Offizielles Gedenken und politische Wirklichkeit

21. September 2015

50 Jahre nach dem Auschwitz-Prozess

Vortrag in der Villa Ichon in Bremen am 5. September 2015

Wer in diesen Tagen über das Thema „Offizielles Gedenken und politische Wirklichkeit 50 Jahre nach dem Auschwitz-Prozess“ sprechen will, kommt an den Ausbrüchen von Fremdenhass im Zusammenhang mit dem Zustrom von Asylbewerbern und Flüchtlingen nicht vorbei. Neu ist das alles nicht, nur die Dimensionen haben sich verändert. Von Januar bis August gab es nach offiziellen Angaben in Deutschland 337 derartige Übergriffe. Das heißt, so etwas passiert jeden Tag. Warum nur bei uns?

Das hässliche Bild wird etwas aufgehellt durch die Spendenbereitschaft vieler Deutscher, die den Ankömmlingen über die ersten Tage hinweghilft. Aber milde Gaben ändern nichts an den Problemen, die dem aktuellen Geschehen zugrunde liegen. Wenn die Bundesregierung etwas gegen die rechte Gewalt und gegen die Konflikte tun möchte, die Menschen zu uns treiben, dann sollte sie die vier Milliarden Euro, die sie für neue Panzer und ein neues Luftabwehrsystem ausgeben will, zur Bekämpfung der sozialen Ursachen rechter Gewalt und bestehender Konflikte verwenden. Waffen helfen da sowieso nichts. In Afghanistan haben 3.285 Soldaten aus westlichen Länden ihr Leben gelassen, darunter 40 Deutsche. An den Lebensverhältnissen hat das nichts geändert, sonst kämen nicht so viele Menschen aus Afghanistan zu uns.

Vor 35 Jahren hat der SPD-Vorsitzende Willy Brandt vor einem „explosiven Gemisch aus Rassenhass und Neidkomplexen“ gewarnt, das sich in Deutschland zusammenbraue. Aber im Bundestag redeten die meisten Abgeordneten jenen 82 Prozent der Deutschen nach dem Munde, die damals laut Umfragen der Meinung waren, in Deutschland gebe es zu viele Ausländer. Die Justiz tat das ihre dazu. 1984 hob der Bundesgerichtshof ein Urteil auf, mit dem ein 30Jähriger wegen Volksverhetzung zu 26 Monaten Haft verurteilt worden war.

Der Mann hatte „Ausländer raus“ und Hakenkreuze auf Häuserwände gesprüht. Das höchste deutsche Strafgericht argumentierte, ihrem Wortsinn nach sei die Parole zwar – so wörtlich – „als an Ausländer gerichtete Aufforderung zu verstehen, die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen“. Bei ihr fehlten aber – im Gegensatz zur Parole „Juden raus“ – „allgemein bekannte geschichtliche Erfahrungen, die sie ohne weiteres als Aufforderung zu Gewalt- oder Willkürmaßnehmen erscheinen lassen“. ( 3 StR-36/84)

Den Richtern hätte es nachträglich die Sprache verschlagen müssen, als das Gemisch aus Rassenhass und Neidkomplexen, von dem Willy Brandt gesprochen hatte, explodierte. Von Hoyerswerda über Rostock-Lichtenhagen, Mölln und Solingen bis hin zur Jagd auf Ausländer in Magdeburg hinterließen Neonazis eine blutige Spur quer durch das inzwischen vereinte Deutschland. Ungehindert konnte eine Gruppe, die sich „Nationalsozialistischer Untergrund“ nannte, zehn Jahre lang gezielt Ausländer ermorden, weil Polizei und Verfassungsschutz auf dem rechten Auge blind waren

Eine couragierte CDU-Politikerin, die Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth, schrieb 1993: „Der Rechtsradikalismus und die Gewalttaten haben ein gesellschaftliches Umfeld. Begreifen wir vor allem, dass Demokratie nicht erst dann gefährdet ist, wenn Brandsätze fliegen. Es ist vielmehr das Klima der Duldung, des Zulassens, der Gleichgültigkeit und Passivität, in dem die Gewalt wuchert und Nahrung findet.“ Die Sätze stehen im Manuskript ihrer Rede zum 55. Jahrestag des Pogroms vom 9. November. Auf der Veranstaltung hat Frau Süßmut sie dann ausgelassen.

Medienpolitischer Skandal

„Ein guter Mensch sein? Ja, wer wär’s nicht gern? Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so“, lässt Bertold Brecht in der Dreigroschenoper den Bettlerkönig Peachum singen. Die Bundestagspräsidentin wird ihre Gründe gehabt haben, nicht laut zu sagen, was sie dachte. So ist das manchmal. Auch ich behalte heute etwas für mich, weil ich darum gebeten wurde. Es ging um Fritz Bauer, den legendären Generalstaatsanwalt, der Auschwitz vor Gericht brachte. Aber ich habe dazu noch eine andere Geschichte:

Sie erinnern sich vielleicht, dass vor fünf Jahren der Dokumentarfilm „Fritz Bauer – Tod auf Raten“ in die Kinos kam, der Fritz Bauer dem Vergessen entriss. Der mehrfach ausgezeichnete Film findet immer noch sein Publikum, nicht nur bei uns, sondern auch in vielen anderen Ländern. Aber die ARD weigert sich, ihn im Ersten Deutschen Fernsehen zu zeigen.

Im geschichtlichen Arbeitskreis der ARD seien „gravierende Einwände“ laut geworden, die insbesondere die These vom Mord an Fritz Bauer beträfen, argumentierte ihr stellvertretender Programmdirektor gegenüber der international renommierten Regisseurin Ilona Ziok, obwohl in dem Film an keiner Stelle behauptet wird, der hessische Generalstaatsanwalt sei ermordet worden. Zeitzeugen erinnern lediglich daran, dass Fritz Bauer auf bis heute ungeklärte Weise zu Tode kam.

Das Verhalten der ARD ist ein medienpolitischer Skandal. Wenn das russische oder das chinesische Fernsehen so etwas machten, wäre das Geschrei groß. Der mit öffentlichen Mitteln geförderte und mit dem Prädikat „Besonders wertvoll“ ausgezeichnete Dokumentarfilm über den Initiator des Auschwitz-Prozesses lief bereits auf Phoenix, dem gemeinsamen Dokumentationskanal der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten. Auf 3sat wurde er als „gut recherchierte Würdigung des Aufklärers“ Fritz Bauer angekündigt und erreichte auch dort beachtliche Einschaltquoten. Einwände gab es weder vorher noch nachher.

