Rede von John Gerardu zurEinweihung des Gedenksteins für Julius Dickelam 7. Mai 2022 am Friedhof Buntentor

12. Mai 2022

Vielen Dank Dardo Balke und seinem Sohn Richie Gerardo
für euren musikalischen Beitrag zu dieser Veranstaltung.
Mein Name ist John Gerardu und ich darf Sie an diesem Ort
herzlich im Namen des Arbeitskreises „Erinnern an den März
1943“ begrüßen.
Dies gilt in erster Instanz Frau Simone Schuurhuizen, die
Witwe von Julius Dickel, sowie seiner Tochter Linda Dickel, die
gestern beide aus den Niederlanden angereist sind. (Hinweis
darauf, dass sie Deutsch verstehen, aber nicht sprechen).
Mein Dank gilt auch dem Historiker Dr. Hans Hesse, dessen
wissenschaftlichen Forschungen wir überhaupt verdanken,
soviel über das Schicksal der verfolgten Sinti und Roma in
Nordwest Deutschland allgemein zu wissen, insbesondere über
das der Familie Dickel.
Bedanken möchte ich mich beim Vorstand des Bremer Sinti
Vereins, namentlich bei Hermann Ernst und Marcus
Reichert, dafür dass ihr uns Einblick in die Geschichte und
Traditionen eures Volkes gewährt habt.
Martina Höhns als Vertreterin der Senatskanzlei möchte ich
ebenfalls danken. Sie und den Bürgermeister, Andreas
Bovenschulte, haben uns die Finanzierung des
Erinnerungssteins für Julius Dickel durch das Bremer Rathaus
ermöglicht.
Mein Dank gilt auch den Vertreter:innen von Umweltbetrieb
Bremen und vom Landesamt für Denkmalschutz, ohne
deren Unterstützung wir diesen Stein nicht hätten legen
können. Die Steinmetzin Katja Stelljes dafür, dass sie den
Stein und die Inschrift fachkundig gestaltet und montiert hat.
Donnerstag vor einer Woche hat übrigens der Beirat Neustadt
die Finanzierung einer DENKORTE Stele, die an die Verfolgung
der Sinti und Roma erinnert, bewilligt. Diese soll am 19.
November dieses Jahres im hinteren Teil dieses Friedhofs eingeweiht werden.

Dem Beirat Neustadt gebührt ebenfallsunseren Dank!
Der Arbeitskreis „Erinnern an den März ‚43“ möchte in der
Öffentlichkeit auf das Schicksal und vor allem die Verfolgung
der Sinti und Roma in Bremen aufmerksam machen. Dieser
Arbeitskreis der trifft regelmäßig zusammen. In ihm sind sowohl
der Sinti Verein Bremen und Bremerhaven, wie auch Hans
Hesse, die VVN-BdA, das Kulturzentrum Schlachthof und andere
vertreten.
Der Arbeitskreis benannte sich nach dem Datum der
Deportation der Sinti und Roma aus Nordwestdeutschland
während des Nationalsozialismus. Von hier ging es über den
Bremer Schlachthof nach Auschwitz-Birkenau.
Im Laufe seiner Recherchen stieß Hans Hesse u.a. auf das
Schicksal der fast vollständig ermordeten Familie Petrus Dickel,
von dem nur der Sohn Julius überleben würde. Weitere
Recherchen ergaben, dass sich das Familiengrab der Eltern von
Petrus Dickel immer noch auf dem Friedhof von Buntentor
befindet. 1929 wurde dessen Vater Johann nämlich hier
beerdigt. Es ist wahrscheinlich das älteste erhaltene Sinti Grab
in Bremen.
Ein Zufall ergab, dass wir uns wesentlich intensiver mit dieser
Familie befassten. 2019 fuhr ein Teil des Arbeitskreises nach
Westerbork in den Niederlanden. Das dortige
Erinnerungszentrum wurde im ehem. Durchgangslager
Westerbork eingerichtet. Von hier wurden ab Juli 1942
sämtliche 105.000 Juden und am 19. Mai 1944 fast 250 Sinti
und Roma aus den Niederlanden nach Auschwitz, Sobibor,
Theresienstadt und Bergen-Belsen deportiert.
Ein wissenschaftlicher Mitarbeiter fragte uns, ob wir Auskunft zu
einer Familie Dickel in Bremen geben könnten. Hintergrund
dieser Frage war, dass sich eine Linda Dickel aus Rotterdam an
das Erinnerungszentrum in Westerbork gewandt hatte, ob sie
Informationen zu einem Julius Dickel aus Bremen hätten. Diese
Frage wurde an uns weitergeleitet. Als wir diese Frage bejahten,
erhielten wir ihre Kontaktdaten.
Zurück in Bremen tauchte Hans Hesse noch mehr in die
Geschichte der Familie ein, während ich, weil ich Niederländischspreche,

Kontakt mit Linda aufnahm. So schlossen wir
Bekanntschaft mit der Tochter von Julius Dickel. Erstmals erfuhr
sie von uns, was mit der Familie geschehen ist und welches
Schicksal konkret ihr Vater erlitten hat. Und das ist der einzig
schöne Teil dieser Geschichte.
Die andere Seite der Geschichte ist traurig und brutal.
Julius Dickel – und ich betone nochmals, er war der einzige
Überlebende seiner Familie – hat 1968 in Groningen Simone
Schuurhuizen geheiratet. Mit ihr bekam er Dezember ‚69 eine
Tochter, eben Linda. Traumatisiert durch seinen Aufenthalt in
mehreren NS-Lagern, beeinträchtigt durch die ständige
Einnahme von Medizin, darunter schwere Depressiva, lebte
Julius nach seiner Befreiung ein unstetes Leben. Nur 3-4 Jahre
nach der Geburt von Linda verließ er Frau und Kind in
Groningen. Seine Tochter hat er danach nie wiedergesehen.
Einsam ist Julius Dickel letztendlich 1993 in Offenburg/Baden
Württemberg gestorben. 25 Jahre später wurde sein Grab dort
eingeebnet, weil der Friedhofsverwaltung in Offenburg keine
Verwandten bekannt waren.
Linda hat weder Bilder von ihm, noch ist er in ihrem Gedächtnis
präsent geblieben. Auf Grund ihrer Erkrankung kann auch ihre
Mutter keine weiteren Auskünfte zu Julius geben.
Auf Wunsch von Linda haben wir uns drum gekümmert, dass es
einen Erinnerungsstein geben soll. Denn auch wir als
Arbeitskreis haben ein Interesse daran, dass an Julius Dickel
und seine Familie erinnert wird, denn ihre Geschichte steht
stellvertretend für das Schicksal vieler Sinti und Roma Familien.
Was macht genau die Bedeutung von Julius Dickel aus?
Julius wurde als eins von fünf Kindern der Eheleute Petrus und
Maria Albertine Dickel in Osnabrück geboren. Die Familie zog im
Frühling und Sommer mit ihren Wohnwagen durch den
Norddeutschen Raum, während sie sich ansonsten an mehreren
Adressen in Bremen aufhielt. Julius besuchte die Volksschule an
der heutigen Neustadtswall, Ecke Schulstraße, also hier in der
Neustadt.
Am 8. März 1943 wurde die Familie an ihrer damaligen Adresse
in der Stoteler Straße in Gröpelingen vom Kripo-Beamten Wilhelm Mündtrath verhaftet

