Redebeitrag von Lutz Liffers (Kultur Vor Ort e.V.) anlässlich des Jahrestages der Reichspogromnacht am 9.11.2021, Gröpelingen

9. November 2021

Liebe Freund:innen, liebe Mitstreiter:innen,

schon seit einigen Jahren engagieren sich die Nachbar:innen vom Martinsclub alljährlich am 9.11.,
dem Jahrestag der Reichsprogromnacht, auf eine ganz besondere Art für die Erinnerungskultur in
Bremen: Sie putzen die Stolpersteine.
Jene 30 Stolpersteine in Gröpelingen, die an die während der NS-Diktatur verschleppten und  getöteten Gröpelinger:innen erinnern sollen. Wir von Kultur Vor Ort e.V. wollen diese Aktion unterstützen und rufen deshalb schon seit einigen  Jahren auf, in einer gemeinsamen und nachbarschaftlichen Aktion die kleinen Kupferplatten zu  säubern, Blumen nieder zu legen und mit Nachbar:innen ins Gespräch zu kommen. Immer mehr Initiativen unterstützen unterdessen die Aktion: Bürgerhaus Oslebshausen,
Stadtbibliothek West, Geschichtswerkstatt Gröpelingen, ZIS – Zentrum für Migranten und
interkulturelle Studien e.V., SEKU Syrischer Exil -Kulturverein, das QBZ Morgenland und EUROPA
ZENTRAL- Leben im Liegnitzquartier.
Warum rufen wir zu dieser Putzaktion auf? Seit 1991 arbeitet in Bremen der Verein „Erinnern für die Zukunft“, um die Auseinandersetzung mit
dem Nationalsozialismus lebendig zu halten. Der Verein ist in Bremen ein maßgeblicher Initiator für
die Stolpersteine in der ganzen Stadt.
Wir möchten das Motto: „Erinnern für die Zukunft“ erweitern: Wir denken, wir sollten uns Erinnern
für die Gegenwart.
Denn es ist nicht eine ferne Zukunft, vor der wir uns fürchten müssen, sondern es ist die Gegenwart,
in der strukturelle rassistische Gewalt unsere Gesellschaft kennzeichnet.
Ich möchte deshalb heute an einen anderen Jahrestag erinnern. In diesen Tagen jährt sich zum
zehnten Mal ein besonders verstörendes Ereignis:
Vor zehn Jahren, am 4. November 2011, begangen nach einem missglückten Banküberfall zwei
Rechtsterroristen Selbstmord. Die ebenfalls rechtsterroristische Lebensgefährtin der beiden Männer
zündete wie vereinbart das gemeinsame Versteck an, um Spuren zu verwischen – und lancierte,
ebenfalls wie abgesprochen, ein zynisches Bekennervideo an die Polizei – um damit Angst und
Schrecken vor allem unter Migrant:innen zu verbreiten. Darin verherrlicht der „Nationalsozialistische
Untergrund“ (NSU) seine Morde: Elf Jahre konnten Mundlos, Bönhardt und Zschäpe unbehelligt 15
Raubüberfälle begehen, mehrere Bombenanschläge mit Dutzenden Verletzten verüben und zehn
Morde begehen, zumeist an Menschen mit Migrationsgeschichte.
Zu dem Zeitpunkt, als sich die beiden Mörder in einem Wohnwagen selbst erschossen und Beate
Zschäpe sich selbst enttarnte, war die Polizei immer noch damit beschäftigt, die Familien und das
Umfeld der ermordeten Migranten zu verdächtigen. Wie zum Beispiel in Nürnberg:
Das erste Opfer des NSU war Enver Şimşeks. Am 9. September 2000 wurde er an seinem
Blumenstand in Nürnberg von zwei Unbekannten erschossen. Jahrelang hatte die Polizei Şimşeks
Familie selbst verdächtigt, dem Opfer Drogenhandel oder Mafiageschäfte unterstellt, die Polizei
gaukelte der Ehefrau sogar vor, ihr Mann habe eine Geliebte, um Informationen aus ihr
herauszulocken.