Da drängen sich Fragen auf. Welche Kriterien haben die Mitglieder des geschichtlichen Arbeitskreises der ARD ihrer Entscheidung zugrunde gelegt? Gab es ein Petitum des Fritz-Bauer-Instituts in Frankfurt, das den Film als einzige Einrichtung in Deutschland boykottiert, weil er – wie der Regisseurin vorgehalten wurde – die Gegner Fritz Bauers nicht zu Wort kommen lässt? Welche Gegner? Die aus der Nazizeit?

Ein Direktor nimmt seinen Hut

Vor einem halben Jahr habe ich im Berliner „Tagesspiegel“ den Umgang des Fritz-Bauer-Instituts mit seinem Namensgeber kritisiert. Die Zeitung veröffentlichte meinen Artikel in großer Aufmachung und wertete ihn als Ausdruck eines Deutungskampfes um das Werk Fritz Bauers. Der Direktor des Instituts hat mich deswegen heftig angegriffen. Zu meiner Überraschung und wohl auch der der anderen Seite stellte sich der hessische Minister für Wissenschaft und Kunst, Boris Rhein, auf meine Seite.

Der CDU-Politiker ist stellvertretender Vorsitzender des Stiftungsrates des Fritz- Bauer-Instituts. Er kündigte an, dass er meine Kritik in diesem Gremium zur Sprache bringen und den wissenschaftlichen Beirat in die Diskussion einbeziehen werde. Bevor es dazu kam nahm der Direktor seinen Hut, um sich, wie er sagte, an anderer Stelle wissenschaftlich zu betätigen.

Zwei Verfassungsorgane, Bundespräsident Joachim Gauck, und der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Vosskuhle, haben dazu aufgerufen, die Verdienste Fritz Bauers in würdigem Andenken zu bewahren. Als Vorbild haben sie ihn nicht empfohlen. Manchen liegt der unbequeme Mahner immer noch quer im Magen, weil er sich weniger als Anwalt des Staates, sondern eher als Anwalt der Bürger verstand. Er ermunterte die Menschen zum Widerspruch, zur Verteidigung ihrer staatsbürgerlichen Rechte. Er wollte, dass die Wurzeln des Bösen bloßgelegt werden, das zu Auschwitz geführt hat.

Im Mai hat Bundespräsident Gauck anlässlich des 50. Jahrestages der Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Israel versprochen: „Wir werden nicht zulassen, dass das Wissen um die besondere historische Verantwortung Deutschlands verblasst.“ Viel ist dabei nicht herausgekommen. Im selben Monat ergab eine Bertelsmann-Studie, dass 81 Prozent der Deutschen die Geschichte der Judenverfolgung „hinter sich lassen“ möchten. (SZ 12. 5. 2015, S. 6).

Offensichtlich reicht es nicht, an Gedenktagen die Opfer zu bedauern. Am 70. Jahrestag der Kapitulation Nazideutschlands beklagte der deutsch-französische Historiker Alfred Grosser, dass der deutsche Widerstand übergangen werde. (Weser-Kurier, 8. 5. 2015). Seine Angehörigen waren, wie Willy Brand kurz vor seinem Tod sagte, mit ihren moralischen Grundentscheidungen vielen anderen voraus.

Der deutsche Widerstand – Fundament des Neubeginns

Der britische Premierminister Winston Churchill bezeichnete die deutschen Gegner Hitlers als das Edelste, was in der Geschichte der Völker je hervorgebracht worden sei. „Diese Männer und Frauen kämpften ohne Hilfe von innen und außen, einzig angetrieben von der Unruhe ihres Gewissens“, sagte Churchill. „Ihre Taten sind das unzerstörbare Fundament eines neuen Aufbaus.“ Vielleicht sollten in allen deutschen Schulen, dem französischen Beispiel folgend, einmal im Jahr zu einem festen Zeitpunkt Bekenntnisse deutscher Widerstandskämpfer verlesen werden, um etwas von dem Geist zu vermittelten, der die Gegner der Nazityrannei beseelte.

Bei der Vorbereitung auf diesen Vortrag habe ich die Bremer Bildungs-Senatorin gefragt, auf welche Weise Auschwitz an den Schulen des Landes Bremen behandelt wird. Frau Dr. Bogedan ließ mich wissen, dass Auschwitz im Kontext der Erinnerungskultur für die Schulen ein wichtiges Thema sei. Bei der Vermittlung des Holocaust müsse aber berücksichtigt werden, dass der Unterricht in Klassen gestaltet werde, deren Schülerinnen und Schüler biografische Wurzeln in zahlreichen anderen Kulturräumen hätten. Das ist natürlich eine Herausforderung. Aber die Lehren der Vergangenheit dürfen deswegen nicht zu kurz kommen.

Was lernen die Bremer Schüler zum Beispiel über Martha Heuer, jene bescheidene Frau aus einem Bremer Arbeiterviertel, die während der Nazizeit mit ihrer Mutter unter Lebensgefahr Menschen jüdischen Glaubens versteckte und vor dem Tode bewahrte? Die Israelis haben sie als Gerechte unter den Völkern geehrt. Ich hoffe, es noch zu erleben, dass eine Straße oder ein Platz nach Martha Heuer benannt wird.

Eine der Erfahrungen des deutschen Widerstandes besagt, dass die Ausgrenzung und Diffamierung von Minderheiten nicht geduldet werden darf; denn damit begann das, was mit Auschwitz endete. Wer sich ein Bild vom Ausmaß des Verbrechens machen will, das in Auschwitz begangen worden ist, der möge sich daran erinnern, dass bei der Tsunami-Katastrophe in Ostasien mehr als Zweihunderttausend Menschen dem blinden Wüten der Naturgewalt zum Opfer gefallen sind. Das Entsetzen darüber war groß. In Auschwitz wurden fünfmal soviel Menschen ermordet. Sie starben von Menschenhand.

Einige Beteiligte an dem beispiellosen Verbrechen mussten sich 1963 in Frankfurt am Main vor Gericht verantworten. Die Verkündung des Urteils in dem Jahrhundertverfahren jährte sich am 19. August zum 50. Male. Ich habe den Prozess als Journalist miterlebt. Wer weiß, was in Auschwitz geschah, ist für immer gefeit gegen alles, was auch nur im Entferntesten mit Nazi-Ungeist zu tun hat. Ohne Erinnerung an das Böse, so Bundespräsident Roman Herzog 1996, gibt es weder die Überwindung des Bösen, noch Lehren für die Zukunft.

Wenn von den Gräueltaten der Nazis die Rede ist, antworten manche, andere hätten sich auch die Hände schmutzig gemacht. Das mag sein. Aber niemals und nirgendwo sonst wurden Menschen so systematisch und in so großer Zahl getötet, wie in den deutschen Vernichtungslagern, nirgendwo sonst wurden den Ermordeten die Goldzähne ausgerissen und zur Devisenbeschaffung eingeschmolzen, nirgendwo sonst wurden die Haare der Opfer zur Filzherstellung verwendet.