und in den provisorisch als Lager
eingerichteten Schlachthof in Findorff gebracht.
Mündtrath war als Dienststellenleiter der Kripo-Leitstelle
Nordwest im Bremer Polizeihaus, die heutige Stadtbibliothek,
zuständig für die Verhaftung und Deportation sämtlicher Sinti
und Roma aus Bremen, Oldenburg und Stade. Nur wenige Tage
später wurden über 300 der inhaftierten Familien von
bremischen Kripobeamten, darunter Mündtrath persönlich, nach
Auschwitz-Birkenau ins sog. „Zigeunerfamilienlager“ gebracht.
Nur wenige von ihnen überlebten, andere waren sog.
„medizinischen“ oder „wissenschaftlich notwendigen“
Experimente ausgesetzt.
Der damals 16-jährige Julius Dickel wurde im Familienlager
ausgesondert, weil er körperlich stark genug erschien, um als
Arbeitssklave eingesetzt zu werden. Auf Anraten seiner Mutter
stimmte er die damit verbundene Verlegung ins Stammlager
Auschwitz zu.
Er überlebte diese Sklavenarbeit in Arbeitskommandos im KZ
Buchenwald, KZ Flossenburg und Theresienstadt.
In Theresienstadt erlebte er, körperlich und seelisch schwer
gezeichnet, seine Befreiung. Die folgenden Monate verbrachte
er in einem Krankenhaus, um eine Typhuserkrankung
auszukurieren.
Es gab weitere körperlichen Verletzungen:
durch einen SS-Mann war ihm ein Zahn ausgeschlagen worden;
ein Peitschenhieb brach ihm das Nasenbein; zudem musste er
während der KZ-Haft oft nachts draußen, auf dem kalten
Zementboden von Bahnhöfen, bei Regen und Kälte, schlafen.
Nach seiner Krankenhausentlassung fuhr Julius Dickel mit einem
Bustransport nach Bremen, der übrigens vom Bremer Carl Katz,
der Vorsteher der Jüdischen Gemeinde in Bremen und ebenfalls
Häftling in Theresienstadt, zusammengestellt worden war.
Hier angekommen wird er mit der schrecklichen Erkenntnis
konfrontiert, dass seine Eltern und Geschwister alle ermordet
worden sind. Er fühlt sich einsam und verlassen und beschließt
zum Grab seines Großvaters Johann auf dem Friedhof in
Buntentor zu gehen.
Von einem Friedhofswächter erfährt er, dass es noch einen
Onkel, einen Bruder seines Vaters, in den Niederlanden geben soll. Der war vor der Machtergreifung der Nazis in die
Niederlanden gezogen und hatte eine niederländische Frau
geheiratet. Dieser Onkel hatte 1931 auch seine Mutter Maria
Dickel, die Großmutter von Julius, zu sich in die Niederlanden
geholt. Als sie dort in Juni 1943 verstarb, gelingt es ihm sie auf
dem Buntentor Friedhof beerdigen zu lassen. Wie dies
geschehen konnte, als alle andere Familienmitglieder bereits in
Auschwitz-Birkenau waren, ist für uns immer noch ein Rätsel.
Julius beschließt bei seinem Onkel in Leersum/NL zu bleiben und
betreibt von dort, teilweise mit Unterstützung eines
niederländischen Anwalts, seine Wiedergutmachung. Sein
Antrag wird von der zuständigen Behörde sorgfältig geprüft,
denn für die „Beantwortung“ (bewusst zwischen
Anführungszeichen) dieser Frage sei es wichtig, (Zitat) „um
festzustellen, ob D. [gemeint ist Julius Dickel, d. A.] überhaupt
in seinem Leben schon gearbeitet hat oder evtl. als
arbeitsscheu zu betrachten ist.“
Zur Erinnerung: Julius Dickel war zum Zeitpunkt seiner
Deportation im März 1943 16 Jahre alt. Welche Arbeit soll er in
diesem Alter schon nachgegangen sein?
Julius litt, wie ich bereits gesagt habe, stark unter den Folgen
der Haft, insbesondere der Typhuserkrankung.
Ohnmachtsanfälle häuften sich. Ebenso tägliche Kopfschmerzen
und epileptische Anfälle. Außerdem litt er unter einer
angstneurotischen Depression. Insgesamt wurde erst 1964 ein
Verfolgungsschaden anerkannt, der eine 30%
Erwerbsminderung zur Folge gehabt hat.
1961 zeigt Julius Dickel den Kripo-Beamten Wilhelm Mündtrath
an, der übrigens auch hier in der Neustadt, in der Friedrich
Ebert Straße lebte.
Dickel warf Mündtrath vor, dass dieser gewusst haben musste,
(Zitat) „dass das Ziel unserer Reise ein Konzentrationslager
und damit die Vernichtung war.“ Er mache diese Aussage erst
jetzt, (Zitat) „weil ich glaubte, solche Personen wie Mündtrath
könnten auf Grund ihrer damaligen Tätigkeit nicht mehr verfolgt
werden.“
Die Anzeige hatte ein Ermittlungsverfahren gegen Wilhelm
Mündtrath zur Folge.Im September 1962 wurde das Ermittlungsverfahren jedoch
eingestellt. Man habe, so der Staatsanwalt, nicht beweisen
können, (Zitat) „dass er beim Transport von
Zigeunermischlingen aus Bremen am 8. März 1943 ins
Konzentrationslager Auschwitz gewusst hat, dass die dort
hinverlegten Menschen einmal getötet werden würden.“
Trotz dieses gescheiterten Versuchs einer justiziellen
Aufarbeitung der NS-Verbrechen an den Sinti und Roma in
Bremen, aber auch bundesweit, ist zu konstatieren, dass – wie
schon bei der Entnazifizierung — es die überlebenden Opfer
waren, die die Verfahren gegen die aus ihrer Sicht
verantwortlichen Kriminalpolizeibeamten initiierten. Ihre
unermüdlichen Versuche, so etwas wie Gerechtigkeit zu
erlangen, schufen quasi als Nebeneffekt überhaupt erst die
Quellen, die es späteren Historikern, wie Hans Hesse,
ermöglichten, die NS-Verbrechen aufzuarbeiten und zwar
weil die Täter in den Verhandlungen gezwungen wurden,
auszusagen,
weil die überlebenden Opfer als Zeugen des Geschehens
ihre Erlebnisse im wahrsten Sinne des Wortes zu Protokoll
gaben,
weil darüber hinaus Ermittlungen angestellt wurden, mit
denen die tatsächlichen oder behaupteten Lücken in der
amtlichen Quellenüberlieferung geschlossen werden
konnten.
Darin liegt der historische Wert dieser Aussagen, wie die von
Julius Dickel, trotz des ohne Zweifel unbefriedigenden Ausgangs
dieser Anzeigen und Wiedergutmachungsanfragen. Keiner der
beteiligten Beamten wurde verurteilt oder in der
Entnazifizierung über den Status eines „Mitläufers“
hinausgehend eingestuft.
Vergessen sollten wir außerdem nicht, wie die
Nachkriegsgesellschaft und die Behörden mit den aus den KZ’s
zurückkehrenden Sinti und Roma umgingen. Die ersten
siedelten sich u.a. in unmittelbarer Nähe von diesem Ort im
Geschwornenweg an. Sie stellten ihre Wohnwagen auf dem
Schulhof der durch alliierten Bombenangriffe zerstörten
Grundschule auf. Beschwerden aus der Nachbarschaft und von der Polizei führten hier

