Weg zum Denkort

24. November 2015

Vom 26. bis 28. November 2010 trafen sich rund 20 Menschen am Bunker Valentin. Sie waren daran interessiert an einer zukünftigen Gedenkstätte als Guide BesucherInnen zu führen… Die Überreste der beachtlichen Anzahl von Gefangenenlager war fußgängig nicht erreichbar – soweit sie überhaupt freigegeben waren. Der größte Teil des Bunkers („Ruinenteil“) durfte aus Sicherheitsgründen nicht betreten werden… Trotz allem blieb ein ansehnliches Programm übrig, woraus die Guides in Kleingruppen die ersten Entwürfe eigener Führungen entwickelten. Am 8. Mai 2011 wurde der „Denkort Bunker Valentin“ provisorisch eröffnet… Die Reaktion meiner BesucherInnen war unterschiedlich. Die meisten wirkten hoch interessiert an dem, was ich Ihnen präsentierte. Die Behandlung und das Schicksal der Zwangsarbeiter ließ kaum jemanden kalt…
Durchgeführt wurden ein- oder mehrtägige Seminare mit anderen Trägern. Es fanden internationale Workcamps statt mit Ausgrabungen an den Fundamenten der Betonmischer auf der Nordseite statt. Baulich waren die letzten ca. 18 Monate vor der endgültigen Eröffnung entscheidend… Das Projekt „Denkort Bunker Valentin“ ist aber alles in allem mehr als gelungen…
Auszug BAF 12.15/01.16

Müde, eine Lüge zu leben

16. November 2015

Sage Singer, eine 25-jährige, jüdisch-polnische Bäckerin, lebt in Westerbrook, einer nordost-amerikanischen Kleinstadt nahe der kanadischen Grenze. Ihren Vater verlor sie mit 19, ihre Mutter bei einem Autounfall, bei dem sie am Steuer saß. Seither lebt sie bei ihrer Großmutter Minka, die Auschwitz überlebte. In der Trauergruppe, die Sage seit dem Tod ihrer Mutter vor drei Jahren jede Woche besucht, lernt sie Josef Weber kennen, einen über 90-jährigen Deutschlehrer und Sporttrainer. Sage kommt ihm beim gemeinsamen Schachspiel näher. Er zeigt ihr ein Foto von sich in SS-Uniform und bittet sie, ihn sterben zu helfen und ihm zu vergeben. Verstört geht die junge Bäckerin zur Polizei und gelangt über Umwege zu Leo Stein und Genevra Astanopoulos von der Abteilung für Menschenrechte und Sonderermittlungen beim Justizministerium.
Zu unwahrscheinlich erscheint das, was Sage Singer erzählt. Ein Josef Weber ist in den Unterlagen nicht zu finden. Ein unbeschriebenes Blatt. Sage vernachlässigt ihre Arbeit und ihre wenigen sozialen Kontakte, um mehr über Josef Webers Vergangenheit herauszufinden. In seiner Hoffnung auf Vergebung nennt er ihr seinen wahren Namen, Reiner Hartmann, geboren am 12.04.1918. Und er vertraut ihr sein Leben an. Über die Hitlerjugend und die Wewelsburg gelangen sein Bruder Franz und er in die SS-Kameradschaft, über die Junkerschule in Sondergruppe und Totenkopfeinheit. Das gnadenlose Töten von Frauen und Kindern lernt Reiner Hartmann Ende September 1939 beim Pogrom in Chodziez im besetzten Polen. Über den Einsatz in der Ukraine kommt er nach Auschwitz und wird Leiter des Frauenlagers in Birkenau.
Leo Stein verifiziert Einzelheiten von Josef Webers Schilderungen und kann nach Ausräumung einiger Hindernisse Sage Singers Großmutter Minka befragen, die als Kind mit ihrer Mutter im Frauenlager von Auschwitz war. Aus einer Fotoreihe identifiziert sie den Mann, der die beste Freundin ihrer Mutter erschoss, die Zeugin eines Diebstahls des eigenen Bruders in seinem Dienstzimmer war. Er selbst hatte seine schützende Hand über Minka gehalten und sie als Vorleserin einer von ihr selbst verfassten mystischen Erzählung in seinen Arbeitsräumen beschäftigt. Josef Weber hat einen Zusammenbruch. Im Sterben erzählt er Sage Singer, warum er ihre Großmutter Minka hatte erschießen wollen und stattdessen ihre beste Freundin tödlich traf. Seinem Bruder Reiner sollte ihre Beziehung verborgen bleiben. Vor der Selektion konnte er sie retten, indem er sie krankenhausreif schlug und auf Todesmarsch in Richtung Groß-Rosen schickte. Sie konnte fliehen und bei Bauern untertauchen, wurde verraten, auf Transport geschickt und schließlich in Bergen-Belsen befreit.
Konnte ein SS-Mann wirklich auf Vergebung für einen Mord hoffen, den er begangen hat? Schuldig war er an der Beteiligung am systematischen Massenmord an ganzen Bevölkerungsgruppen aus rassistischen Gründen. Josef Weber wollte sein Gewissen erleichtern, ohne zu bereuen, im Wissen, dass er sich in Verbrechen verstrickt hatte. Vergebung hätte er sich allenfalls von Großmutter Minka erbitten können. Unzählige Zufälle bestimmten über Sterben oder Überleben in Ghetto und KZ. Überleben gelang nicht immer ohne den Tod anderer miterleben zu müssen. Jodi Picoult stellt den dünnen Grat zwischen Mitverantwortung und Überlebenswillen in extremen Ausnahmesituationen auf den Prüfstand.
Jodi Picoult, Bis ans Ende der Geschichte, C. Bertelsmann Verlag München, 554 Seiten, 19,99 Euro, ISBN 978-3-570-10217-6

