Schuld und Verantwortung

4. Mai 2017

Einhundert Jahre nach dem grausamen Höhepunkt des Ersten Weltkriegs erschien letztes Jahr Robert Gerwarths Werk zu den revolutionären Nachkriegswirren 1917-1923. Zu Beginn seiner Einleitung zitiert er aus Ernst Jüngers „Kampf als inneres Erlebnis“ und aus Winston Churchills „Der Unbekannte Krieg“ Passagen, die Chaos und Ergreifen der Macht betonen. In seiner fundierten und kenntnisreichen Studie geht es nicht um eine Wiederaufnahme der Diskussion über die Schuldfrage, die zum Jubiläum heftig umstritten war. Nur am Rande befasst sich seine Untersuchung mit dem mörderischen Krieg selbst. Es geht auch nicht in erster Linie um Deutschland, der zentralen Macht aufseiten der Mittelmächte. Gerwarth befasst sich vielmehr mit dem Ausmaß der blutigen Opfer unter Zivilisten in den neuentstandenen Staaten im östlichen Teil von Mittel- und Südosteuropas in den unmittelbaren Nachkriegsjahren. Dabei will er eine Kontinuität der Gewalt festgestellt haben, die sich durch das gesamte 20. Jahrhundert hindurch ziehe. Die Balkankriege gegen das Osmanische Reich mit seiner Dimension der Vertreibung sieht er als eigentlichen Beginn des Ersten Weltkriegs, der für ihn nicht mehr als eine Krise ist.
Gerwarth untersucht zwei gleichzeitig erwachsende Vorstöße auf grundlegende Veränderungen, nationale Selbstbestimmung ethnischer Minderheiten in den großen Mehrvölkerstaaten wie Österreich-Ungarn, dem Zaristischen und dem Osmanischen Reich zum einen und das Verlangen nach einer grundlegenden revolutionären Umwälzung der politischen und sozialen Situation, ausgehend vom bolschewistischen Russland. In den westalliierten Friedensverträgen mit den Mittelmächten sieht er die Grundlage für eine fortdauernde gewaltsame Veränderung der europäischen Landkarte. In den revolutionären Veränderungen der unmittelbaren Nachkriegszeit sieht er ein wesentliches Moment für die Instabilität der gesamten Region. Die Zahl der zivilen Opfer im Gebiet zwischen Finnland und dem Kaukasus schätzt er deutlich höher als die Zahl der Weltkriegstoten. Aufgrund der Verrohung durch einen ungeheuren Materialkrieg stellt er eine immense Radikalisierung in der politischen Auseinandersetzung fest. In den unmittelbaren Nachkriegsjahren habe die Art des Umgangs mit nichtweißen Kolonialvölkern auch in dem Gebiet zwischen Finnland und dem Kaukasus Einzug gehalten. Die Dynamik der Forderungen nach nationaler Selbstbestimmung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts liegen außerhalb seines Untersuchungsfeldes. Gerwarth bedauert die Auflösung der seiner Meinung nach stabilen Mehrvölkerstaaten. Rechtssicherheit und Stabilität sieht er auch in den Jahren nach 1923 nicht in demselben Umfang wie in der Vorkriegszeit gegeben.
Robert Gerwarth, Die Besiegten. Das blutige Ende des Ersten Weltkriegs, Siedler Verlag München Januar 2017, 480 Seiten, 29,99 Euro, ISBN 978-3-8275-0037-3