und woanders dazu, dass man die
Familien 1948 an einen zentralen Ort überführte: zum ehem. KZ
Riespott auf dem Gelände der heutigen Stahlwerke. Nur 7 Jahre
später, als die Klöckner Werke und der Senator für Häfen das
Gelände für andere Zwecke beanspruchten, wurden sie unter
Polizeiführung wiederum umgesiedelt, diesmal zur Mülldeponie
an der Warturmer Heer Straße, nicht weit vom „Storchennest“
entfernt.
Dazu ein Zitat des Regierungsdirektors Dr.Löbert aus der
Bürgerschaftsdebatte vom 18. Juni 1955:
„Ein Erfolg sei wenigstens bereits erreicht, denn die im Lager
Riespott ansässigen „Landfahrer“, von denen ein großer Teil
gebürtige Bremer waren, sind sesshaft geworden“. „Sie haben
somit die erste Stufe der Zivilisation erklommen.“
Verehrte Anwesende, Sie können Marcus und Hermann gerne
mal fragen, wie sie ihre Kindheit in Warturm auf diesem vom
damaligen Senat bereitgestellten Platz auf der Mülldeponie mit
seiner „höheren Zivilisationsstufe“ verbrachten. Dies war nach
der Deportation, die Nicht-Berücksichtigung bei der
Wiedergutmachung in der frühen Bundesrepublik bereits so
etwas wie eine „zweite Verfolgung“!
Nun möchte ich Linda Dickel das Wort erteilen (Kurzer
Redebeitrag, John übersetzt). Anschließend legt Linda einen
Blumenstrauß auf das Grab.
Dankeschön an die Anwesenden! Morgenfrüh um 11.00 Uhr gibt
es für Sie die Möglichkeit zu einer Stadtteilführung zum
Thema „Verfolgung von Sinti und Roma“, die Hans Hesse
und ich durchführen. Start ist ebenfalls bei der Kapelle und wir
besuchen nicht nur das Familiengrab Dickel, sondern auch das
Gräberfeld um anschließend noch eine kleine Wanderung zu
anderen Orten hier in der Nachbarschaft zu machen, die im
genannten Kontext erwähnenswert sind.
Schluss der Veranstaltung. Dardo und Richie spielen noch
ein Stück.

Erklärung des Landesvorstands der VVN-BdA Bremen zum Kriegsgräberfeld an der Reitbrake

1. Februar 2022

Inzwischen wurden neun vollständige Skelette neben vielen zusätzlichen Leichenteilen in dem Gräberfeld an
der Reitbrake ausgegraben. Damit hatte niemand vorher gerechnet. Deshalb ist es nun Zeit, fast 80 Jahre nach
Kriegsende und nach fast 80 Jahren schlampigen Umgangs des offiziellen Bremen mit den dort begrabenen
Leichen von Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion mit aller Sorgfalt und Expertise vorzugehen.
Wir unterstützen von daher die Forderung, die inzwischen auch mit der LINKEN von einer der Regierungs –
parteien erhoben wurde, eine unabhängige Kommission von Historikern, Völkerrechtlern und Ethikern einzu-
richten, die der Bremischen Bürgerschaft eine Empfehlung zum Umgang mit der Kriegsgräberstätte an der
Reitbrake geben soll.
Wir betonen nochmals unseren Dank an Dieter Winge und Ekkehard Lentz für ihre außerordentlich gründl-
ichen und peniblen Recherchen zum Gräberfeld für sowjetische Kriegsgefangene an der Reitbrake, die auf
früheren Recherchen von Harry Winkel und Peter-Michael Meiners aufbauen.
Wir danken außerdem dem Team um Professorin Halle von der Landesarchäologie für die umfangreichen
Grabungen, die sie dort vornehmen. Sie möchten wir bestärken darin, sich die Zeit zu nehmen, die für eine
sorgfältige Untersuchung nötig ist und sich nicht durch Dritte unter Zeitdruck setzen zu lassen. Nötigenfalls
sollte die Untersuchung über den bisher geplanten Bereich hinaus erweitert und die Mittel dafür bereit gestellt
werden.
Für den Landesvorstand
Ulrich Stuwe

Redebeitrag von Lutz Liffers (Kultur Vor Ort e.V.) anlässlich des Jahrestages der Reichspogromnacht am 9.11.2021, Gröpelingen

9. November 2021

Liebe Freund:innen, liebe Mitstreiter:innen,

schon seit einigen Jahren engagieren sich die Nachbar:innen vom Martinsclub alljährlich am 9.11.,
dem Jahrestag der Reichsprogromnacht, auf eine ganz besondere Art für die Erinnerungskultur in
Bremen: Sie putzen die Stolpersteine.
Jene 30 Stolpersteine in Gröpelingen, die an die während der NS-Diktatur verschleppten und  getöteten Gröpelinger:innen erinnern sollen. Wir von Kultur Vor Ort e.V. wollen diese Aktion unterstützen und rufen deshalb schon seit einigen  Jahren auf, in einer gemeinsamen und nachbarschaftlichen Aktion die kleinen Kupferplatten zu  säubern, Blumen nieder zu legen und mit Nachbar:innen ins Gespräch zu kommen. Immer mehr Initiativen unterstützen unterdessen die Aktion: Bürgerhaus Oslebshausen,
Stadtbibliothek West, Geschichtswerkstatt Gröpelingen, ZIS – Zentrum für Migranten und
interkulturelle Studien e.V., SEKU Syrischer Exil -Kulturverein, das QBZ Morgenland und EUROPA
ZENTRAL- Leben im Liegnitzquartier.
Warum rufen wir zu dieser Putzaktion auf? Seit 1991 arbeitet in Bremen der Verein „Erinnern für die Zukunft“, um die Auseinandersetzung mit
dem Nationalsozialismus lebendig zu halten. Der Verein ist in Bremen ein maßgeblicher Initiator für
die Stolpersteine in der ganzen Stadt.
Wir möchten das Motto: „Erinnern für die Zukunft“ erweitern: Wir denken, wir sollten uns Erinnern
für die Gegenwart.
Denn es ist nicht eine ferne Zukunft, vor der wir uns fürchten müssen, sondern es ist die Gegenwart,
in der strukturelle rassistische Gewalt unsere Gesellschaft kennzeichnet.
Ich möchte deshalb heute an einen anderen Jahrestag erinnern. In diesen Tagen jährt sich zum
zehnten Mal ein besonders verstörendes Ereignis:
Vor zehn Jahren, am 4. November 2011, begangen nach einem missglückten Banküberfall zwei
Rechtsterroristen Selbstmord. Die ebenfalls rechtsterroristische Lebensgefährtin der beiden Männer
zündete wie vereinbart das gemeinsame Versteck an, um Spuren zu verwischen – und lancierte,
ebenfalls wie abgesprochen, ein zynisches Bekennervideo an die Polizei – um damit Angst und
Schrecken vor allem unter Migrant:innen zu verbreiten. Darin verherrlicht der „Nationalsozialistische
Untergrund“ (NSU) seine Morde: Elf Jahre konnten Mundlos, Bönhardt und Zschäpe unbehelligt 15
Raubüberfälle begehen, mehrere Bombenanschläge mit Dutzenden Verletzten verüben und zehn
Morde begehen, zumeist an Menschen mit Migrationsgeschichte.
Zu dem Zeitpunkt, als sich die beiden Mörder in einem Wohnwagen selbst erschossen und Beate
Zschäpe sich selbst enttarnte, war die Polizei immer noch damit beschäftigt, die Familien und das
Umfeld der ermordeten Migranten zu verdächtigen. Wie zum Beispiel in Nürnberg:
Das erste Opfer des NSU war Enver Şimşeks. Am 9. September 2000 wurde er an seinem
Blumenstand in Nürnberg von zwei Unbekannten erschossen. Jahrelang hatte die Polizei Şimşeks
Familie selbst verdächtigt, dem Opfer Drogenhandel oder Mafiageschäfte unterstellt, die Polizei
gaukelte der Ehefrau sogar vor, ihr Mann habe eine Geliebte, um Informationen aus ihr
herauszulocken.