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Aber es war Leere

16. November 2015

Eine 86-jährige Regisseurin und Drehbuchautorin Marceline Loridan zieht in einem Brief an ihren Vater Bilanz. Sie erinnert sich ihres Tagebuchs, in dem, sie ihre innersten Gedanken vor der Deportation festhielt. Mit 15 wurde sie mit ihm kurz vor der Befreiung nach Auschwitz verschleppt. Er kam auf dem Todesmarsch um, ihr half sein Vertrauen zu überleben. Ihre Fröhlichkeit habe sie bewahrt, „trotz allem, was uns widerfahren ist“. Sie verspürt den Verlust, ihr steht seine letzte Botschaft vor Augen, auf einem beschriebenen Papierstückchen, hineingeschmuggelt ins Frauenlager über den Lagerelektriker. Für Tomate und Zwiebel, die er ihr bei ihrer letzten Begegnung auf dem Weg zur Krematoriums-Baustelle zustecken konnte, nahm sie die Schläge des SS-Aufsehers in Kauf. Sie erinnert sich des erbitterten Kampfs ums Überleben, den sie mit ihrer Tätigkeit in der Kleiderkammer und dem Beerdigungskommando gewann.
Sie ging auf Transport, über Bergen-Belsen nach Theresienstadt, wo sie von der Roten Armee befreit wurde, von dort zurück nach Bollène. Nach ihrer Rückkehr suchte sie Überlebende ihrer Familie, in ihren Gedanken durchlebt sie Auschwitz stets aufs Neue. Ihre nächsten Angehörigen erlebten eine kurze Frühlingszeit, verstarben aber schon sehr früh. Bindeglied blieb der Vater. Die amtliche Todeserklärung machte seinen Tod so endgültig. Sie versucht es in einem Film einzufangen. Vergeblich bemüht sich Marceline Loridan, bei einem Besuch in Auschwitz verlorene Spuren wiederzufinden. Alles kam in ihr wieder hoch. Aber es war Leere. Paris wird ihr Lebensmittelpunkt, sie setzt sich ein für ein gemeinschaftliches Zusammenleben.
Marceline Loridan-Ivens, Und Du bist nicht zurückgekommen, Insel Verlag Berlin 2015, 110 S. 15 Euro, ISBN 13: 9783458176602

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Ein enthüllendes Arbeitsjournal