Gründlich – auch beim Morden

Die Täter mordeten nicht unter Zwang, sie befanden sich nicht in einem Befehlsnotstand, sondern stimmten in ihrem persönlichen Hass auf Juden und Kommunisten völlig mit der Naziführung überein. Dieses freiwillige Mittun ist das eigentlich Unfassbare. Abgesehen davon – Menschen lassen sich manipulieren. Hier schlummert eine Gefahr für die Zukunft.

Ich war als Journalist dabei, als die Überlebenden der Todesfabrik in den Zeugenstand traten und in Gegenwart ihrer Peiniger zu Protokoll gaben, was in Auschwitz geschah. Auf der Anklagebank sah ich Männer mit Durchschnittsgesichtern. Kaufleute waren darunter, Handwerker, Apotheker und Zahnärzte, Menschen wie du und ich. Aber sie verkörperten ein Grauen, das mich bis in den Schlaf hinein verfolgte. Als die Verhandlung begann, war ich Mitte dreißig. Über Auschwitz hatte ich Einiges gelesen. Dennoch erlebte ich den Prozess wie einen Alptraum. Quälend war jedes Mal auch die Rückkehr in den Alltag.

Musste das Leben nicht stillstehen angesichts des Grauens, das eben noch im Gerichtssaal auf mich eingestürmt war? Aber draußen nahm alles seinen gewohnten Gang. Geschäftig wie immer eilten die Menschen hin und her und ihre unbeteiligten Gesichter wirkten auf mich wie Masken aus einer anderen Welt. In den Prozessberichten erfüllte ich meine Chronistenpflicht nach bestem Wissen und Gewissen. Ein neutraler Beobachter war ich nicht. Wenn mir jemand wegen meiner Parteinahme für die Opfer mangelnde Objektivität vorwirft, dann ehrt mich das.

Sechsmal lebenslanges Zuchthaus, elfmal begrenzte Freiheitsstrafen zwischen 3 und 14 Jahren und dreimal Freispruch – das ist in dürren Worten die Bilanz dieses Prozesses. Bis auf zwei Ausnahmen verloren die Angeklagten kein menschliches Wort des Bedauerns für die Opfer. Die meisten zeigten nur Mitleid mit sich selbst. Selbst wenn alle Angeklagten die höchste Strafe bekommen hätten, bliebe Auschwitz ungesühnt.

Es gibt keine Strafe, die dem Unfasslichen gerecht werden könnte. Die nachfolgenden Generationen können nur eines tun: durch ihr klares Nein gegenüber allen Versuchen, das Geschehene zu bagatellisieren oder zu relativieren, den Opfern ihren Respekt zu erweisen. Damit schützen sie sich selbst vor einem wie auch immer gearteten Rückfall in die Unmenschlichkeit.

Der Sündenbock-Mechanismus

Seit der Verkündung des Urteils sind fünfzig Jahre vergangen. Wie verhielt es sich in dieser Zeit mit dem Interesse an Auschwitz? Als mir vor Jahren die Idee kam, meine Prozessberichte der Jugend von heute zugänglich zu machen, ahnte ich nichts von den Schwierigkeiten, mit denen ich zu tun bekommen sollte. Sechs Jahre dauerte meine Suche nach einem Verlag. Dabei machte ich die Erfahrung, dass alle gern von der Notwendigkeit des Erinnerns reden, aber ungern in diese Notwendigkeit investieren.

Zu den Wenigen, die öffentlich immer wieder vor einem Rückfall in frühere Denkweisen gewarnt haben, gehörte Fritz Bauer. Eindringlich beschrieb er, wie es dazu kommen konnte, dass die erste deutsche Republik gewalttätigen Rechtsextremisten in die Hände fiel.

„Statt einer ‘Bewältigung der Vergangenheit’, die auch damals notwendig war und die einen harten Willen zur Wahrheit erforderte, zog man den Betrug und Selbstbetrug eines angeblichen Dolchstoßes vor und suchte krampfhaft nach Sündenböcken. Man fand sie bald in ‘Marxisten’, bald in Juden. Jeder Sündenbock-Mechanismus erwächst aus Charakterschwäche; er ist ein infantiler Zug und alles andere als eine männliche Reaktion.“

„ Je schwächer die Leute sind und je mehr sie von Minderwertigkeits-Komplexen geplagt werden, desto mehr rufen sie nach Härte und desto gewalttätiger und brutaler treten sie auf, um ihr
eigenes Ungenügen und das Fiasko ihres Daseins zu verbergen. Die Kraftmeierei des Nazismus, sein Geschrei, seine Demonstrationen, seine Verbrechen, waren die Maske von neidischen Schwächlingen.”

Dieser Sündenbock-Mechanismus hat die Nazizeit überlebt. Als Ende der siebziger Jahre wider einmal Hakenkreuz-Schmierereien für peinliches Aufsehen sorgten, machte der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß, dessen 100. Geburtstag morgen pompös gefeiert werden wird, kommunistische Geheimdienste verantwortlich. Das rechtslastige „Deutschland-Magazin” behauptete, der „angebliche Neonazismus sei in Wahrheit eine Waffe Moskaus”.

Rechts wo die Mitte ist

Inzwischen gibt es keine kommunistischen Geheimdienste mehr, aber noch immer werden Hakenkreuze auf Grabsteine geschmiert und jüdische Einrichtungen angegriffen. Während seiner Amtzeit als Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland verlangte Paul Spiegel, beim Kampf gegen die Neonazis nicht bestimmte Entwicklungen in der Mitte der Gesellschaft aus dem Blickfeld zu verlieren; dort gebe es immer noch hartnäckige Vorurteile gegenüber Menschen anderer Hautfarbe, anderer Herkunft und anderer Religion.

Wie es in der Mitte der Gesellschaft zur Zeit des Auschwitz-Prozesses aussah, verdeutlichte ein Vorfall kurz nach Prozessbeginn. Ein ehemaliger Spitzenmanager des IG-Farben-Konzerns, der wegen des Einsatzes von Auschwitzhäftlingen zu Sklavenarbeit, zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt worden war, wurde mit dem Großen Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet, weil er sich angeblich um den Wiederaufbau verdient gemacht hatte. Als einzige deutsche Zeitung prangerte die antifaschistische Wochenzeitung „Die Tat“ den Skandal an. Erst als eine jüdische Zeitung aus der Schweiz bei der Ordenskanzlei in Bonn anrief, musste der Geehrte das Verdienstkreuz zurückgeben.