Wie konnte es sein, dass die Polizei derart rassistisch verblendet, die rechtsradikale Szene als Täter
elf Jahre und zehn Morde lang gar nicht erst in Betracht zog? Dass ausschließlich die
Familienangehörigen der Migrant:innen verdächtigt und jahrelang immer wieder verhört wurden?
Die Morde des sogenannten „Nationalsozialistischen Untergrunds“ waren kein tragischer Einzelfall.
Die Süddeutsche Zeitung kommt in einer Analyse zu dem Schluss: „Deutlich wurde im Prozess (gegen
Zschäpe, LL) vor allem, wie sehr Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt eingebettet waren in ihrem
rechten Kosmos, dort bewegten sie sich frei wie Fische im Wasser. Nach dem Prozess verschwand
der NSU aus den Schlagzeilen. Die Szene aber blieb.“ (SZ Nr. 252, 30/31.10.2021)
Die Gewalttaten, Morde und Brandanschläge von Gruppen wie Freital in Dresden, Oldschool Society
oder Revolution Chemnitz, die Mordpläne des Bundeswehrsoldaten Franco A, der Prepper Gruppe
Nordkreuz 2016 (die eine Massenhinrichtung von Helfern von Geflüchteten vorbereiteten), der
Rechtsterrorist von München, der 2016 neun jugendliche Migrant:innen und der von Hanau, der
2020 neun Migrant:innen ermordete, der Anschlag gegen die Synagoge in Halle und die Ermordung
des CDU Politikers Lübke, die mindestens 200 Morddrohungen gegen Migrant:innen, Politiker:innen,
Anwält:innen und Menschenrechtsaktivist:innen des sogenannten „NSU 2.0“ … das ist der
permanente Rechtsterrorismus in Deutschland.
Diese Morde, Gewalttaten, Morddrohungen sind die terroristische Spitze eines rassistischen Eisbergs
mitten in Deutschland. Auch die oben genannten Gruppen und Täter bewegen sich in unserer
Gesellschaft wie Fische im Wasser. In den asozialen Medien feuern sie sich gegenseitig an, bestärken
sich und gewinnen weitere Anhänger. Befeuert werden sie von den vergifteten und
demokratiezersetzenden Aktivitäten der AfD und anderer rechtspopulistischer Strömungen.
Die damalige AfD-Fraktionschefin Alice Weidel äußerte sich im Bundestag im Mai 2018 zur
Einwanderungspolitik der Bundesregierung: „Burkas, Kopftuchmädchen und alimentierte
Messermänner und sonstige Taugenichts werden unseren Wohlstand, das Wirtschaftswachstum und
vor allem den Sozialstaat nicht sichern“.
Während die einen also sprachlich die Lunte legen, schreiten die anderen zur Tat. Wenn wir gleich losgehen, die 30 Stolpersteine zu putzen, um der im „Nationalsozialismus“
verschleppten und ermordeten Gröpelinger:innen zu gedenken, dann kann dieses Gedenken erst
dann wirksam werden, wenn wir heute, in der Gegenwart, mitwirken gegen die rassistischen
Strukturen in unserer Gesellschaft.
Struktureller Rassismus benötigt strukturelle Antworten und die finden wir ganz nah, in unserem
Stadtteil, in den Themen, die wir täglich bewegen.
Zum Beispiel: Wir benötigen mehr Mittel und Methoden für eine wirkungsvolle politische Bildung, die junge Leute
zu Wort kommen lässt und Konflikte nicht wegmoderiert, sondern bearbeitet. Nur wenn junge Leute
nicht ein permanentes Gefühl von Ohnmacht entwickeln, sondern Gestaltungsmacht gewinnen,
können sie sich hate speech und Alltagsrassismus entgegenstellen.
Viel aktiver und mutiger müssen wir in der Kinder- und Jugendarbeit die Diskussionen um Rassismus
und Antisemitismus führen. Beides ist allgegenwärtig – auch unter jungen Menschen. In einem
internationalen Stadtteil wie Gröpelingen werden zudem weltpolitische Konflikte schnell zu Erklär-
Hülsen für diejenigen, die sich häufig machtlos und ausgeliefert fühlen. Die Konflikte in Palästina, in
Kurdistan, in Syrien sind für viele in Gröpelingen verbunden mit traumatischen Erfahrungen in der
eigenen Familie. Das kann auch ein Nährboden für rassistische und antisemitische Einstellungen
werden.
Aber machen wir uns nichts vor: Rechtspopulistische und neofaschistische Strukturen sind die
eigentlichen Brandherde einer zunehmenden Vergiftung öffentlicher Diskurse und steigender
rassistisch motivierter Gewalt. Die Bundeszentrale für Politische Bildung schätzt, dass 90% der a
ntisemitischen Übergriffe gegen Juden und Jüdinnen oder vermeintliche Juden und Jüdinnen von
(fast immer männlichen) Rechtsterroristen ausgeht. Wir brauchen deshalb nicht nur entschiedene Maßnahmen gegen Rechts, sondern auch im Vorfeld
Veränderungen im System, damit beispielsweise Kinder mit Migrationsgeschichte nicht mehr wie seit
Jahren im Schulsystem systematisch benachteiligt sind. Wann hört es endlich auf, dass Jugendliche mit schwarzen Haaren und dunklen Augen gefragt
werden, wo sie denn herkämen? Und wenn sie Gröpelingen antworten, die Nachfrage kassieren, wo
sie denn ursprünglich herkämen. Wir benötigen eine entschieden andere Sozial- und Stadtentwicklungspolitik. Und mehr Prävention
auf allen Ebenen, zum Beispiel auch mehr Drogenpräventionsarbeit, damit nicht weiterhin junge aus
dem Maghreb oder dem westlichen Afrika geflüchtete Jugendliche ihre Zukunft als Kleindealer in
Gröpelingen verspielen. Das ist der Sinn von Erinnerungsarbeit. Unser gesellschaftliches System heute zu ändern. Denn
strukturelle Probleme brauchen strukturelle Antworten. Wenn wir jetzt losgehen, an den 30 Stolpersteinen Kerzen entzünden, vielleicht Blumen niederlegen
und die kleinen Gedenksteine sorgsam säubern, dann bitten wir Sie und Euch das Gespräch zu
suchen, mit Passant:innen, mit Nachbar:innn, mit denen, die durch den Abend streifen ins Gespräch
zu kommen und zu erzählen, um was es geht: Um unser gemeinsames Zusammenleben, um
solidarische Nachbarschaften, um die Stärkung des Zusammenhalts, um Ideen, wie Gröpelingen das
große Versprechen auch einlösen kann, das als Schild am Ohlenhofplatz hängt: Stadtteil ohne
Rassismus. Erinnern wir uns heute am 9. November … für die Gegenwart.

Gesang der Toten

12. September 2021

Im Juli ist Esther Bejarano gestorben und jetzt Mikis Theodorakis. Mich trifft der Tod dieses Mannes so schwer, dass mir die Worte fehlen, meinen Schmerz zu beschreiben. Er war für mich die Stimme all der Gerechten, die im Widerstand gegen den Faschismus für das Gute im Menschen gekämpft und gelitten haben, und wenn ich die Augen schließe höre ich aus abertausenden von Gräbern einen Choral zu Ehren von Mikis Theodorakis. Ich höre Lieder wie das von Ernst Busch gesungene unsterbliche „Spaniens Himmel breitet seine Sterne, übrer unsere Schützengräben aus“ aus dem spanischen Bürgerkrieg, oder das nicht weniger unsterbliche „Ciao, bella, ciao“ der italienischen Partisanen, das ebenso zum Volkslied geworden ist, wie die von Theodorakis komponierte Melodie für den Sirtaki in dem Film „Alexis Sorbas“, dargestellt und getanzt von dem unvergleichlichen Anthony Quinn. Drei Tage Staatstrauer hat die griechische Regierung verhängt – und mit den Griechen verneige auch ich mich in aller Einsamkeit vor Mikis Theodorakis.
Kurt Nelhiebel, Bremen.

Esther Bejarano verstorben !