16. November 2015

Die Lektüre lohnt, dies sei der Besprechung ausdrücklich vorangestellt, handelt es sich doch um ein Buch von höchster Aktualität und zugleich von besonderer Art, das Ulrich Sander den bisher von ihm verfassten oder herausgegebenen Publikationen folgen ließ. Wer des Verfassers unermüdliche und konsequente antifaschistische Tätigkeit kennt, wird weder vom Thema noch von den eindeutigen Fragestellungen und Aussagen überrascht sein. Diese gelten jener unrühmlichen Wiedergutmachungs- und Erinnerungspolitik, die in Bundesdeutschland regierungsoffiziell betrieben worden ist und betrieben wird. 55 Jahre mussten vergehen, bevor die Zwangsarbeit – nach Schätzungen geleistet von etwa 20 Millionen Menschen – als nationalsozialistisches Unrecht offiziell in einem Gesetz anerkannt wurde.
Soeben, im Jahr 2015, war zu erleben, wie mühselig gekämpft werden musste, um die juristische Klausel „Kriegsgefangenschaft begründet keine Leistungsberechtigung“ unwirksam werden zu lassen und die wenigen noch lebenden sowjetischen Kriegsgefangenen entschädigen zu können. Ebenso mühselig war es auch am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts gewesen, eine Entschädigung für die ausländischen Zwangsarbeiter zu erreichen. Bei deren Versklavung und menschenunwürdiger Ausbeutung hatte es sich um eines der schwersten Verbrechen deutscher Faschisten gegen die Menschheit gehandelt, doch Politik und Wirtschaft wollten sich ihrer Verantwortung entziehen. Erst erheblicher Druck schuf rund 50 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg Veränderungswillen. Der ungewisse Ausgang zahlreicher Sammelklagen auf Entschädigung, die von ehemaligen Zwangsarbeitern in den USA eingereicht worden waren, sowie die in Deutschland aufflammende politische Diskussion führten im Jahre 2000 zur Gründung der „Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“. Für diese sollten mehrere Milliarden DM aufgebracht werden, zu gleichen Teilen von Industrie und Bund; allerdings wären die Unternehmer – wie Thomas Kuczynski berechnete – zum Zahlen des Achtzehnfachen verpflichtet gewesen. Unter der Voraussetzung, dass alle Klagen vollständig zurückgenommen werden, durften schließlich ehemalige Zwangsarbeiter in fünf osteuropäischen Staaten sowie in Israel und in den USA Anträge auf Entschädigung stellen. Nicht nur die den Deutschen zugesprochene besondere Gründlichkeit verlangte dafür erheblichen bürokratischen Aufwand und vielerlei Recherchen: Antragsteller hatten Nachweise vorzulegen, die zu beschaffen unheimlich viel Aufwand erforderte, Listen mussten erarbeitet und Betriebe ausfindig gemacht werden, die Zwangsarbeiter beschäftigt hatten …
Das alles bietet den geschichtlichen Hintergrund des hier vorzustellenden Buches. Sein Verfasser wirkte, beginnend am 2. Mai 2000 und endend im November 2001, als Nutzer einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme zur Erforschung der Zwangsarbeit in der südwestfälischen Stadt Lüdenscheid – dies trotz mancher Widerstände erfolgreich. In Form eines Tagebuches beschreibt er die eigene Tätigkeit, seinen Einzug ins Rathaus, seine Ansprech- und Verhandlungspartner, seine Schritt für Schritt vorgelegten Ergebnisse. Am Ende lagen 7 462 Kurzbiografien von Zwangsarbeitern in Lüdenscheid und Umgebung vor, die in Datenbanken zusammengefasst zudem diverse statistische Analysen erlauben. Nicht ohne berechtigten Stolz darf Sander am Ende schreiben, dass nur wenige deutsche Städte über eine aus den vorhandenen Quellen erarbeitete Materialsammlung verfügen (S. 210). Vermutlich konnten auf der Grundlage der Lüdenscheider Recherchen etwa 1.500 Überlebende eine Entschädigung erhalten.
Mehrere Darstellungsstränge des Bandes sind ineinander verwoben, ebenso aufschlussreich wie kunstvoll … ein Teil anstelle einer Gesamtheit von Vorgängen: Diesem Motto folgt Sander geradlinig und konsequent. Eine der roten Linien seiner Darstellung gilt den Eintragungen in ein Tagebuch. Hier wird akribisch erfasst, was wann und wie zu tun erforderlich gewesen und was jeweils erreicht worden ist. Da erscheinen mitunter Details, die sonst kaum Eingang in historische Darstellungen finden, die jedoch alltägliche Mühen und kleingeistige Querelen drastisch erhellen. Eingebettet in die Tagesberichte tauchen Briefe, Ausschnitte aus Zeitungsartikeln und anderen Dokumenten auf. Das verleiht der Darstellung über weite Strecken dokumentarischen Charakter. Beschrieben werden ebenso Zustände und Verbrechen in einigen Arbeits- und anderen Lagern, gestützt vor allem auf die Publikationen von Gabriele Lotfi und anderer Autoren. Eingestreut sind auch bemerkenswerte Ausführungen zu den Schicksalswegen einzelner Zwangsarbeiter, zu denen jedoch der titelgebende, aber eher symbolisch angeführte „Iwan“ nicht gehört. Längere Untersuchungen sehen sich dem spurlosen Verschwinden von 118 montenegrinischen Zwangsarbeitern gewidmet, das offensichtlich zu jenen mörderischen, von NSDAP-Gauleiter und Reichsverteidigungskommissar Albert Hoffmann in den letzten Kriegswochen angeordneten Verbrechen gehört. Die Agonie der Naziherrschaft sah sich drakonisch ergänzt durch einen opferreichen Durchhalteterrorismus. Mit diesem sollte weniger der propagierte „Endsieg“ gewährleistet werden, eher ging es um das Verwischen von Spuren sowie um Versuche, das Überleben von ausbeutungsgierigen Großindustriellen und führenden Nazis in den erwarteten Kämpfen befreiter Zwangsarbeiter zu sichern. Immer wieder finden sich in die Tagebuchnotizen eingestreute allgemeine Betrachtungen. Sie entstammen zumeist den in jener Zeit gehaltenen Vorträgen oder publizierten Artikeln des Verfassers. Darin setzt sich Sander ständig mit den unterschiedlichsten, zum Teil auch unsinnigen „Argumenten“ auseinander, denen zufolge es überflüssig oder gar falsch wäre, Entschädigungen zu zahlen. Erhellt wird vor allem Inhalt und Charakter der Forderung, dass endlich ein „Schlussstrich“ gezogen werden müsse.
In seinem Nachwort mit dem Titel „Zehn Jahre danach: Keine Anklage gegen die Quandts und Co.“ berichtet der Verfasser von den leider erfolglosen Bemühungen, eine Mahntafel an einem Gebäude anzubringen, das früher der Familie Quandt gehörte. Damit sollte auf die verhängnisvolle Rolle von Wirtschaftskreisen im Dritten Reich bzw. im Zweiten Weltkrieg hingewiesen werden. Ferner wird ausführlich ein Vortrag referiert, den Thomas Kuczynski am 8. Mai 2011 im Rückblick auf die Entschädigungsdebatte gehalten hat. Das Resümee: „Ablass zu Ausverkaufspreisen“ …
Ulrich Sander, Journalist und Bundessprecher der VVN-BdA, versteht seine Recherchen als „kleinen Ausschnitt aus einer leider noch nicht geschriebenen großen Anklageschrift gegen die Täter“ und fühlt sich dem bekannten Schwur der befreiten KZ-Häftlinge von Buchenwald verpflichtet, die den Kampf erst entstellen wollten, „wenn auch der letzte Schuldige vor den Richtern der Völker steht“ (S. 17). Folgerichtig lautet der letzte Satz des lesenswerten Buches: „Das Ringen um Gerechtigkeit geht weiter.“ (S. 237) Die Schlussfolgerung, die er aus dem beschämenden Verhalten deutscher Großunternehmer in den Auseinandersetzungen um die Entschädigung der Zwangsarbeiter zieht und seiner Publikation gleichsam voranstellt, lautet: Ohne Wirtschaftsdemokratie wird es auf die Dauer keine Demokratie mehr geben, wie es auch „ohne die Einschränkung von Rüstungskonzernen und Rüstungsexporten“ keinen Frieden geben könne (S. 13).
Ulrich Sander: Der Iwan kam bis Lüdenscheid. Protokoll einer Recherche zur Zwangsarbeit. PapyRossa Verlag Köln 2015, 237 S. 15,90 € ISBN 978-3-89438582-8
Prof. Manfred Weißbecker (Jena)