Zyniker sagen, die Wiederbeschäftigung alter Nazis habe der Demokratie nicht geschadet. Alle hätten sich doch vom Ungeist des Nazismus distanziert. In der Tat hat es an solchen Beteuerungen nicht gefehlt. Immer hieß es, die Bekämpfung des Rechtsextremismus gehöre, wie die Bekämpfung des Linksextremismus, zu den Lehren der Vergangenheit.

In Wirklichkeit hatte man hauptsächlich die Linken im Visier, darunter die aktivsten Gegnern Hitlers, deren Widerstand gegen die Wiederbewaffnung und die Notstandsgesetze als Widerstand gegen den Rechtsstaat gedeutet und deren Verdienste im Kampf gegen den nazistischen Unrechtsstaat ignoriert wurden.
Die „unbußfertige Verschwörung des allgemeinen Nichtwissens”, die Fritz Bauer bei den Angeklagten im Auschwitz-Prozess beobachte hatte, beschränkte sich nach seiner tiefen Überzeugung nicht auf den Kreis der unmittelbar an den NS-Verbrechen Beteiligten; er hielt sie für ein verbreitetes Phänomen.

Für eine Radio-Bremen-Sendung habe ich den Stuttgarter Oberlandesgerichtspräsidenten Richard Schmid 1966 gefragt, wie er die Stimmung im Lande beurteilt. Er sagte, das deutsche Volk zeige noch immer die alte Mischung von Intoleranz und Autoritätsglauben und neige zu irrationalen nationalistischen Anwandlungen. Auch sonst gebe es Anzeichen, dass das deutsche Bürgertum das alte Gift noch nicht ausgeschieden habe. Das waren prophetische Worte.

„Raus dem Schatten Hitlers!“

1983 appellierte der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU im Deutschen Bundestag, Alfred Dregger, an die Deutschen, aus dem Schatten Hitlers herauszutreten und normal zu werden. Für den Generalinspekteur der Bundeswehr, Heinz Trettner, war der Überfall auf die Sowjetunion, „anders als die Umerziehungspropaganda“ behaupte, „in erster Linie ein nur schweren Herzens begonnener, aufgezwungener Präventionskrieg“. (Zitiert nach Walter Kolbow, Rede im Deutschen Bundestag am 13.März1997, S.14724)

Der Historiker Ernst Nolte löste 1986 mit seiner Frage, ob der „Archipel Gulag”, also das Verbannungssystem unter Stalin, nicht „ursprünglicher als Auschwitz” gewesen sei, den Historikerstreit aus. Der grüne Außenminister Joschka Fischer rechtfertige die deutsche Teilnahme am völkerrechtswidrigen Luftkrieg gegen Jugoslawien mit dem Satz, er habe nicht nur „Nie wieder Krieg” gelernt, sondern auch „Nie wieder Auschwitz”, so als hätten auf dem Balkan Gaskammern und Verbrennungsöfen verhindert werden müssen.

Bahnchef Hartmut Mehdorn ließ 2002 mit Rückendeckung des Bundesverkehrsministers Manfred Stolpe (SPD) die Namen der Widerstandskämpfer Sophie Scholl und Graf Stauffenberg von den ICE-Zügen entfernen, weil sie angeblich zu lang waren. Entfernt wurden auch die Namen der Pazifisten Carl von Ossietzky und Ludwig Quidde. Ersetzt wurden sie durch Städtenamen, die beim geplanten Gang der Bahn an die Börse weniger störten. („Ossietzky“, Heft 2, 2009). Niemand nahm Anstoß. Auch der Verein „Gegen Vergessen, für Demokratie“ unter Vorsitz von Joachim Gauck schwieg. Acht Jahre danach ließ Gauck sich in München mit dem Geschwister-Scholl-Preis auszeichnen, umrauscht vom Beifall prominenter Gäste.

Auschwitz – ein Phänomen moderner Zivilisation?

Auf Einladung der Robert-Bosch-Stiftung referierte Joachim Gauck am 26. März 2006 in Stuttgart über das Thema „Welche Erinnerungen braucht Europa“. Zum Massenmord der Nazis an den Juden sagte er, der Holocaust sei inmitten einer hoch entwickelten Zivilisation und im Umfeld außergewöhnlicher kultureller Leistungen konzipiert und durchgeführt worden. Deshalb müsse er als Problem dieser Zivilisation und Kultur betrachtet werden.

Der Gulag, Auschwitz und Hiroshima, also der Atombombenabwurf der Amerikaner, gehören – in dieser Reihenfolge – für Gauck als Symbole des Inhumanen zusammen. (www.bosch-stiftung.de/content/language1/downloads/Stiftungsvortrag_Gauck_fuer_internet.pdf) Das wird die Unbelehrbaren freuen. Deren Fazit lautet seit jeher: Die Russen haben es vorgemacht, die Amerikaner haben es nachgemacht. Also lasst uns mit Auschwitz endlich in Ruhe.

Mit seiner Stuttgarter Rede verabschiedete sich Gauck von der Aussage Richard von Weizsäckers, der Völkermord an den Juden sei „beispiellos in der Geschichte“. Er schob beiseite, was der Rechtswissenschaftler Bernhard Schlink zu bedenken gab, für den Holocaust und Drittes Reich, anders als etwa die Untaten Stalins, „Perversionen bürgerlicher Kultur“ sind. Wenn damals das Eis, auf dem man sich kulturell und zivilisatorisch sicher wähnte, in Wahrheit so dünn gewesen sei, wie sicher sei dann das Eis, auf dem wir heute leben, fragt Schlink in seinem Buch „Vergangenheitsschuld und gegenwärtiges Recht“. (Ffm. 2002, S. 148-154) „Ist das Eis mit dem Ablauf der Zeit dicker geworden, oder hat uns der Ablauf der Zeit nur vergessen lassen, wie dünn es ist?“

Schlussstrich-Mentaltität

In Frankreich hat der rechtsgerichtete Front National seinen Parteigründer Le Pen dieser Tage ausgeschlossen, weil er die Gaskammern der Nazis als Detail der Geschichte des Zweiten Weltkrieges bezeichnet hat. Joachim Gauck wurde 2010, also nach seinen schillernden Äußerungen zum Holocaust, von SPD und Grünen als Kandidat bei der Bundespräsidentenwahl aufgestellt und 2012 zum Staatsoberhaupt gewählt – in eben jenem Plenarsaal des Bundestages in dem der Historiker Heinrich August Winkler die Deutschen am 8. Mai 2015, ganz im Sinne Alfred Dreggers, unter Beifall dazu aufrief, sich „durch die Betrachtung der Geschichte nicht lähmen zu lassen“.

