebliche Homosexualität des hessischen Generalstaatsanwalts zu verbreiten? Bestand ein dringendes öffentliches Interesse an der Offenlegung des Intimlebens von Fritz Bauer? Wie auch immer – kaum ein Rezensent kam ohne den Hinweis auf die vermeintliche Homosexualität Fritz Bauers aus. Nach dem Sinn und Zweck fragte niemand, nur ich schwamm wieder einmal gegen den Strom. In der Zweiwochenschrift „Ossietzky“ vom 24. Mai 2014 schrieb ich, Ronen Steinke lenke damit von den Verdiensten eines Mannes ab, dessen sexuelle Orientierung für die Bewertung seines Lebenswerkes völlig unerheblich sei. Ähnlich hatte sich vor mir bereits die ehemalige Bundesjustizministerin Prof. Dr. Herta Däubler-Gmelin geäußert. Energisch wandte sie sich dagegen, die Isoliertheit Fritz Bauers auf dessen vermeintliche Homosexualität zurückzuführen und damit von den politischen Gründen für seine üble Behandlung abzulenken.

In einem Beschwerdebrief an die „Ossietzky“- Redaktion meinte ein von mir geschätzter Jurist, er finde es schlimm, wenn jemand im 21. Jahrhundert Homosexualität für etwas halte, was die Einschätzung des Lebenswerkes von Fritz Bauer beschädigen könnte. Dazu kann ich nur sagen: „Grau, teurer Freund, ist alle Theorie, und Grün des Lebens goldner Baum.“ (Mephisto in Goethes „Faust“). Wenn – wie eine EU-Studie 2013 ergab – in Deutschland 68 Prozent der Schwulen und Lesben aus Angst vor Schikanen und Pöbeleien ihre sexuelle Ausrichtung verschweigen, dann kann es nicht weit her sein mit der Akzeptanz der Homosexualität. Das war wohl auch der Grund, weshalb das Fritz-Bauer-Institut den Eingriff in die persönliche Sphäre seines Namensgebers Ronen Steinke überließ.

Der unterstellte Fritz Bauer neben der angeblichen Homosexualität dann auch anderes. Er habe gegenüber den Deutschen, die er politisch habe überzeugen wollen, sein Judentum mit einer „betont christlichen Wortwahl“ übertüncht. In einem Essay, in dem es um die Frage ging, ob die Juden oder die Römer Jesus getötet haben, habe Bauer, „wie um seine Bemühungen um ein Image der Objektivität nicht zu gefährden“, seine eigene jüdische Erziehung an keiner Stelle zu erkennen gegeben, sondern ausschließlich aus christlichen Quellen geschöpft. (Seite 199/200).

Auf Seite 201 behauptet Steinke, zum Antisemitismus der Nachkriegszeit sei Bauer nie ein öffentliches Wort über die Lippen gegangen. (Seite 201). Zehn Seiten später – was kümmert mich mein Geschwätz von gestern – beschreibt er dann den „Sturm der Entrüstung“, den Fritz Bauer 1963 mit seiner Kritik am Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland hervorgerufen hat. Die dänische Zeitung „B.T“, die Boulevardausgabe des angesehenen Kopenhagener Blattes „Berlingske Tidende“, hatte Bauer mit den Worten zitiert, die Juden würden zwar nicht mehr als Schweine beschimpft, dafür heiße es jetzt: „Wir haben vergessen, dich zu vergasen.“

Versuch einer Nachrede ohne Beweis

Salopp wie gewohnt geht Steinke auch im Kapitel über die KZ-Haft Fritz Bauers mit den Fakten um. Seiner Familie habe Bauer erzählt, dass er die Entlassung seinen Freunden in der Justiz zu verdanken habe, schreibt Steinke, aber ohne seine Unterschrift unter einer Unterwerfungserklärung gegenüber den neuen Machthabern wäre das nicht gegangen.
Eine solche Erklärung inhaftierter Sozialdemokraten habe das Ulmer Tagblatt am 13. November 1933 veröffentlicht. An vorderster Stelle der Unterzeichner stünden die beiden Reichsbannerführer Karl Ruggaber und Fritz Bauer. Von dieser Demütigung habe Bauer nie etwas erzählt. Kurt Schumacher, seinerzeit Kopf der Stuttgarter SPD, habe eine solche Unterwerfungserklärung verweigert. Deshalb sei er in Haft geblieben, als Bauer entlassen worden sei.

Das klingt wenig schmeichelhaft. Aber wie war das wirklich mit der vermeintlichen Unterschrift Fritz Bauers? Die Behauptung, sein Name stehe neben dem von Ruggaber an vorderster Stelle, ist falsch. In den Anmerkungen am Schluss des Buches heißt es, bei näherer Betrachtung falle auf, dass in der Unterzeichnerliste nicht Fritz Bauer stehe, sondern ‚Fritz Hauer’, was im altdeutschen Schriftbild leicht zu verwechseln sei. Da ein Fritz Hauer nicht bekannt sei, spreche alles „für einen bloßen Druckfehler“. Wäre es wirklich so, wie Steinke behauptet, dann müsste den Schriftsetzern des Ulmer Tagblattes, und nur sie können den Druckfehler begangen haben, die Unterzeichnerliste bereits gedruckt in altdeutscher Schrift vorgelegen haben; das ist kaum vorstellbar. Der nahe liegenden Frage, ob die genannten Personen das „Treuebekenntnis einstiger Sozialdemokraten“ wirklich unterschrieben haben, oder ob das Ganze eine Propaganda-Aktion der Nazis war, mit der die Anhänger der SPD verunsichert werden sollten, dieser Frage geht Ronen Steinke nicht nach. Dabei macht schon die Überschrift des Artikels im gleichgeschalteten Ulmer Tagblatt stutzig: sie unterstellt nämlich, dass die als Unterzeichner Genannten sich von der SPD abgewandt haben. Davon konnte weder bei Fritz Bauer noch bei den anderen die Rede sein.