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Zum Jahresauftakt

16. November 2015

Liebe Kameradinnen und Kameraden, liebe Friedensfreunde, liebe Leser des „Bremer Antifaschist“,
Das Neue Jahr wollen wir gemeinsam am Sa., den 16. Januar 2016, um 15 Uhr in den Räumen der Geschichtswerkstatt Gröpelingen, Liegnitzstraße 61, beginnen. Wer einen Kuchen oder eine Torte backen kann, möchte sich bei uns im Büro melden. Wer abgeholt werden möchte, sollte ebenfalls kurz bei Marion unter 0152 0944 1358 Bescheid geben.
Auch danach gilt es wieder kräftig anzupacken, sich eingehend zu informieren und zu diskutieren. Gelegenheit dazu bietet sich ( Ausstellung) im Gedenken an die Verteidiger der Bremer Räterepublik am 14. Februar auf dem Waller Friedhof. Verstärkt sollten wir uns bemühen als die Erben der Widerstandsgeneration ihr Wirken, ihre Ideen, ihr Handeln wieder an breitere Kreise der Öffentlichkeit, an Jugendliche, an Menschen heranzutragen, denen die Entwicklung in eine kalte, menschenfeindliche Gesellschaft Sorgen bereitet, die Freiheit nicht mit dem Verzicht auf Gerechtigkeit und Gleichheit erkaufen wollen. Erneut wird versucht Kräfte auszugrenzen, die sich gegen eine Aushöhlung der Demokratie und verstärkte Militarisierung der Gesellschaft zur Wehr setzen. Mit Diffamierung und Zurücksetzung des Antifaschismus sollen die Erben des Widerstands erneut delegitimiert werden. Die Rehabilitierung der Opfer des Kalten Kriegs ist jetzt absolut notwendig.
der Landesvorstand

Täter und Opfer

16. November 2015

Unter dem Titel „Erinnerungskultur und Vergangenheitspolitik“ tagte die „Stiftung niedersächsische Gedenkstätten“ am 09.-11. Oktober in Hannover. 94 TeilnehmerInnen verfolgten diese fachwissenschaftliche Tagung mit zwölf ReferentInnen und einer Exkursion. Prof. Dr. Norbert Frei (Jena) zog in einem ausführlichen Eingangsreferat Bilanz zu 70 Jahren Veränderung im Geschichtsbewusstsein…

Prof. Dr. Constantin Goschler (Bochum) zeigte anhand der Wiedergutmachungspolitik seit 1945 auf, wie schwer sich Politik, Justiz und Verwaltungspraxis über Jahrzehnte taten, Opfer des Faschismus zu würdigen. Wiedergutmachungspolitik ließe sich vor allem anhand der Schritte zur Wiedereingliederung der Bonner Republik in die internationale Gemeinschaft ablesen…

Der Vortrag von Dr. Christoph Rass (Osnabrück) bot eine kritische Auseinandersetzung mit Vergangenheit und Geschichtspolitik. Bis hin zur Neubewertung der Ehrung von Honoratioren in Politik und Wirtschaft, zeigte er Ergebnisse historisch-kritischer Nachforschungen anhand von Lebensläufen „verdienter“ Personen in Behörden und Diensten im Laufe der Jahrzehnte, bis hin zum BND…

Die Exkursion am Samstagnachmittag führte die TeilnehmerInnen in die Rosebusch – Verlassenschaften, wo die Künstlerin Almut Breuste durch die gemeinsam mit ihrem verstorbenen Lebensgefährten entwickelte Kunstinstallation einführte…

Die Stiftung niedersächsische Gedenkstätten hat eine hochkarätige Tagung gestaltet, die vor allem geprägt war von einer Auseinandersetzung um die Interpretation der Einschätzung des Charakters der Befreiung vom Faschismus in der heutigen Gesellschaft, der Vorstellung on jüngsten Forschungsergebnissen und der Vorstellung der Gedenkstättenarbeit der nächsten Zeit…

Auszug BAF 12.15/01.16

Mit Wehmut und Trauer gedenken wir der Toten!

16. November 2015

Am Sonntag, den 13. September, fand um 11.30 Uhr auf dem Friedhof in Osterholz unser traditionelles Gedenken an die Opfer von Fashismus und Krieg statt. Unser Kamerad Jörg Wollenberg war wegen eines Vortrags in Charkow verhindert, an seiner Stelle trug Gerald Schneider seine Gedenkrede vor. Jörg wies darin auf die Kampfgemeinschaft gegen den Faschismus hin, die sich schon vor der Befreiuung zusammengefunden hatte…
Jörg plädiert vehement für eine Aufarbeitung der „nur partiell realisierten Hoffnungen von 1945… Was wurde aus dem Schwur von Buchenwald, was wurde aus der von allen Parteien der ersten Stunde (außer der FDP) getragenen Ablehnung des Kapitalismus? Welche Bedeutung gewann das politisch-pädagogische Prinzip der Umerziehung für die politische Kultur der Deutschen? Was wurde aus dem Bekenntnis, dass kein Deutscher je wieder zur Waffe greifen sollte? Was wurde aus der Forderung nach Entmilitarisierung Deutschlands und Euiropas und der Beendigung jeglicher Rüstungsproduktion? Was ist von den Neuordnungsvorstellungen der Gewerkschaften vor 1945 geblieben? …“
Mit ihren leidenschaftlich vorgetragenen französischen, griechischen und jiddischen Widerstandsliedern trug Aline Barthélémy dazu bei, dass der Auftrag des Gedenkens, mahnende Verpflichtung zu sein, die kleine Gruppe von ZuhörerInnen in Bann schlug.. Auszug BAF 12.15/16

Gedenken an die Pogromnacht 1938 und die Deportationen 1941/42

8. Oktober 2015

Der Beirat ruft Gröpelingerinnen und Gröpelinger auf sich am Montag, den 9. November, um 17 Uhr am ehemaligen jüdischen Altenheim an der Gröpelinger Heerstraße 167 an einer Mahnwache zum Gedenken an die Opfer der Pogromnacht November 1938 zu beteiligen. Letztes Jahr beschloss der Beirat Gröpelingen ihre Namen auf einer Stele festzuhalten. Mit Unterstützung des Beirats Gröpelingen, der Bürgerstiftung Bremen, des Vereins Erinnern für die Zukunft und der VVN-BdA Bremen wird diese Stele am 9. November eingeweiht. Es sprechen von Beiratsseite Barbara Wulff und Raimund Gaebelein. Unverhohlene Billigung des Völkermords in Auschwitz, Zerstörung und Schändung jüdischer Grabmäler, Brandanschläge der vergangenen Monate zeigen deutlich, dass Wachsamkeit gegen jede Form von Rassismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit nach wie vor geboten ist. Mit dieser Mahnwache soll aller Opfer faschistischen Terrors hier in unserem Stadtteil gedacht werden. Im Anschluss sind alle Interessierten eingeladen zu einer Lesung mit dem Bremer Schriftsteller Johann-Günther König aus Josef Kasteins 1927 erschienenem Roman „Melchior“ über den Generationswechsel in einer Kaufmannsfamilie in der Contrescarpe und einer Handwerkerfamilie in Walle. Die Lesung findet gegen 17:45 Uhr im Quartiersbildungszentrum Morgenlandstraße statt.