Wie konnte es sein, dass die Polizei derart rassistisch verblendet, die rechtsradikale Szene als Täter
elf Jahre und zehn Morde lang gar nicht erst in Betracht zog? Dass ausschließlich die
Familienangehörigen der Migrant:innen verdächtigt und jahrelang immer wieder verhört wurden?
Die Morde des sogenannten „Nationalsozialistischen Untergrunds“ waren kein tragischer Einzelfall.
Die Süddeutsche Zeitung kommt in einer Analyse zu dem Schluss: „Deutlich wurde im Prozess (gegen
Zschäpe, LL) vor allem, wie sehr Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt eingebettet waren in ihrem
rechten Kosmos, dort bewegten sie sich frei wie Fische im Wasser. Nach dem Prozess verschwand
der NSU aus den Schlagzeilen. Die Szene aber blieb.“ (SZ Nr. 252, 30/31.10.2021)
Die Gewalttaten, Morde und Brandanschläge von Gruppen wie Freital in Dresden, Oldschool Society
oder Revolution Chemnitz, die Mordpläne des Bundeswehrsoldaten Franco A, der Prepper Gruppe
Nordkreuz 2016 (die eine Massenhinrichtung von Helfern von Geflüchteten vorbereiteten), der
Rechtsterrorist von München, der 2016 neun jugendliche Migrant:innen und der von Hanau, der
2020 neun Migrant:innen ermordete, der Anschlag gegen die Synagoge in Halle und die Ermordung
des CDU Politikers Lübke, die mindestens 200 Morddrohungen gegen Migrant:innen, Politiker:innen,
Anwält:innen und Menschenrechtsaktivist:innen des sogenannten „NSU 2.0“ … das ist der
permanente Rechtsterrorismus in Deutschland.
Diese Morde, Gewalttaten, Morddrohungen sind die terroristische Spitze eines rassistischen Eisbergs
mitten in Deutschland. Auch die oben genannten Gruppen und Täter bewegen sich in unserer
Gesellschaft wie Fische im Wasser. In den asozialen Medien feuern sie sich gegenseitig an, bestärken
sich und gewinnen weitere Anhänger. Befeuert werden sie von den vergifteten und
demokratiezersetzenden Aktivitäten der AfD und anderer rechtspopulistischer Strömungen.
Die damalige AfD-Fraktionschefin Alice Weidel äußerte sich im Bundestag im Mai 2018 zur
Einwanderungspolitik der Bundesregierung: „Burkas, Kopftuchmädchen und alimentierte
Messermänner und sonstige Taugenichts werden unseren Wohlstand, das Wirtschaftswachstum und
vor allem den Sozialstaat nicht sichern“.
Während die einen also sprachlich die Lunte legen, schreiten die anderen zur Tat. Wenn wir gleich losgehen, die 30 Stolpersteine zu putzen, um der im „Nationalsozialismus“
verschleppten und ermordeten Gröpelinger:innen zu gedenken, dann kann dieses Gedenken erst
dann wirksam werden, wenn wir heute, in der Gegenwart, mitwirken gegen die rassistischen
Strukturen in unserer Gesellschaft.
Struktureller Rassismus benötigt strukturelle Antworten und die finden wir ganz nah, in unserem
Stadtteil, in den Themen, die wir täglich bewegen.
Zum Beispiel: Wir benötigen mehr Mittel und Methoden für eine wirkungsvolle politische Bildung, die junge Leute
zu Wort kommen lässt und Konflikte nicht wegmoderiert, sondern bearbeitet. Nur wenn junge Leute
nicht ein permanentes Gefühl von Ohnmacht entwickeln, sondern Gestaltungsmacht gewinnen,
können sie sich hate speech und Alltagsrassismus entgegenstellen.
Viel aktiver und mutiger müssen wir in der Kinder- und Jugendarbeit die Diskussionen um Rassismus
und Antisemitismus führen. Beides ist allgegenwärtig – auch unter jungen Menschen. In einem
internationalen Stadtteil wie Gröpelingen werden zudem weltpolitische Konflikte schnell zu Erklär-
Hülsen für diejenigen, die sich häufig machtlos und ausgeliefert fühlen. Die Konflikte in Palästina, in
Kurdistan, in Syrien sind für viele in Gröpelingen verbunden mit traumatischen Erfahrungen in der
eigenen Familie. Das kann auch ein Nährboden für rassistische und antisemitische Einstellungen
werden.
Aber machen wir uns nichts vor: Rechtspopulistische und neofaschistische Strukturen sind die
eigentlichen Brandherde einer zunehmenden Vergiftung öffentlicher Diskurse und steigender
rassistisch motivierter Gewalt. Die Bundeszentrale für Politische Bildung schätzt, dass 90% der a
ntisemitischen Übergriffe gegen Juden und Jüdinnen oder vermeintliche Juden und Jüdinnen von
(fast immer männlichen) Rechtsterroristen ausgeht. Wir brauchen deshalb nicht nur entschiedene Maßnahmen gegen Rechts, sondern auch im Vorfeld
Veränderungen im System, damit beispielsweise Kinder mit Migrationsgeschichte nicht mehr wie seit
Jahren im Schulsystem systematisch benachteiligt sind. Wann hört es endlich auf, dass Jugendliche mit schwarzen Haaren und dunklen Augen gefragt
werden, wo sie denn herkämen? Und wenn sie Gröpelingen antworten, die Nachfrage kassieren, wo
sie denn ursprünglich herkämen. Wir benötigen eine entschieden andere Sozial- und Stadtentwicklungspolitik. Und mehr Prävention
auf allen Ebenen, zum Beispiel auch mehr Drogenpräventionsarbeit, damit nicht weiterhin junge aus
dem Maghreb oder dem westlichen Afrika geflüchtete Jugendliche ihre Zukunft als Kleindealer in
Gröpelingen verspielen. Das ist der Sinn von Erinnerungsarbeit. Unser gesellschaftliches System heute zu ändern. Denn
strukturelle Probleme brauchen strukturelle Antworten. Wenn wir jetzt losgehen, an den 30 Stolpersteinen Kerzen entzünden, vielleicht Blumen niederlegen
und die kleinen Gedenksteine sorgsam säubern, dann bitten wir Sie und Euch das Gespräch zu
suchen, mit Passant:innen, mit Nachbar:innn, mit denen, die durch den Abend streifen ins Gespräch
zu kommen und zu erzählen, um was es geht: Um unser gemeinsames Zusammenleben, um
solidarische Nachbarschaften, um die Stärkung des Zusammenhalts, um Ideen, wie Gröpelingen das
große Versprechen auch einlösen kann, das als Schild am Ohlenhofplatz hängt: Stadtteil ohne
Rassismus. Erinnern wir uns heute am 9. November … für die Gegenwart.