Alles nur Einzelmeinungen? Alles nur Einzelfälle? Ja, alles nur Einzelfälle, aber sie ergeben wie Mosaiksteinchen ein Gesamtbild, das nachdenklich stimmt. Anscheinend hat Bundespräsident Roman Herzog 1998 umsonst daran erinnert, „dass wir nicht in den alten Überlegenheitswahn zurückfallen wollen“. Sein Nachnachfolger Gauck hält es, ebenso wie Bundesregierung, für richtig im Kampf für die Menschenrechte auch zu den Waffen zu greifen, er, der als Pfarrer auf der Seite jener Bürgerrechtler stand, die in der DDR unter dem Motto „Schwerter zu Pflugscharen“ für eine friedliche Welt kämpften.

In einem Kommentar zu Gaucks Plädoyer für den Einsatz von Waffen fragte die „Süddeutsche Zeitung“ vom 16. Juni 2014, warum die früher geübte Zurückhaltung jetzt abgelegt werde. „Weil das Trauma von Schuld und ‚Nie wieder Krieg’ ins Geschichtsbuch gehört? Gauck sagt es nicht, aber es klingt bei jedem seiner Worte mit: dass irgendwann mal Schluss ist. Das ist der eigentliche Sprengstoff seiner Botschaft. Er sollte ihn schleunigst unschädlich machen.“

Nichts gehört der Vergangenheit an

Bis heute hat er das nicht für notwendig gehalten. Vielleicht sollte Bundeskanzlerin Merkel ihn daran erinnern, dass sie mit ihrem Satz von der „immerwährenden Verantwortung“ für das von Deutschland begangene Menschheitsverbrechen bei den Hinterbliebenen der Ermordeten im Wort steht. Sie haben am schwersten daran zu tragen, dass die Vergangenheit peu à peu entsorgt und der Welt gegenüber gleichwohl der irrige Eindruck erweckt wird, es gebe nach dem deutschen Wirtschaftswunder jetzt auch noch ein deutsches Vergangenheitsbewältigungswunder.

In Wirklichkeit gilt immer noch, was Fritz Bauer unter dem Eindruck einer verbreiteten Indolenz gegenüber der Nazivergangenheit dem deutschen Volk bewusst zu machen versuchte: „Nichts gehört der Vergangenheit an. Alles ist noch Gegenwart und kann wieder Zukunft werden. Nichts ist, wie man zu sagen pflegt, bewältigt, mag auch die Öffentlichkeit sich gerne in dem Glauben wiegen, dass ihr zu tun fast nichts mehr übrig bleibe.”

Internationaler Solitätsbasar

14. September 2015

Fr. 27.11. ab 19.30 Uhr, Zionsgemeinde Internationaler Solidaritätsbasar, es spricht Karin Leukefeld.

Veranstaltungsreihe „Bremen vor 70 Jahren im Spiegel der Akten und Zeitzeugen“ von Prof. Dr. Jörg Wollenberg

14. September 2015

In Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreis Geschichte der IG Metall Bremen (Detlef Dahlke) und VVN/BdA. Bremen

Donnerstag, 15.10.15 um 17 Uhr in Gröpelingen, Nachbarschaftshaus Ohlenhof, „Bremen vor 70 Jahren: Niederlage oder Befreiung“.
In Kooperation mit der AWO „Universität der 3. Generation“ Anmeldung unter (0421) 790297

War der 8. Mai 1945 „trotz allem eine große Stunde, die Rückkehr Deutschlands zur Menschlichkeit“? So Thomas Mann nach der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 10 Mai 1945 im Britischen Hörfunk. „Jetzt kommt unsere Stunde“. So der Aufruf vom Bremer Arbeiter Heinz Kundel schon im Januar 1945, ebenfalls ausgestrahlt von der BBC. Zwei deutsche Reden im O-Ton als Aufhänger des Vortrags. Eine Nachbetrachtung zum 70. Jahrestag des Kriegsendes, der aus der Sicht der Deutschen eher der Tag der Niederlage, nicht der Befreiung war. Viele Deutsche hatten noch 1945 auf einen Sonderfrieden mit dem Westen gehofft, um weiter mit den Westalliierten gegen die sowjetische Armee zu kämpfen. Die letzte NS-Reichsregierung unter Admiral Dönitz hatte sich in der „Nordfestung“ von Holstein bis Dänemark zurückgezogen und existierte noch bis Ende Mai 1945. Trotzdem riefen Bremer Gegner des NS-Systems schon am 6. Mai 1945 zum Neuaufbau auf. Ihr Organ, der „Aufbau“, schrieb das erste Kapitel der Demokratie in Bremen. Aber schon im Januar 1946 löste sich die „Kampfgemeinschaft gegen den Faschismus auf“ und verpflichtete ihre Mitglieder, in den entstehenden Parteien und Gewerkschaften weiter für die Bildung einer sozialistischen Einheitspartei und für das Arbeiterhilfswerk zu kämpfen.

Dienstag, 10.11.15 um 17 Uhr in Gröpelingen, Nachbarschaftshaus Ohlenhof, „Der 9. November und seine Hinterlassenschaften in der deutschen Geschichte“.
Im Bewusstsein der Deutschen ist die Erinnerung an den Judenpogrom vom 9. November 1938 seit Jahren fest verankert. In Zeiten, in denen der Judenhass wieder aus dem Fremdenhass hervortritt, soll an seine Vorgeschichte erinnert werden, u.a. an den 9. November 1918, die Ausrufung der deutschen Republik, die von den rechten Gegnern sofort als „Judenrepublik“ denunziert wurde. Es ist deshalb kein Zufall, dass Hitler am 9. November 1923 in München gegen die Republik putschte und zum gleichen Zeitpunkt die legal gewählten Arbeiterregierungen in Sachsen und Thüringen von Reichstruppen aus dem Amt gejagt wurden. Der 9. November ist gerade auch wegen der 9. November 1989 ein Tag, der Anlass gibt zum Nachdenken über die deutsche Geschichte.