Die Stele aus Glas zeigt das Portrait Dr. Leopold Rosenaks, der mit seinen Spendensammlungen den Ankauf und Umbau des Hauses ermöglicht hatte.

„Erbaut 1904, entstand in diesem Haus auf Initiative von Rabbiner Dr. Leopold Rosenak (1868-1923) das Jüdische Altersheim, 1925 eingeweiht und gedacht für 25 Heimbewohner.
In der Reichspogromnacht vom 9. Auf den 10. November 1938 überfielen SA-Männer das Haus und misshandelten die hier lebenden Menschen.
In den folgenden Jahren musste das Altersheim immer mehr Menschen aufnehmen, die hier bis zu ihrer Deportation in drangvoller Enge lebten.
Wenige Bewohner wurden schon 1941 deportiert, die meisten jedoch 1942 in das Ghetto Theresienstadt. Sie erlagen den Entbehrungen im Ghetto oder wurden in den Vernichtungslagern Treblinka und Auschwitz ermordet.“
Es folgen die 77 Namen der von hier deportierten Bewohner.

Rede zum Gedenken an die Opfer von Faschismus und Krieg

21. September 2015

Sonntag, den 13. September um 11.30 Uhr auf dem Feld K des Osterholzer Friedhofs in Bremen-
Schon vor Ende des Krieges hatten sich Bremer Frauen und Männer zusammen gefunden, um ein „Sofortprogramm“ zur Neuordnung Deutschland vorzulegen. Sie veröffentlichten ihr Programm am 6. Mai 1945 im „AUFBAU“, dem Organ der Kampfgemeinschaft gegen den Faschismus, – aus Mangel an eigenem Papier gedruckt am Wall im ehemaligen „Reinold-Muchow-Haus“ auf dem Papier der Deutschen Arbeitsfront, Gauverwaltung Weser-Ems, Kreisverwaltung Bremen. Erst am 19. September 1945 erschien die erste Ausgabe des „Weser Kuriers“ (WK); auf der ersten Seite mit einem Bericht über „eines der blutigsten Kapitel der Naziherrschaft: Der Belsen–Prozess hat begonnen“. Jeden Tag berichte damals Axel Eggebrecht im NWDR über diesen ersten Kriegsverbrecherprozess in Deutschland, ein eindrucksvolles Dokumente der Nachkriegsgeschichte. (nachgedruckt in Wollenberg (Hg.), Von der Hoffnung aller Deutschen. Wie die BRD entstand, 1991, S.126-137)
„Mit Wehmut und Trauer gedenken wir der Toten!“ Das schrieb der Aufbau, das Organ der Bremer Kampfgemeinschaft gegen den Faschismus, in seiner ersten Ausgabe am 6. Mai 1945, und das zwei Tage vor der bedingungslosen Kapitulation. „Ihr sterben soll uns Gelöbnis sein, eine Welt zu bauen, die eine Wiederkehr dieses Wahnsinns unmöglich macht, in der für preußischen Militarismus und nationalsozialistische Weltherrschaftspläne und Überheblichkeit kein Raum mehr ist“.
Zwei Monate später, auf der Juli Tagung der KGF, eröffnete einer der wichtigen Bremer Männer der ersten Stunde, der einst einflussreiche Schul-und Kulturpolitiker Hermann Lücke, die zentrale Monatssitzung der KGF im Arbeitsamt erneut mit einer Totenehrung: „Bevor wir zur Tagesordnung übergehen, möchte ich einer Ehrenpflicht genügen. Wir haben in diesen 12 Jahren des Nazi-Terrors viele unserer besten verloren. Sie sind in den Konzentrationslagern, Gefängnissen und Zuchthäusern zu Tode gequält worden. Sie sind verhungert, haben gelitten und nicht nur Sie, die aus unseren Reihen hervorgegangen sind, sondern auch diejenigen, denen ihre Rasse, ihr and Volkstum zum Verhängnis wurde und denen wir uns brüderlich nahe wissen. Ihr Leiden und Sterben ist uns Mahnung und Verpflichtung. Ich möchte Euch bitten, Euch an gedenk dieser Toten von den Plätzen zu erheben.“ So das Gelöbnis von 1945. Was ist daraus geworden?
PS: Lassen Sie mich dazu vorweg meine heutige Abwesenheit erklären und entschuldigen: Denn ich befinde mich zur Zeit in der Ukraine: Hier sollte ich 1943 eingeschult werden – auf dem Kriegsschauplatz mit den größten Opferzahlen und Massenmorden. Heute bin ich auf dem Weg, um an der Feier zum 25. Jahrestag der von mir mit initiierten Städtepartnerschaft Charkow-Nürnberg teilzunehmen. Ich werde dort auch im „Nürnberger Haus“ an Bremer NS-Raubzüge erinnern. Denn die Reichswehr, unterstützt von den Polizeibataillonen der Hansestädte, bereitete damals den Bremer Pfeffersäcken den Weg auf den Raubzügen gen Osten. Schon im 1. Weltkrieg waren sie daran beteiligt, – mit Ludwig Roselius als Vorreiter. Die Gemeinschaftsgründung des Tabakhandels und der deutschen Zigarettenindustrie errichtete u.a. unter Federführung Bremens eine Niederlassung in Kiew. Die Kaufleute halfen dabei, die sowjetische Landwirtschaft auszuplündern, Wehrmacht und Okkupationsbehörden mit Agrarerzeugnissen zu beliefern und den Weitertransport von geraubten Waren ins Reich durzuführen. Mit dafür zuständig war mein Vater – als „Sonderführer“ in Zivil.