10. Juli 2021

Die VVN-BdA Bremen trauert um Esther Bejarano *15.12.1924 +10.07.2021
Wir werden unsere „Ehren-Präsidentin“, der VVN-BdA, in ewiger Erinnerung behalten und uns bemühen, ihren Kampf gegen den Antisemitismus und gegen Rechts auch in ihrem Namen weiterzuführen.
Unser Anteilnahme gilt ihrer Familie und ihren Freunden.

http://www.vvn-bda.de/

Pressemitteilung

25. März 2021

VVN-BdA Bremen fordert Stopp der Planungen für den sog. „Russenfriedhof“

Erklärung der VVN-BdA Bremen zur geplanten Bebauung des als „Russenfriedhof“ bekannten Geländes in Bremen-Oslebshausen

Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) Bremen dankt den Verfassern für die umfangreiche und sorgfältige Recherche zu der Möglichkeit, dass sich auf dem Gelände des sogenannten „Russenfriedhofs“ in Oslebshausen noch sterbliche Überreste von dort beerdigten sowjetischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern befinden.

Aus Sicht der VVN-BdA kommt die beabsichtigte Überbauung des Geländes nur in Betracht, wenn sichergestellt ist, das dort keine sterblichen Überreste von Menschen mehr vorhanden sind und dass die Regelungen des Kriegsgräberabkommens mit der Russischen Föderation von 1992 eingehalten werden. Die festgestellte Differenz zwischen den Totenzahlen am Begräbnisort „Russenfriedhof“ und den Zahlen der nach dem Krieg dort exhumierten und auf dem Osterholzer Friedhof beerdigten Toten ist kein sicherer Hinweis auf weitere dort verbliebene Tote. Es kann aber ebenso wenig ausge­schlossen werden, dass von der Nachkriegsexhumierung sämtliche Überreste der dort unter dem Naziregime verscharrten Menschen erfasst worden sind. Eine ebenso gründliche wie zeitnahe Über­prüfung ist deshalb geboten. Bis zu deren Abschluss sind alle Planungen zu unterlassen. Wir begrüßen es, dass die Landesarchäologin mit den Recherchen begonnen hat und gehen davon aus, dass die entsprechenden Gedenkstätten und das Staatsarchiv ihre Expertise zur Verfügung stellen.

Des Weiteren hält die VVN-BdA Bremen es für erforderlich sicherzustellen, dass der Zugang zu der zum Gedenken an die Toten errichtete Stätte dauerhaft frei bleibt. Es ist den Gedenkenden, die auch aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion anreisen, nicht zuzumuten sich vor dem Besuch der Stätte die Erlaubnis eines Unternehmens einzuholen.

Wir halten es zudem für angebracht, Hinweisschilder auf den Gedenkort anzubringen. Diese müssten in der Riedemannstraße und „Beim Industriehafen“ stehen.

Für den Landesvorstand
Marion Bonk
(stv. Landesvorsitzende)

Weitere Informationen sind zu finden unter: Bremer Friedensforum

Dankesrede Kurt Nelhiebel

24. März 2021

Lasst es nicht wieder geschehen

Dankesrede zur Verleihung des Habenhauser Friedenspreises 2020

Ich bedanke mich herzlich für die Zuerkennung des Habenhauser Friedenspreises, die mir zunächst die Sprache verschlagen hat. Bis auf die Mitgliedschaft in der Vereinigung zum Schutz Flugverkehrs-Geschädigter und einen Vortrag über Auschwitz in der Oberschule am Bunnsacker Weg kann ich nichts vorweisen, womit ich mich für Habenhausen und seine Bewohner nützlich gemacht haben könnte, es sei denn, ich riefe mich als Erfinder der plattdeutschen Nachrichten von Radio Bremen in Erinnerung. Ich bin als Journalist immer nur meinem Beruf nachgegangen, ohne dass meine Umwelt davon sonderlich Notiz genommen hätte. Zumindest war das bis vor einigen Jahren so.

Als es mich nach dem Zweiten Weltkrieg mit einem Antifa-Transport aus der Tschechoslowakischen Republik ins schwäbische Eislingen an der Fils verschlug, staunte der pensionierte Oberlehrer, mit dem ich dort anfänglich beim Wohnungsamt zu tun hatte, dass sich der Neubürger in vier Sprachen  verständigen konnte. Er dachte wohl, ich sei irgendwo fern jeglicher Bildungseinrichtung in den weiten Steppen des Ostens aufgewachsen. Ähnliches erlebte ich später immer wieder, wenn ich die geografische Lage meines Geburtslandes zu erklären versuchte. Da verwechselte schnell jemand Tschechien mit Tschetschenien. Dabei liegt die tschechische Hauptstadt Prag in der Nähe desselben Längengrades, an dem auch Berlin liegt,  also in der Mitte Europas.

Meine politische Prägung erhielt ich durch meinen Vater, der als Sozialist alter Schule  zu jenen zehn Prozent der Deutschen in Böhmen und Mähren gehörte, die sich Hitler nicht in die Arme geworfen haben, als er die Randgebiete der Tschechoslowakischen Republik annektierte. Zur selben Zeit, da die Vertriebenen, darunter auch viele meiner sudetendeutschen Landsleute, 1950  in Bad Cannstatt feierlich die Charta der Heimatvertriebenen verkündeten, saß ich wenige Kilometer davon entfernt in einer Zelle der Haftanstalt Stuttgart und wartete auf meinen Prozess vor einem Gericht der amerikanischen Militärregierung für Deutschland. Ich hatte, wie es in der Vorladung hieß, zusammen mit zwei Jugendfreunden Plakate aufrührerischen Inhalts gegen den kurz davor ausgebrochenen Koreakrieg geklebt und damit die Sicherheit der Alliierten Streitkräfte gefährdet. Die Sache ging aber glimpflich für uns aus.

Damals arbeitete ich als junger Redakteur bei der Stuttgarter kommunistischen Tageszeitung Volksstimme. Meine Karriere bei der Neuen Württembergischen Zeitung in Göppingen, einer  Zeitung ähnlich dem Weser-Kurier, hatte ich mir durch einen Artikel gegen die deutsche Wiederbewaffnung verbaut. Der Liebe wegen verschlug es mich im selben Jahr ins Ruhrgebiet, wo ich beim Zentralorgan der KPD, Freies Volk, landete, dem meine Stuttgarter Gerichtsreportagen aufgefallen waren. Nachdem die Partei 1956 verboten worden war, nahm mich die in Frankfurt erscheinende antifaschistische Wochenzeitung Die Tat in ihre Redaktion auf. Niemand sonst wollte einen wie mich haben. Von dort holte mich neun Jahre später der Chefredakteur von Radio Bremen, Harry Pross, an die Weser.

Der liberale Freigeist, Sohn einer württembergischen Industriellenfamilie, später Ordinarius für Publizistik an der Freien Universität Berlin, sah in meinen kritischen Beiträgen zur Renazifizierung und in meinen Reportagen vom Auschwitz-Prozess eine Bereicherung des Programms. Die Verbindung zwischen Harry Pross und mir ist nie abgerissen. In einem seiner letzten Briefe schrieb er mir:  „Unsere gemeinsame Radio-Bremen-Zeit ist mir eine kostbare Erinnerung. Dabei sein und nicht dazugehören gibt es in vielen Variationen. Es freut mich noch heute, dass ich meinen Personalvorschlag Nelhiebel gegen Intendanz, Personalrat und Rundfunkrat durchsetzen konnte. Vielleicht ist doch was dran, dass nicht der Gesetzesdienst, sondern der Glaube frei macht (Galater 5, 15).Ich habe Ihnen vertraut, und das erwies sich als richtig.“

Den Auschwitz-Prozess, über den ich auch für eine jüdische Zeitung in Wien berichtete, erlebte ich wie einen Alptraum. Fortan sah ich meine Aufgabe darin, der Nachwelt von dem grauenvollen Geschehen in der Todesfabrik zu berichten. Wer nämlich weiß, was dort geschah, ist für immer gefeit gegen Antisemitismus und Rechtsextremismus. Leider war den politisch Verantwortlichen in der Nachkriegszeit die Bekämpfung des Kommunismus wichtiger als die Bekämpfung des Nazismus.