Mittwoch, 02.12.15, um 17 Uhr in Gröpelingen, Nachbarschaftshaus Ohlenhof, „Das ist nicht das Deutschland, für das wir gekämpft haben“. Ein Resumee aus der Sicht von Käthe Popall.
Nach 10 Jahren Zuchthaus, KZ und Zwangsarbeit kehrte Käthe Lübeck im Juni 1945 nach Bremen zurück. Die KPD entsandte Käthe Popall 1946 in die erste, von der amerikanischen Besatzungsmacht ernannte Bürgerschaft, die sie zur Vizepräsidentin des Parlaments wählte. Mit den Lübecker Zellengenossinnen, den prominenten Bremer Sozialdemokratinnen Anna Stiegler und Dora Lange, leitete sie den Bremer Frauenausschuss und gründete die Frauengilde der Konsumgenossenschaft. Käthe Popall trat 1946 als erste Frau in den seit Jahrhunderten ausnahmslos von Männern besetzten Senat der Hansestadt Bremen ein. Am 15. Februar 1907 in Bremen geboren, verstarb sie am 23. Mai 1984 im Alter von 77 Jahren nach einer schweren Krankheit.Der Sieg des Faschismus und die Niederlage der deutschen Arbeiterbewegung hatten Käthe Popall tief getroffen. Die Unfähigkeit, diese Niederlage nach dem 2. Weltkrieg überzeugend aufzuarbeiten, hatte sie noch mehr verbittert. Besonders enttäuscht war sie darüber, dass die sozialistischen Neuordnungsvorstellungen der Linken im Restaurationsprozess der BRD untergingen. „Nein, dies ist nicht das Deutschland, für das wir gekämpft haben“, antwortete Käthe Popall Anfang der 1980er Jahre einer Jüdin, die 1935 nach Palästina emigriert war und zu Besuch nach Deutschland kam. Diese meinte: „Jetzt haben Sie ja das Deutschland, für das wir gekämpft haben“. Dennoch nahm Käthe Popall keinen „Abschied vom Proletariat“. Bei aller Hoffnungslosigkeit, bei allem Pessimismus: Ihre lebensbestimmende politische Grundhaltung war und blieb die bewusst gewollte Identifikation mit der Idee und den Zielen der Arbeiterbewegung. Für diese Arbeiterbewegung hat Käthe Popall zeitlebens mit Wort und Tat gearbeitet und gekämpft, auch unter Einsatz des Lebens im Widerstand gegen das NS-System und nach 1945 für ein demokratisches Deutschland.

Kolbe

10. September 2015

Ein kleiner Beamter des Auswärtigen Amtes in Berlin wird mitten im Zweiten Weltkrieg zum stillen Helden. Fritz Kolbe war kein Nazi. Beharrlich widersteht er bis zum Schluss allen Aufforderungen seiner Vorgesetzten, der Nazipartei beizutreten. Vor dem Krieg ist er im deutschen Konsulat in Kapstadt tätig. Sein Vorgesetzter, der erzkonservative Konsul Biermann, besteht darauf, Fritz Kolbe zu Kriegsbeginn mit zurück nach Berlin zu nehmen. Carlsroupe, dem Sekretär des britischen Gesandten und Freund, drückt Kolbe zum Abschied einen handgeschriebenen Zettel mit den Codes der Funkstellung und Namen zurückbleibender deutscher Agenten in die Hand. Schweren Herzens lässt er seine Tochter Katrin in Obhut seiner Freunde Hiltrud und Werner Lichtwang in Südwest zurück. Die Überfahrt mit einem niederländischen Dampfer wird zu einer bedrohlichen Höllenfahrt.
Seine Freunde Walter und Käthe Braunwein holen ihn ab und bringen ihn nach Berlin. Eine zentral gelegene Wohnung haben sie ihm auch besorgt. Fritz Kolbe gelangt ins Vorzimmer von Ernst von Günther, Botschafter zur besonderen Verwendung in der Wilhelmstraße. Über seinen Schreibtisch laufen tausende streng geheimer Akten, Bau der V2-Anlage, Entwicklung der Messerschmidt 206, Deportation Römischer Juden, Wannseekonferenz, Verhungern-Lassen sowjetischer Kriegsgefangener, Stimmungsberichte von der Front. Fritz Kolbe soll für die ordnungsgemäße Vernichtung der Akten im Keller des Auswärtigen Amtes sorgen. August 1943 soll er eine Kurierfahrt nach Bern zur deutschen Botschaft antreten. Am rechten Bein befestigt, schmuggelt er brisante, zur Vernichtung bestimmte Akten. Die Zeit ist knapp bemessen. Er muss zurück nach Berlin. Sein Freund Eugen Sacher stellt den Kontakt zu Allen Dulles und William Priest vom amerikanischen Geheimdienst OSS (Office of Strategic Services) her. Nach einem intensiven Verhör werden die mitgeführten Geheimdokumente geprüft. Es geht um Nazi-Agenten in Ankara, Pläne zur Deportation römischer Juden, Wolframlieferungen aus Spanien.
Kolbe begleitet seinen Vorgesetzten Ernst von Günther zu Hitlers Hauptquartier, der Wolfsschanze. Aus dem Gedächtnis zeichnet er Details auf einen Lageplan ein. Originalakten kann er nicht mehr herausschmuggeln, da die Abgabe am Verbrennungsofen dokumentiert wird. Hunderte von Seiten abschreiben, wie soll er das schaffen? Er riskiert es in einer Bunkernacht, Marlene Wiese aus der Charité zur Hilfe zu bitten, mit der er ein geheimes Verhältnis hat. Ein weiteres Mal muss Kolbe nach Bern. An Botschafter von Lützow vorbei soll er geheime Unterlagen an dessen Sekretär Weygand geben. Erneut kann er Allen Dulles sprechen und ihm seinen selbstgefertigten Lageplan von Hitlers Hauptquartier übergeben, außerdem Pläne der Leunawerke, Eichmanns Judenvernichtungsplanungen, einen Geheimsender in Dublin, die Einschätzung amerikanischer Flottenverbände im Pazifik. Als Gegenleistung verlangt er das Herausschmuggeln von Marlene und den Schutz seiner Tochter Katrin. Die Amerikaner sind skeptisch. Sie verlangen Informationen über General Gehlen, über den deutschen militärischen Geheimdienst im Osten und über japanische Verbände im Pazifik. Kolbe gerät in Gefahr, Spielfigur zwischen amerikanischem, britischem und sowjetischem Geheimdienst zu werden. Der Tod seines Freundes Walter Braunwein in Dublin trifft ihn hart. Er fühlt sich daran schuldig und versinkt in Resignation.
Eugen Sacher sucht ihn in Berlin auf und macht ihm die Wichtigkeit der von ihm gelieferten Informationen für die Zeit nach Beginn der alliierten Landung in der Normandie deutlich. Er will ihn im Auftrag von Allen Dulles zurückgewinnen. In der Nazihierarchie beginnen vorsichtige Absatzbewegungen, Goldreserven und Devisen werden in die Schweiz gebracht. Anfang 1945 reist Fritz Kolbe in diplomatischem Auftrag ein drittes Mal in die Schweiz. Er setzt Botschafter von Lützow unter Druck, um ihn für die Alliierten zu gewinnen. Der wählt den Freitod. Noch einmal geht Kolbe zurück nach Berlin, will Marlene herausholen. Kurz vor der Befreiung gelingt es ihnen mit ordnungsgemäßen Papieren bis zur Schweizer Grenze zu fahren, von wo sie bei Nacht von William Priest mit dem Boot herübergeholt werden.
„Kolbe“ von Andreas Kollender ist packend geschrieben, eine Mischung aus dokumentarischer und fiktiver Wiedergabe. Es ist keine Autobiographie, Erläuterungen werden in eine fiktive Interviewsituation mit Schweizer Journalisten verpackt. Kolbes Motive lassen sich erst bei gezieltem Nachlesen erschließen. Seine Tochter darf er nicht nach Berlin mitnehmen. Seine Freunde sind eher konservativ eingestellt. Als Diplomat hat er Vergleichsmöglichkeiten und Auslandskontakte. Aufgrund seiner Kenntnisse geheimer Vorgänge hat er ein klareres Bild über die Kriegslage und über die Verbrechen, die in deutschem Namen begangen werden. Er verlangt kein Geld für seine Kundschafter-Tätigkeit, er will zwei geliebte Menschen beschützen.
Andreas Kollender „Kolbe“, 448 S., Pendragon Verlag Bielefeld, 16,99 Euro, ISBN 978-3-86532-489-4
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Auf Spurensuche