Auch diese „Erfolge“ beruhten mit auf den Formen der polizeilich-militärischen Kollaboration und den von den Sonderkommandos der SS befehligten Selbstschutz –Kompanien in der Ukraine, unterstützt dabei von einheimische Verwaltungskadern. Schon damals war die Ukraine gespalten zwischen Stalin- und Hitler-Anhängern. Das Ausschweigen der rigorosen Ausplünderungspraktiken und das Wissen von Mordaktionen gehört bis heute zu den kollektiven Mechanismen der Verdrängung. Nach wie bleibt es eine ungelöste Aufgabe, Funktion und Rolle der deutschen Einsatzfirmen der Zentralen Handelsgesellschaft Ost aufzuarbeiten, die mehr als eine halbe Million Arbeitskräfte aus der SU schamlos ausbeuteten, ohne dass bislang für eine Wiedergutmachung der Überlebenden gesorgt wurde. Ganz zu schweigen von jenen Bremer Firmen, die nach den Luftangriffen Teile der Produktion in die besetzen Länder umsiedelten. Der Bremer Focke-Wulf-Flugzeugbau mit dem Großaktionär Roselius errichtete z.B. ein großes Werk in der Nähe vom KZ Stutthof bei Danzig. Der Weser –Flugzeugbau errichtete im Sudentenland bei Rabstein (Böhmisch-Kamnitz) einen Zweigbetrieb, in dem 650 Häftlinge Stollen für den Flugzeugbau in das Gebirge treiben mussten. Und die Firmenleitung forderte außerdem den Bau eines Barackenlagers als Außenlager des KZ Flossenbürg.
Das heutige Charkiw, die mehrfach von deutschen und sowjetischen Truppen überrollte Metropole der Ostukraine, hatte im Februar/März 1942 einen der ersten deutschen Massenmorde an der jüdischen Bevölkerung erlebt (Babi-Jar). Und es ist kein Zufall, dass die Stadt schon im Dezember 1943 den ersten öffentlichen Kriegsverbrecherprozess gegen eine Reihe deutscher Offiziere der SS, des SD und der deutschen Geheimen Feldpolizei erlebte. Sie wurden wegen abscheulicher Grausamkeiten an der ukrainischen Bevölkerung überführt und am 18.12 1943 wegen Mordes zum Tode verurteilt und einen Tag später in der völlig zerstörten Stadt gehängt. Dieser bis heute wenig bekannte Prozess von Charkow bildete den Auftakt der zahlreichen späteren Kriegsverbrecher-Prozesse. Sie fanden in Nürnberg zwischen 1945 und 1948 ihren Höhepunkt.
Wolters und Kaisen als Männer der ersten Stunde für die Einheitsfront der Linken
Zurück zur Tagung der KGF vom Juli 1945: Versammlungsleiter Hermann Lücke erteilte zwei Senatoren das Wort: Zunächst Hermann Wolters von der KPD, anschließend dem späteren Bürgermeister Wilhelm Kaisen von der SPD. Wolters sprach über Probleme des Arbeitseinsatzes, über die in Bremen vorherrschende Disziplinlosigkeit, weil über 20.000 Bremer damals die Aufräumarbeiten verweigerten. Er sah sich deshalb der Gefahr ausgesetzt, mit Hilfe der Militärregierung „Neger“ nach Bremen transportieren zu müssen. Sie würden dann die Wohnungen in Beschlag nehmen, „so dass unsere Arbeiter arbeitslos werden“. Ihm ging es vor allem um die Absicherung des von den USA gewünschten Masseneinsatzes, damit ihr Nachschub nicht ins Stocken gerät. Anschließen ergriff Wilhelm Kaisen das Wort: Kaisen erinnerte noch einmal an die „trostlose Lage 12 Wochen nach dem furchtbaren Zusammenbruch…Wir werden unser Augenmerk nur auf die elementarsten Dinge lenken können…Weg mit dem Schutt!! … Wer den Frieden wählt, muss eine Voraussetzung erfüllen, dass Sozialdemokraten und Kommunisten eng zusammenarbeiten und zusammenhalten, dass es hier gar keiner Differenzen bedarf. Wir müssen miteinander ein neues Tor aufstoßen, damit die Grundlage geschaffen wird für die Befreiung…Aber die Alliierten haben ganz bewusst die Zonen so aufgeteilt, damit sich keiner erheben kann. Wir haben allen nationalen Einflüssen entgegen zu arbeiten. Wir brauchen die legale Arbeit und die Verbreitung der Partei! (PS: Kaisen plädierte hier für die von der KGF geforderte sozialistische Einheitspartei)…Im von Rußland besetzten Gebiet sind sie in dieser Hinsicht schon viel weiter! Hier sind wir noch weit zurück. Ich hätte lieber gesehen, wenn alles russisch geworden wäre. Wenn Rußland seinen Einfluss ausgeübt hätte, vom Pazifik bis zum Westen, wäre Deutschland nicht in Stücke geteilt worden. Rußland ist eine starke Macht…“ Senator Kaisen beendete seine Grundsatzrede vom 29: Juli 1945 mit den Worten: „Wir müssen die Jugend neu erziehen und belehren. Jedem müssen wir sagen, daß erst der Schutthaufen beseitigt werden muß, wenn wir unser Leben menschenwürdig gestalten wollen“ (zitiert aus dem Protokoll der KGF-Tagung vom 29. Juli 1945 aus dem Nachlass von Lücke im Archiv Wollenberg. Diese Rede fehlt im Nachdruck des „Aufbaus“ von 1978!).
Welche Aussagen aus dem Mund des führenden Bremer Sozialdemokraten. Doch Kaisen trat fünf Jahre später als Bremer Bürgermeister für das Gegenteil ein: Für die Westorientierung und den Marshall-Plan. „Westeuropa ist schutzlos der Sowjetunion preisgegeben, wenn Amerika es von seinen Truppen entblößt“. So Kaisen im November 1951 (zitiert nach WK vom 17.11 1951) Damals stieß Kaisen in der SPD noch auf Widerstand. Kurt Schumacher sah in Kaisen einen Bündnispartner von Adenauer, dem „Kanzler der Alliierten“, und sorgte dafür, dass Kaisen den SPD-Parteivorstand verlassen musste.
Verdrängte Erinnerungen