Als  deutsche Polizisten 1952 bei einer verbotenen Kundgebung gegen die Wiederbewaffnung in Essen erstmals gezielt mit scharfer Munition auf  Demonstranten schossen und ein junger Kommunist tödlich getroffen wurde, hielt kaum eine Zeitung das für kommentierenswert. Drei Jahre nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland war die Ausgrenzung dieser  linken Minderheit bereits wieder so weit gediehen, dass angesehene Blätter wie Der Spiegel und Die Zeit davon nicht einmal nachrichtlich Notiz nahmen.  Und heute wundern sich manche über die Zunahme rechter Gewalt. Immer war von Einzelfällen die Rede, bis nach dem Mord am Regierungspräsidenten Walter Lübcke und der Entdeckung rechter Netzwerke bei der Polizei die Eiterbeule platzte

Noch wenige Tage davor hatte sich Jürgen Habermas, der bedeutendste deutsche Philosoph der Gegenwart, an die Verhältnisse während der Weimarer Zeit erinnert gefühlt und dazu aufgerufen, mit der moralisierenden Diskriminierung der Linken Schluss zu machen. Sein Warnruf blieb ohne Echo. Solange CDU und CSU ein Zusammengehen mit der AfD ablehnen, ist mir nicht bange. Ich wünschte, alle, die wegen Corona auf die Straße gehen, hielten es auch so. Zum Glück hat die deutsche Wirtschaft ebenfalls aus der Geschichte gelernt und zeigt den Nachahmern der Nazipartei die kalte Schulter.

Sorgen macht mir das Schweigen der Gewerkschaften. Im Gegensatz zu früher verläuft die öffentliche Debatte über die Gefahr des Antisemitismus und Rechtsextremismus weitgehend ohne sie. Die Gewerkschaften sind die stärkste demokratische Kraft im Lande. Die Feinde der Demokratie müssen wissen,  dass sie bereit stehen, die Demokratie notfalls durch einen Generalstreik zu verteidigen. Wenn die Beseitigung der verfassungsmäßigen Ordnung droht und andere Abhilfe nicht möglich ist, hat laut Grundgesetz jeder das Recht zum Widerstand. Der Initiator des Auschwitz-Prozesses, Fritz Bauer, hatte Recht: Nichts gehört der Vergangenheit an, alles ist noch Gegenwart und kann wieder Zukunft werden.

Der Friede von Habenhausen hat nach den Worten von Pastor Lohse keine großen Visionen entfaltet, aber er habe gehalten und funktioniert. Das sei das Große daran.  Ich wünschte, die Politiker von heute ließen sich davon inspirieren, statt mit erhobenem Zeigefinger ständig die demokratischen Defizite bei anderen zu beklagen. Jeder kehre vor der eigenen Tür. Wohlstand allein  ist kein Kriterium für moralisches Verhalten. Dafür sind die Leichenberge, die Nazi-Deutschland hinterlassenen hat, zu hoch. Ihre Schatten werden noch lange über unserem Weg liegen.

Nicht ohne Grund betonen Bundespräsident Steinmeier und Bundeskanzlerin Merkel immer wieder, dass es einen Schlussstrich unter die deutsche Vergangenheit nicht geben kann. Umso bestürzender, dass eine deutsche Finanzbehörde einer Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes die Gemeinnützigkeit entziehen will, weil sie sich den Ruf der befreiten Häftlinge des Konzentrationslagers Buchenwald nach Ausrottung des Faschismus mit seinen Wurzeln zu Eigen macht. Die Behörde deutet das als Bereitschaft zum Umsturz. Das ist ein Angriff auf  den deutschen Widerstand schlechthin. Dabei war er das einzige Guthaben, das Deutschland 1945 vorweisen konnte. Das Andenken an diese mutigen Frauen und Männer muss in Ehren gehalten werden.

In Frankreich werden alljährlich an einem bestimmten Tag in den Schulklassen letzte Briefe hingerichteter junger Kämpfer gegen den Faschismus vorgelesen, Warum nicht auch bei uns?

Täuschen wir uns nicht. Die gefährliche Sehnsucht nach dem starken Mann und die Bereitschaft zum Vergessen sind größer, als wir denken. Als die Namen der Widerstandskämpfer Sophie Scholl, Graf Stauffenberg und Carl von Ossietzky von den ICE-Zügen der deutschen Bahn entfernt wurden, weil sie angeblich zu viel Platz einnahmen, ließen unsere Meinungsmacher das widerspruchslos geschehen.  Zwanzig Jahre liegt der Schurkenstreich zurück.

Doppelt so lange lebe ich nun schon in Habenhausen hinter dem Deich am Werdersee. Die Zuerkennung des Habenhauser Friedenspreises sagt mir, dass ich hier zu Hause bin und genießen kann, was ich damit verbinde: die friedliche Stille über dem Land nach Sonnenuntergang, die freundlichen Nachbarn,  das verheißungsvolle Rot der aufgehenden Sonne, wenn sie im Morgendunst wie ein Lampion am Himmel hängt, den Klang der  Domglocken bei Westwind, all das und noch etwas  anderes, Kostbares, wonach wir uns ein Leben lang sehnen – Geborgenheit. Auch dafür sage ich: Danke. Verabschieden will ich mich mit einem Gedicht, das am Meer bei Albufeira  während eines Urlaubs mit meiner vor zwölf Jahren verstorbenen Frau entstanden ist.

Heimweh nach Eden

Barmherzig kühlt dein Atem

die Stirn mir, Mutter des Lebens

wenn ich dein gleißendes Ufer betrete

   auf der Haut die Glut

der afrikanischen Sonne, und im Haar den harzigen Duft der Pinien

über den ockerfarbenen Klippen.

An Orangenhainen vorbei

 führte mein Weg mich

 und an schneeweißen Häusern

mit schattigen Lauben.

Feigen sah ich reifen und Oliven

 zwischen silbern schimmernden Blättern.

 Oleander und Hibiskus malte

  leuchtende Sterne mir auf die Netzhaut.

  Und jetzt das unendliche Blaugrün des Ozeans.

  Ach, Mutter des Lebens, dein kühler Atem

 lindert nicht mein Heimweh nach Eden.