10. September 2015

Mal ist es ein Satz in einer Ortsbeschreibung, mal die Anfrage eines Angehörigen, die zu einer intensiven Beschäftigung mit dem Schicksal eines Menschen führt, der bis dahin kaum oder gar nicht bekannt war. Das kann zu langwierigen Nachforschungen führen oder in einer Sackgasse enden… Hinrichtungsverzeichnisse, Transport-, Belegungs- und Abgangslisten boten erste Hinweise… Archivarbeiten bilden eine Grundlage für die Aufdeckung der Lebensgeschichte von Personen, derer mit einem Stolperstein gedacht wird. … Ausgangspunkt bieten oft die Totenlisten der KZ-Gedenkstätte Neuengamme und Friedhofsregister…Mit den Stolpersteinen der vergangenen 10 Jahre eröffnen sich neue Möglichkeiten, die Verfolgungssituation in Gröpelingen während des Faschismus deutlicher zu machen. … Mit der Errichtung einer Stele mit den 77 Namen der 1941/42 aus dem ehemaligen jüdischen Altersheim Deportierten wird eine Lücke auf dem Weg zum KZ-Außenlager Schützenhof geschlossen.
Auszug BAF 10./11.2015

Die Seele wurde schon 1933 gebrochen

10. September 2015

Zu elft waren wir am 29. August in der Gedenkstätte Esterwegen, …Kurt Buck, Leiter der Gedenkstätte, nahm sich ausführlich Zeit, uns einen sehr eindrucksvollen Einblick in Entstehungsgeschichte der Emslandlager, die unterschiedlichen Gruppen von Gefangenen, den Lageralltag, Strafen, über Biographien, Gespräche mit Zeitzeugen und die Gestaltung der vor vier Jahren auf diesem historischen Gelände …Im nördlichen Lagerkomplex, unweit der niederländischen Grenze, wurden in einer abgelegenen Moorlandschaft Esterwegen, Börgermoor, Aschersdorf angelegt, wo politische Häftlinge vor ihrem Prozess durch Arbeit im Moor „umerzogen“ werden sollten. …Nach einer unterhaltsamen Mittagspause führte Kurt Buck uns über einen Stählernen Plattenweg, der den Tritt der Gefangenen und die Unbeständigkeit des moorigen Untergrundes nachempfinden ließ, zur ehemaligen Lagerstraße. …Nahe dem früheren Eingangstor machten wir Halt, um die von Georg Gumpert gestifteten Erinnerungssteine zu betrachten. Kurt Buck schilderte den mühsamen Weg zur Gedenkstätte. Zum Abschluss gingen wir für eine gute Stunde durch die sehenswerte Ausstellung.
Auszug BAF 10./11.2015

Sommerausfahrt zur Gedenkstätte Esterwegen

8. August 2015

Sa. 29.08. gegen 10 Uhr ab Linkstreff West Gröpelingeer Heerstraße/Ecke Moorstraße: Sommerausfahrt in die Gedenkstätte Esterwegen. Geplant ist Fahrgemeinschaften zu bilden. Wir werden dort um 11:45 Uhr von Kurt Buck, dem Leiter der Gedenkstätte, erwartet. Fahrzeit ab Bremen ca. 90 min. Anmeldungen erbeten bei Raimund Gaebelein unter (0421) 6163215 raygaeb@web.de 0176/4986 5184 bitte angeben ob PKW zur Verfügung und Möglichkeit der Mitnahme. Dauer Vortrag und Besichtigung ca. 3 Stunden. Möglichkeit zum Kaffeetrinken nach Anmeldung gegeben.
Bebilderter Vortrag zur Geschichte der Emslandlager im Seminarraum; Erläuterungen zur Topographie des Lagers Esterwegen am Luftbild im Eingangsbereich; anschließend Gang über das Lagergelände mit Erläuterungen; Einführung in die Ausstellungen und individueller Rundgang; Abgeurteilt von Justiz und Wehrmacht. Gefangene in der Strafanstalt Lingen und den Emslandlagern 1935-1945 Sonderausstellung von Studierenden der Universität Osnabrück in Kooperation mit den Gedenkstätten Gestapokeller Osnabrück und Esterwegen.
„Unmittelbar nach der Machtübertragung an den Faschismus am 30. Januar 1933 begann eine Phase der Machtsicherung. An die Stelle der verhältnismäßig liberalen Rechtsordnung der Weimarer Republik sollte eine völkische Lebensordnung treten. Recht ergab sich aus den Vorstellungen der „Volksgemeinschaft“ und dem „Führerwillen“. Neue Verordnungen und Gesetze wie das „Ermächtigungsgesetz“ zerstörten die parlamentarische Demokratie und setzten verfassungsmäßige Grundrechte außer Kraft. Neue politische Straftatbestände wurden geschaffen und durch die zivile Justiz streng geahndet. Gleichzeitig verschärfte sie auch die Rechtsprechung gegenüber kriminellen Angeklagten drastisch. Strafvollzug sollte vor allem harte Sühne sein. Die Militärjustiz begriff sich als Instrument zur „Aufrechterhaltung der Manneszucht“ in der Wehrmacht und fällte ebenfalls mit zunehmender Dauer des Krieges immer gnadenlosere Urteile. Eine beispielhafte Auswahl von zwölf Gefangenen-Biographien zeigt unterschiedliche Lebensläufe und Tatvorwürfe. Mit ihnen werden individuelle Schicksale sichtbar, die hinter der Rechtsprechung der NS-Gerichte standen. Nicht alle Verurteilten waren ausschließlich Opfer. Einige waren auch zugleich Täter. Aber alle wurden Opfer einer politischen Justiz. Die Haftzeiten der ausgewählten Gefangenen reichten insgesamt von 1935 bis 1945 und machen die zunehmende Radikalisierung der Rechtsprechung und die stetige Verschlechterung der Lebensbedingungen der Gefangenen deutlich; insbesondere in den emsländischen Strafgefangenenlagern, in denen bis 1945 etwa 1.600 Gefangene umkamen.“
Fahrt (ca. 7 km) zur Begräbnisstätte Esterwegen (Lagerfriedhof) mit geführter Begehung oder Filmvorführung mit Zeitzeugenberichten