Der Kalte Krieg verdrängte viele Erinnerungen an die „Stunde Null“, die eigentlich keine war. Erinnern wir uns deshalb noch einmal daran in dieser Stunde des Gedenkens an die Opfer von Faschismus und Krieg: Das Bekenntnis, dass vom deutschen Boden nie wieder Krieg ausgehen sollte, und dass nach dem Versagen von 1933 die Einheit der Arbeiterbewegung die Parole des Tages hieß, um den Wiederaufstieg der alten Eliten aus Wirtschaft und Politik zu verhindern. Überall entstanden nach 1945 deshalb antifaschistische Komitees. Sie kritisierten nicht nur das Versagen des bürgerlichen Lagers, sondern auch die Fehler und Anpassungsprozesse der Arbeiterparteien und Gewerkschaften, die zur Zerschlagung von SPD und KPD durch den Faschismus geführt hatten und die in der Vernichtung der europäischen Juden kulminierten. Viele von ihnen plädierten deshalb für eine sozialistische Einheitsorganisation, keineswegs immer initiiert von Kommunisten. Das Volksfront-Komitee unter Leitung des Sozialisten Hermann Brill hatte zum Beispiel am 13. April 1945 in Buchenwald ein „Manifest der Demokratischen Sozialisten des ehemaligen Konzentrationslager Buchenwald“ verabschiedet – als „Bündnis aller antifaschistischen Kräfte Deutschlands“ für ein „freies, friedliches, sozialistisches Deutschland“ und die „Internationale der Sozialisten der ganzen Welt“, unterschrieben von zahlreichen deutschen und ausländischen Sozialisten und Kommunisten wie auch von christlichen Demokraten wie Eugen Kogon. Dem Manifest folgte die „Buchenwalder- Plattform“ vom 1. Mai 1944 mit dem bekannten politischen Schwur, im KZ angenommen von den kommunistischen und sozialistischen Repräsentanten der Parteien aus Deutschland, Österreich, Tschechoslowakei, Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Jugoslawien, Polen und der UdSSR.
Die durch den Sieg über den Faschismus freigesetzte Dominanz der Linken wurde jedoch in Westdeutschland innerhalb von zwei bis drei Jahren zerschlissen und in der SBZ/DDR bald durch den moskautreuen Stalin- Kurs eingeschränkt und verbogen. Ein „Diskontinuitätsphänomen der Zeitgeschichte“ (Lutz Niethammer) mit Folgen für die europäische Arbeiterbewegung. Das Ende der linken Dominanz war das Ergebnis der Entscheidung für den Marshall- Plan, der mit Zustimmung der Gewerkschaftsführung die Integration der europäischen Länder in einen sich feindlich gegenüberstehenden Ost- und Westblock sanktionierte. Diese Entscheidung führte zum Zerfall der ursprünglichen einheitsgewerkschaftlichen Ansätze und damit zur Aufkündigung des antifaschistisch- demokratischen Konsenses durch die „Gründungsväter“ des DGB und der Arbeiterparteien. Der theoretische und praktische Antikommunismus wurde fortan mit dem Beginn des Kalten Krieges zu einem der stärksten Bindeglieder in der BRD. „Die größte Torheit des 20. Jahrhunderts“, nannte Thomas Mann diese Form des Antikommunismus.
Noch vor der Konstitution von zwei Staaten auf deutschem Boden erhielten vornehmlich in den Westzonen die Anhänger Zulauf, welche die Verwicklung der Eliten in das NS-Terrorsystem verleugneten und die eigene Vergangenheit entsorgten. Ein scheinbar unaufhaltsamer Weg führte so – trotz der verspäteten Entdeckungsreisen in die braune Vergangenheit im Gefolge des Auschwitz-Prozesses von 1963-1965 – von der ersten Schuld der Deutschen unter Hitler über die die politische Kultur der Bundesrepublik mitprägende zweite Schuld der Verdrängung und Verleugnung der ersten nach 1945 zur dritten Schuld: der allzu langen Verweigerung von Teilen der Linken, die stalinistischer Verbrechen offen aufzudecken. Die „Schwierigkeiten mit der Wahrheit“ (Walter Janka, 1989) nutzten nicht wenige Deutschen hüben wie drüben … mit Eifer (dazu), die Gnade der späten Geburt in der Gnade des deutschen Neuanfangs aufgehen zu lassen und die viel beschworene deutsche Verantwortungsgemeinschaft in eine deutsch-deutsche Reinwaschungs-GmbH umzuwandeln. Begleitet wurde dieser Weg von zahlreichen Erinnerungsschlachten, vor allem im Umgang mit den belasteten Jahrestagen im Land des amtierenden Weltmeisters der „Vergangenheitsbewältigung“. Wie wirkungsvoll führende Vertreter von Politik und Geistesleben auch nach 1989 das Ende der Nachkriegsordnung zur Entsorgung der deutschen Vergangenheit nutzten, ist u. a. daran abzulesen, dass in der Präambel des „Einigungsvertrages“ jeder konkrete Hinweis auf die gesamtdeutsche Verantwortung für die Opfer des Nationalsozialismus fehlt. Die Klage des damaligen Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde in Berlin, Heinz Galinski, über die für die politische Kultur bezeichnende Unterlassung einer Erwähnung des deutschen Schulderbes verhallte im August 1990 fast ungehört und forderte zu keinen nennenswerten Protesten heraus. Im Gegenteil, die Debatte über den Umgang mit der stalinistischen Vergangenheit in der ehemaligen DDR relativierte oder verdrängte die nationalsozialistischen Verbrechen. Und Teile der Linken sahen in der „Entstasifizierung“ die Möglichkeit, das zu verhindern, was nach 1945 in der alten BRD über die gescheiterte Entnazifizierung zur Weißwäscherei führte und aus Westdeutschland eine „Mitläufer-Fabrik“ (Lutz Niethammer) machte.