Rede zur Kundgebung in Bremerhaven vor dem Stadttheater am 17.10.2020

1. November 2020

Meine Damen und Herren, liebe Freundinnen, liebe Freunde

Wir wollen keine Reichskriegsflaggen und Reichsfahnen, nirgendwo und gerade auf diesem Platz nicht. Und doch werden manche vielleicht fragen: was kann man schon gegen eine Fahne in den Farben Schwarz – Weiß – Rot haben ? Ist es nicht nur ein Stück gefärbter Stoff? Werfen wir einen Blick auf die Geschichte dieser Fahne, wie sie auch hier in Bremerhaveneine Spur von Gewalt und Hass durch die letzten 120 Jahre gezogen hat. Diese Fahne war von 1871 bis 1918 Fahne des Norddeutschen Bundes, des Deutschen Reiches und seiner Kriegs- und Handelsmarine. Wir schreiben das Jahr 1900 Bremerhaven: Kaiser Wilhelm verabschiedet deutsche Soldaten beim heutigen Kreuzfahrtterminal für ein Expeditionsheer nach China unter der Flagge Schwarz- Weiß – Rot mit den Worten:„Kommt ihr vor den Feind, so wird derselbe geschlagen! Pardon wird nicht gegeben! Gefangene werden nicht gemacht! Wer euch in die Hände fällt, sei euch verfallen! Wie vortausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in Überlieferung und Märchen gewaltig erscheinen lässt, so möge der Name Deutscher in China auf 1000 Jahre durch euch in einer Weise bestätigt werden, dass es niemals wieder ein Chinese wagt, einen Deutschen scheel anzusehen!“ Hier sind Kolonialismus, Rassismus und Nationalismus bereits vereint.Wir schreiben das Jahr 1904Dort auf dem Platz steht Bürgermeister Smidt, ihm zu Füßen steht ein Kind im Lendenschurz, das unterwürfig zu dem großen weißen Mann aufschaut:Von Bremerhaven fahren Kriegs- und Handelsschiffe unter der Flagge Schwarz – Weiß – Rot in die afrikanischen Kolonien. Dort sind sie an der Ausbeutung der Ressourcen beteiligt. Deutsche Soldaten sind zwischen 1904 und 1908 verantwortlich für den Völkermord an den Nama und Herero im heutigen Namibia. Ihre Fahne: Schwarz – Weiß – Rot.Wir schreiben das Jahr 1914Unter dieser Fahne versenken deutsche U-Boote im 1. Weltkrieg menschenrechtswidrig neutrale Handelsschiffe und Passagierschiffe. Ein Völkerrecht gibt es noch nicht.1918 /19 mit dem Ende des 1. Weltkrieges endet die Monarchie,die demokratische Weimarer Republik gibt sich die Farben Schwarz – Rot – Gold,Schwarz – Weiß – Rot ist weiterhin die Fahne des deutschen Militärs.Der Versailler Friedensvertrag von 1918 beschränkte die Reichswehr auf 100000 Mann. Daran hat sich Deutschland nie gehalten, es gab die sogenannte Schwarze Reichswehrund es gab viele Soldaten und Offiziere, die nach dem 1. Weltkrieg in Freikorps unter der schwarz-weiß-roten kaiserliche Reichskriegsflagge als Putschisten gegen die neue Weimarer Republik kämpften.Und die zwischen 1919 und 1920 vielfach bei der Niederschlagung der Arbeiter- und Soldatenräte eingesetzt wurdenAuch die Bremer Räterepublik wurde so zerschossen.Unter dem Schlagwort: „Schwarz-Weiß-Rot bis in den Tod!“ wurden zahlreiche Morde wie an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg begangen.Also schon vor 1933 ist diese Flagge missbraucht worden zur Unterdrückung Andersdenkender, Kriegsführung, Rassismus,Völkermord in den deutschen Kolonien, Ermordung von Arbeitern und Gewerkschaftern, Journalisten.30. Januar 1933 Adolf Hitler wird ReichskanzlerSelbst die letzten noch halbfreien Wahlen am 12 März 1933 in Bremerhaven brachten den Nationalsozialisten keine Mehrheit.Im gleichen Monat des Jahres aber wurden Konzentrationslager rund um Bremerhaven eingerichtet, Arbeiterparteien und Gewerkschaften verboten, verfolgt inhaftiert, gefoltert. Mit dem 1. April begann die Diskriminierung und Verfolgung von Juden durch den Boykott jüdischer Geschäfte. Hier auf diesem Platz wurden bereits am 6.Mai 1933, also nur eineinhalb Monate später, Bücher u.a. von Albert Einstein, Carl Zuckmayer, Anna Seghers, Stefan Zweig, Erich Kästner und Kurt Tucholsky verbrannt. Die SA marschierte mit schwarz – weiß – roten Fahnen auf.Der Vorläufer der Nordsee-Zeitung, die Nordwestdeutsche Zeitung, berichtete:„Lustig prasselte die Glut,und immer höher loderten die Flammen gegen den nachtdunklen Himmel.“1935 bestimmten die Nationalsozialisten dann in einem sog. Reichsflaggengesetz:Die Reichsfarben sind Schwarz – Weiß – Rot.Die Reichsflagge ist die Hakenkreuzflagge.In nur wenigen Monaten war jede demokratische Institution beseitigt, unterdrückt und verboten. Der Schwarz – Weiß – Rote Staat zeigte nun auch sein hässliches antisemitisches Gesicht.Am 9. / 10. November 1938, in der Reichspogromnacht, zerstörten sie die Synagoge in der Schulstraße, hier fast in Sichtweite. Zu den Millionen Toten in den Konzentrationslagern kamen wenig später die AbermillionenToten weltweit im 2 Weltkrieg.All dies geschah unter den offiziellen damaligen Reichsfarben Schwarz – Weiß – Rot.Die während der Zeit des Nationalsozialismus eingeführten deutschen Hoheitssymbole wurden nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs durch das erste Kontrollratsgesetz der alliierten Siegermächte vom 20. November 1945 offiziell aufgehoben. Und diese Fahne wollen die neonazistischen Kräfte wieder zeigen?Diese Fahne hat Kriege begleitet.Diese Fahne steht für Völkermord.Diese Fahne steht für die Beseitigung kultureller Vielfalt.Diese Fahne steht für Rassenideologie und das Herrentum der sogenannten deutschen Rasse.Diese Fahne steht für politische Morde.Diese Fahne steht für Verfolgung und Vernichtung Andersdenkender, von Juden, Sinti und Roma, von Homosexuellen.Wer diese Fahne zeigt tritt Frieden, Toleranz, Freiheit und Menschlichkeit mit Füßen.Aber nicht nur das Zeigen der Fahne gehört bestraft, auch ihre Träger gehören bestraft. Diese Fahnenträger stehen in dieser unseligen Tradition der Feme-Morde der Weimarer Republik.Über200 Morde durch Neonazis seit 1990,faschistische Strukturen in Einheiten der Polizei und Bundeswehr, Morde, Brände, und Überfälle werden als Einzeltaten verharmlost.Die Geschichte dieser Fahne zeigt: Keine Verharmlosung neonazistischer und rechter Gewalt!Keine Verharmlosung ihrer parlamentarischen Brandstifter: diese deutsche Geschichte war kein Vogelschiss!Zeigen wir uns offen und solidarisch für Menschen, die durch Flucht und Vertreibung zu uns kommen! Sie sind oft auch Opfer der Spätfolgen einer nationalistischen Kolonialpolitik.Jüdisches, islamisches und christliches Leben und ihre Kultur sind für Bremerhaven eine Bereicherung, keine Verunsicherung.Wir brauchen keine vereinfachenden, populistischen Schnellschüsse. Wir müssen solidarisch den ökologischen Umbau von Wirtschaft und Landwirtschaft schaffen. Mit Ideen aus allen Ländern und Kontinenten, kreativ, bunt und vielfältig, nicht einfältig.

Wilfried Krallmann-Hansen

AntiKriegstag in Bremen

8. September 2020

Für ein Foto zum Antikriegstag 2020 stellten wir uns mit unserem Transparent vor das Wandbild am Bunker an der Admiralstraße in Bremen, das „Den Gegnern und Opfern des Faschismus“ gewidmet ist. Nie sei vergessen, dass die Naziherrschaft dem Ziel einer Neuaufteilung der Welt zugunsten Deutschlands diente, die zum Glück gescheitert ist, aber 60 Millionen Menschen das Leben kostete.  

Das andere Foto zum Antikriegstag 2020 zeigt uns mit unserem Transparent vor das Gebäude von Rheinmetall in Bremen. Rheinmetall ist der größte deutsche Rüstungskonzern. Er konnte im 1. Halbjahr 2020 den Umsatz der Rüstungssparte im Vergleich zum 1. Halbjahr 2019 um 19% und das operative Ergebnis um 75% steigern. Seit über 100 Jahren macht Rheinmetall gute Geschäfte mit dem Krieg und konnte nur nach den zwei verlorenen Weltkriegen für einige Jahre zur Umstellung auf zivile Produkte gezwungen werden. Lasst uns alles dafür tun, dass die nächste Umstellung ohne einen Weltkrieg erfolgt!

Trauerrede für die VVN-BdA von Monika Eichmann

12. August 2020

Abschied und Würdigung von Raimund Gaebelein,

Samstag, 1. August 2020, 14 Uhr, im BLG-Forum (Bremen, Überseestadt, Am Speicher XI/11)

Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Antifaschistinnen und Antifaschisten, liebe Kampfgenossinnen und Kampfgenossen von Raimund Gaebelein!