Wer Fritz Bauer dem Verdacht aussetzt, ein Treuebekenntnis gegenüber der Naziführung abgelegt zu haben, der kann es nicht gut mit ihm meinen. So darf man nicht umgehen mit jemandem, der sich nicht wehren kann, erst recht nicht, wenn man nicht den Funken eines Beweises in der Hand hat. Dass Ronen Steinkes Buch die Verdienste Fritz Bauers „in würdigem Andenken“ bewahrt, wie der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, voller Respekt vor Fritz Bauers Lebenswerk in seinem Vorwort meint, bestreite ich ganz entschieden. Es ist, von den Unterstellungen und falschen Tatsachenbehauptungen abgesehen, ein sehr einseitiges Buch. Es verschweigt Fritz Bauers Wirken als politischer Mensch und setzt den hessischen Generalstaatsanwalt dadurch in ein völlig falsches Licht.

Was die Biografie verschweigt – und was nicht

Mehr als siebzigmal bezieht Steinke sich auf die Fritz-Bauer-Biografie von Irmtrud Wojak, aber um deren Aussagen zu diesem Teil der Lebensgeschichte von Fritz Bauer macht er einen großen Bogen. Den mit dem Prädikat „Besonders wertvoll“ ausgezeichneten Film von Ilona Ziok, „Fritz Bauer – Tod auf Raten“, tut er mit zwei Sätzen ab, wahrscheinlich um sich nicht mit Fritz Bauers Kritik an den Zuständen im Deutschland der Nachkriegszeit auseinandersetzen zu müssen.

So erfahren die Leser kein Wort von dem, was Fritz Bauer 1960 über „Die Wurzeln faschistischen und nationalsozialistischen Handelns“ gesagt hat und was aus der konservativen Ecke der CDU daraufhin an Kritik auf ihn niedergeprasselt ist. Nichts erfahren sie von Fritz Bauers Streitgespräch mit Helmut Kohl, in dessen Verlauf der spätere Bundeskanzler dem hessischen Generalstaatsanwalt 1962 vorhielt, der zeitliche Abstand sei noch viel zu kurz, um ein abschließendes Urteil über den Nationalsozialismus fällen zu können. Nichts erfahren sie von Fritz Bauers Versuch, den Staatssekretär im Bundeskanzleramt, Hans Globke, durch ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren zu Aussagen über seine Rolle bei der Judenverfolgung zu bewegen, nichts erfahren sie von seinem Kampf gegen die Notstandsgesetze, nichts von seinem Vortrag über die Bedeutung des Auschwitzprozesses für die Nachwelt, der im Nachhinein klingt wie sein politisches Vermächtnis.

Ich war dabei, als Fritz Bauer am 5. Februar 1964 vor etwa 800 Studenten im Hörsaal VI der Frankfurter Universität sagte: „Nichts gehört der Vergangenheit an, alles ist noch Gegenwart und kann wieder Zukunft werden.“ Und ich war auch dabei, als er und Helmut Kohl im düsteren Saal des Bootshauses an der alten Nahebrücke in Bad Kreuznach die Klingen kreuzten. Mich empört das Niveau, von dem aus Ronen Steinke meint, den großen Humanisten Fritz Bauer als Juden darstellen zu können, der keiner sein wollte, als Schwulen, der keiner sein durfte, als Nazigegner, der den Nazis angeblich Treue geschworen hat, als einen Trickser und Täuscher also – und das alles im Einklang mit dem politischen Mainstream und einem Zeitgeist, der die Vergangenheit am liebsten Vergangenheit sein lassen möchte.

Trotz allem, das will ich am Schluss nicht verhehlen, verdanke ich Ronen Steinke einige Informationen, ohne deren Kenntnis mein Wissen über Leben und Werk Fritz Bauers lückenhaft geblieben wäre. Ich weiß jetzt, dass Deutschland vollständig unter dichten Wolken lag, als Fritz Bauer am 15. März 1936 – wie Steinke schreibt – den Zug in Richtung Dänemark nahm. Ich weiß, dass es in Kopenhagen regnete, als sich Fritz Bauer dort am 26. Februar 1963 mit einem jungen dänischen Journalisten über die Zustände in Deutschland unterhielt, und ich erfuhr, dass am 27. Februar 1964 in Frankfurt gehupt wurde, als der „junge Schriftsteller“ Horst Krüger, der damals 45 Jahre alt war, mit offenem Schiebedach zum Auschwitzprozess fuhr.
Von Kurt Nelhiebel (Träger des Kultur- und Friedenspreises der Villa Ichon in Bremen)

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