Was war los in Hohehorst? Ein Buch über die Nazi-Zeit in Leichter Sprache

5. August 2015

Am 23.06.2015 stellte Astrid Felguth ihr Buch „Was war los in Hohehorst? Ein Buch über die Nazi-Zeit in Leichter Sprache“ im Wallsaal unserer Zentralbibliothek vor. Sie will damit Jugendlichen und Erwachsenen mit und ohne Behinderung die „Nazi-Zeit“ näherbringen.
Ende der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts ließ die Familie Lahusen – Besitzer der Nordwolle, damals größter Textilkonzern Europas mit Hauptsitz in Delmenhorst – in Löhnhorst, nördlich Bremens, auf ihrem Sommerwohnsitz Gut Hohehorst ein prächtiges, schlossartiges Gebäude mit großem Park errichten. Gleichzeitig ließen sie in Bremen eine überdimensionierte neue Verwaltungszentrale – das heutige Haus des Reichs bzw. Finanzamt – bauen. Da sie u. a. daran 1931 pleitegingen, mussten sie das Haus Hohehorst noch vor dem Einzug verkaufen. Danach wechselten die Nutzungen: Lebensbornheim „Friesland“, Krankenhaus, Drogentherapie-Einrichtung … Seit einigen Jahren steht es leer.
Im Buch geht es um die Lebensborn-Zeit. Es beginnt mit Jugendlichen in Löhnhorst, wo Frau Felguth geboren und aufgewachsen ist, die 1977 zufällig auf die Geschichte Hohehorsts stoßen und ein Heft finden, das die Tagebuch-Aufzeichnungen von Anni 1944 enthält. Diese ist unverheiratet schwanger und findet ihre „Rettung“ im Haus Friesland. Nach dieser gekonnten Einführung folgen einige Seiten Erklärungen zu Lebensborn und „Nazi-Zeit“.
Hier erweist sich besonders die Problematik der „Leichten Sprache“. Sprache ist doch schwer nicht aus Schikane, sondern weil die Zusammenhänge kompliziert sind. Auf Ursachen und Zusammenhänge wird nicht eingegangen; der Faschismus kam irgendwie über Deutschland; dabei hatte das doch, um es mit Bertolt Brecht zu sagen, „Name und Anschrift“.
Besonders ärgerlich finde ich die Erwähnung des Widerstands: „Einige Menschen sagten etwas gegen die Verbrechen. Das waren oft Menschen von der Kirche.“ (S. 92) Und das, obwohl doch beide Amtskirchen eng mit den Faschisten zusammenwirkten, da sie ja den gleichen Feind, die Kommunisten, hatten.
Bei diesem Konglomerat aus Kindersprache und PowerPoint-Präsentation zeigt sich wieder einmal: „Das Gegenteil von „gut“ ist „gut gemeint“.
Astrid Felguth: „Was war los in Hohehorst? Ein Buch über die Nazi-Zeit in Leichter Sprache“, Mabuse-Verlag, Frankfurt/Main 2015, 16,90 EUR

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Katalog erschienen zur Austellung „Europäischer Widerstand gegen den Nazismus“

20. Juli 2015

Der Papy-Rossa-Verlag in Köln hat zusammen mit einem belgischen Verleger und der Internationalen Föderation der Widerstandskämpfer (FIR) im Sommer 2015 einen Bildband vorgelegt, der einen europäischen Blick auf die Widerstandsbewegung wirft. Er entstand im Zusammenhang mit einer Ausstellung, die das „Institut des Vétérans“ und die FIR im Sommer 2013 zum ersten Mal im Europäischen Parlament präsentieren konnten. Auf über 300 Seiten berichtet der Band über zentrale Ereignisse, insbesondere durch ausdrucksstarke Bilder. Jean Cardoen / Ulrich Schneider, Antifaschistischer Widerstand in Europa 1922 – 1945, Mit einem Vorwort von Manolis Glezos, Paperback, 24 x 24 cm, 335 Seiten, durchgehend mit s/w-Fotografien, 29,90 EUR. Erhältlich über die VVN-BdA Bremen gegen Vorkasse.

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Entschädigung ehemaliger sowjetischer Kriegsgefangener

20. Juli 2015

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Der Bremer Freundeskreis von „Kontakte-Kontakty“ hat mit großer Freude zur Kenntnis genommen, dass der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestags am 20. Mai mit breiter Unterstützung von der LINKEN bis zur CDU den überlebenden sowjetischen Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkriegs eine Entschädigung von insgesamt zehn Millionen Euro zugesprochen hat. Wir sehen darin eine Bestätigung auch unseres eigenen jahrelangen Engagements für die Betroffenen.
Von den insgesamt ca. 5,7 Millionen sowjetischen Kriegsfangenen ist weit mehr als die Hälfte (rund 3,3, Millionen) in deutschem „Gewahrsam“ durch Seuchen, Hunger, Erfrieren, Misshandlungen und willkürlichen Tötungen umgekommen; von den Zurückgekehrten wurden überdies viele in der Sowjetunion als Kollaborateure verhaftet oder in Arbeitslager verbracht. Wenn man davon ausgeht, dass die Quote der in deutscher Kriegsgefangenschaft umgekommenen westalliierten Soldaten „nur“ rund 3 % betrug, wirft dies Schlaglichter auf das Menschenbild der Nationalsozialisten, in dem Russen und andere Sowjetvölker als „Untermenschen“ diffamiert wurden. Heute leben noch rund viertausend hochbetagte Betroffene in Russland und anderen ehemaligen Sowjetrepubliken; sie erhalten voraussichtlich von der mit der Auszahlung beauftragten Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ jeweils 2500 Euro – für armenische Rentner immerhin zwei Jahresrenten. Diese Auszahlung ist für die ehemaligen Kriegsgefangenen zugleich eine lange erwartete Anerkennung des erfahrenen Leids….Der Bremer Freundeskreis sieht sich durch die Entscheidung des Haushaltsausschusses in seinem Engagement bestätigt und darüber hinaus veranlasst, seine Tätigkeit im Sinne der Betroffenen und der Völkerverständigung fortsetzen. Es gibt noch viel zu tun!
Für den Bremer Freundeskreis von Kontakte-Kontakty

Auszug BAF Artikel 08./09.2015

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