Der Landesverband Bremen der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten – VVN-BdA, hat euch heute hier eingeladen, um gemeinsam unseres Landesvorsitzenden und unseres Freundes zu gedenken.

Wir trauern um Raimund Gaebelein, der in den frühen Morgenstunden des 28.6. gestorben ist. Seit einigen Wochen ging es ihm nicht gut, aber nur wenige Termine sagte er ab. Um seinen politischen Idealen gerecht zu werden, hat er engagiert immer alles gegeben. Das Arbeitspensum, das er für unseren Bremischen Landesverband absolvierte, hat ihn, auch über seinen Stadtteil Gröpelingen hinaus, zu einer bekannten Persönlichkeit der Hansestadt gemacht.

Ray, wie ihn viele nannten, wurde 1947 in Marburg/Lahn geboren, ging dort zur Schule und machte sein Abitur. Von 1967 bis 1973 studierte er an der Philipps-Universität Geschichte, Politik und Philosophie.  Er wollte Lehrer werden, absolvierte sein Referendariat im hessischen Hünfeld 1977. Dort teilte man ihm mit, dass eine Einstellung nicht in Frage käme – Berufsverbot! Ray war damals Mitglied der DKP…

Er ging für ein Jahr nach Nordirland (Derry) und arbeitete dort mit Obdachlosen als Leiter eines Heimes. Hier entstand seine Liebe zur keltisch-irischen Kultur und Musik.
Vielfältige politische und persönliche Kontakte zwischen Marburg und Bremen brachten ihn dann 1978 in die Hansestadt Bremen. Hier arbeitete er bei Sozialverbänden und freien Trägern als Sprachlehrer und in sozialarbeiterischen Bezügen z. B. mit Schulvermeidern. Noch bis zuletzt unterrichtete er Geflüchtete ehrenamtlich.

Raimund war überzeugter Antifaschist und unermüdlicher Kämpfer gegen das Vergessen. Als Mitglied der VVN BdA wählte man ihn 1994 zum Vorsitzenden der Landes-vereinigung Bremen, als Nachfolger von Walter Federmann und in den Fußstapfen von Willy Hundertmark. Mit ihm gemeinsam entwickelte er auch Konzepte der „antifaschistischen Stadtrundgänge“, die viele hier kennen. Ray war auch Redakteur der Zeitung „Der Bremer Antifaschist“ und hat unzählige Beiträge geliefert.
Ray engagierte sich sehr für das Wohn- und Ferienheim Heideruh.
In Bremen kämpfte er für eine würdige Erinnerung an die Bremer Außenlager des KZ Neuengamme, vor allem die Aufarbeitung der Geschichte des Außenlagers Bremen-Schützenhof war sein Projekt.

Jährlich besuchte Raimund, oft mit Marion, Ulrich und mir, Treffen und Tagungen der Außenlager-Initiativen und -Gedenkstätten des ehemaligen KZ Neuengamme und berichtete dort über Fortschritte oder Schwierigkeiten bei der Entwicklung von Erinnerungsorten für die Bremer Außenlager.

Prof. Dr. Detlef Garbe aus Hamburg schreibt in seinem Nachruf auf der Neuengamme-Homepage: „Wir werden diesen kleinen und doch großen Mann, seine kluge, stille, sanfte, liebevolle und freundliche Art sehr vermissen.“

Als ich Raimund bei Planung der Verlegung von Stolpersteinen in Blumenthal vor ca. 17 Jahren kennenlernte, mit seiner Baskenmütze auf dem Kopf, seinem immer präsenten kleinen Notizbuch, seiner nachdenklichen und klugen Art, ging mir das Bild von Ernesto Cardenal durch den Kopf.

Für meinen Geschichtsunterricht in der Oberstufe verwendete ich z. T. seine Publikationen und lernte so mit ihm, einerseits die Arbeit im Autorenkollektiv für die Schriften-Reihe der „Stolpersteine in Bremen“. Andererseits lernten Marion, Uli und ich mit ihm die Stichting Meensel-Kiezegem `44 in Belgien kennen, zu deren Mitgliedern Ray engen und freundschaftlichen Kontakt hielt. Regelmäßig entstanden so auch in meinem Arbeitsalltag Begegnungen zwischen Zeitzeugen und Schulklassen und Oberstufenkursen.

Unvergessen bleiben unsere gemeinsamen Besuche in Meensel-Kiezegem, wo wir zu Gast bei Freunden waren, z. B. im Sommer 2014 oder letztes Jahr bei der Eröffnung des neuen Friedensmuseums in Meensel. Wir konnten vieles von Raimund lernen. Gegenbesuche der Meenseler, aber auch der Amicale Belge oder der Amicale Francaise de Neuengamme fanden jährlich in Bremen statt und wurden von Raimund stets engagiert begleitet. Auch zu Freundschaften Verfolgten des Naziregimes und Zeitzeugen aus den Niederlanden, wie hier Cees Ruijter pflegte Raimund.

Für die Partei DIE Linke wurde er seit 2003 wiederholt in den Stadtteil Beirat gewählt. Noch in seiner letzten Woche nahm er als stellvertretender Beiratssprecher an der Beiratssitzung in Gröpelingen teil. Raimund hat in seinem „Arbeiterstadtteil“ auch immer „Politik vor Ort“ gemacht parteiübergreifend akzeptiert.
Keine 5 m konnte man mit Raimund in Gröpelingen unterwegs sein, ohne dass jemand rief „Hallo Ray!“

Ray war Knotenpunkt und Stern der antifaschistischen Bewegung und Vernetzung in Bremen. Dabei konsequent, aber nie ausgrenzend, sondern immer versucht zu integrieren, wenn es möglich erschien.

Mit Raimund sind zahlreiche und beeindruckende Gedenkveranstaltungen verbunden, wie „Menschen gegen Rechts“ im Mai 1994 auf dem Bremer Marktplatz, ein Jahr nach dem feigen Mord von Neonazis in Solingen oder die große Demo 2006 gegen den NPD-Aufmarsch in Gröpelingen. Ausstellungen der VVN brachte Raimund in verschiedene Schulen – Kooperationen mit Lehrer*innen entwickelten sich. Die internationale Ausstellung der FIR „Widerstand in Europa“ in der unteren Rathaushalle 2014 war ein Highlight.

2015 erhält Raimund den Franco Paselli Preis der Internationalen Friedensschule Bremen im Bürgerhaus in Vegesack. Eigentlich mochte er kein Aufhebens um seine Person, aber diese Ehrung hat ihn doch gefreut.

 Eines seiner neueren Projekte war die Aufstellung der
Gedenk-Steele zur Erinnerung an den Standort
des ehemaligen Jüdischen Altersheims in Gröpelingen.  

Für Bremen besonders wichtig, war aus meiner Sicht als Geschichtslehrerin, Raimunds konstantes kompetentes Eintreten für das traditionelle Gedenken an die Bremer Räterepublik von 1918/19, ihre Verteidiger, die Kämpfe und Errungenschaften der Arbeiterinnen und Arbeiter. Jedes Jahr organisierte er mit anderen die Gedenkfeiern auf dem Waller Friedhof und das anschließende Kulturprogramm im Westend.

Vielen von uns war Raimund ein guter Freund, hilfsbereit und unterstützend.

Er wird uns unermesslich fehlen.

Die Bremer Landesvereinigung der VVN-BdA – hier bei unserer Jahresauftakt-Versammlung im Januar – wird ohne Raimund nicht mehr dieselbe sein. Wir müssen uns anstrengen und werden doch diese Lücke nicht füllen.

Berthold Brecht sagt: Der Mensch ist erst wirklich tot, wenn niemand mehr an ihn denkt.
Wir behalten ihn unvergessen.

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