Mit der Entscheidung für den Westen waren die sozialistischen Neuordnungsvorstellungen zurückgedrängt worden und mit der sog. friedlichen Revolution von 1989/90 traten sie fast gänzlich in den Hintergrund. Dennoch bleibt abschließend zu fragen, ob die durch die Finanzkrise der Weltwirtschaft ausgelöste kapitalistische Krisendynamik nicht darauf drängt, die Erfahrungen aufzuarbeiten, die im Gefolge der großen Weltwirtschaftskrise des Kapitalismus zum Sieg des deutschen Faschismus führten. Denn ohne ihr zweites Vorläufersystem mit dem ersten einfach gleichsetzen zu wollen, so ist vor dem Hintergrund der Verdrängungsbemühungen festzuhalten: die neue Bundesrepublik Deutschland wird eine „neue Ermittlung” (Peter Weiss) brauchen. Denn die Vorgänge vor und nach dem Zweiten Weltkrieg haben faktisch die deutsche Gesellschaft radikal verändert und Brüche erzeugt, die bis heute nachwirken. Gerade die nur partiell realisierten Hoffnungen von 1945 zwingen dazu, bei der Aufarbeitung der „Geburtsstunde der zweiten Republik” auch jene Kontinuitäten aufzugreifen, die heute Erinnerungen an Versäumnisse wachrufen:
Was wurde aus dem Schwur von Buchenwald, was wurde aus der von allen Parteien der ersten Stunde (außer der FDP) getragenen Ablehnung des Kapitalismus?
Welche Bedeutung gewann das politisch-pädagogische Prinzip der Umerziehung für die politische Kultur der Deutschen?
Was wurde aus dem Bekenntnis, dass kein Deutscher je wieder zur Waffe greifen sollte. Was wurde aus der Forderung nach Entmilitarisierung Deutschlands und Europas und der Beendigung jeglicher Rüstungsproduktion. Was ist von den Neuordnungsvorstellungen der Gewerkschaften von 1945 geblieben? Was wurde aus der Forderung nach öffentlichen Investitionen in gesellschaftlich sinnvolle Bereiche bei gleichzeitiger Arbeitszeitverkürzung mit vollem Lohnausgleich, einheitlicher Sozialversicherung, einheitlichen Dienstrecht usw.
Bieten sie angesichts der Krise des Euro-Kapitalismus nicht Anknüpfungspunkte, die heute noch aktuell und durch das Grundgesetz abgesichert sind, z. B.: Schluss mit der unkontrollierten Herrschaft der Banken und Konzerne und ihre Überführung in Gemeineigentum. Begrenzung der Herrschaft der Reichen und Vermögenden mit ihren Möglichkeiten, sich Regierungen kaufen zu können..
Der 1938 als zwölfjähriger deutscher Jude aus Breslau in die USA emigrierte Historiker Fritz Stern hat in seiner “Deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert” die Gefahren beschrieben, die mit dem Verlust der Erinnerung an jene wenigen Juden verbunden sind, die wie sein Lehrer Franz Leopold Neumann (Behemoth) überlebten und sich als Emigranten am Aufbau eines neuen Deutschland beteiligten: Nämlich dass es unter den Deutschen vielleicht „eine unbewusste Kontinuität des Einverständnisses mit dem Nationalsozialismus gibt, … die den Mantel des Schweigens nicht nur über die Märtyrer, sondern auch über die Kollaborateure und Träger des NS-Regimes breitet und so dieses Schweigen verewigt.” (1988, S.213) Und der ebenfalls von den Nazis verfolgte, die KZ-Haft in Auschwitz überlebende Schriftsteller Jean Améry hatte schon 1966 (in “Jenseits von Schuld und Sühne – Bewältigungsversuche eines Überwältigten”) prognostiziert, welche Folgen die Formen der “Entsorgung” auf dem Weg “vom hilflosen Antifaschismus zur Gnade der späten Geburt” (W.F. Haug) zeitigen würde: „Was 1933 bis 1945 in Deutschland geschah, so wird man lehren und sagen, hätte sich unter ähnlichen Voraussetzungen überall ereignen können … Die vollzogene Ermordung von Millionen wird als bedauerlich, doch keineswegs einzigartig (dastehen). … Alles wird untergehen in einem summarischen Jahrhundert der Barbarei.” So war der Weg vorgezeichnet, der es allzu vielen Tätern und Mitläufern erlaubte, konfliktlos von der Volksgemeinschaft in eine Opfergemeinschaft zu wechseln und sich in der bundesrepublikanischen „Wiederaufbaugemeinschaft“ spurlos zu verflüchtigen. Und ist es nur Zufall, dass die zeitlich parallel zu dem Grundgesetz von dem Buchenwaldhäftling Stéphane Hessel mit verfasste und von den Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 verkündete „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ als Botschaft und Verpflichtung nur unzulänglich das öffentliche Bewusstsein in Deutschland bis heute prägt? Die dreißig Artikel als „Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt“ scheinen in Deutschland ebenso wenig verankert wie die Aufgabe, die zunehmende Einschränkung der Grundgesetzartikel zu verhindern und den Sozialstaat auszubauen, nicht abzubauen. Das erklärt zugleich den widerspruchsvollen Weg „vom hilflosen Antifaschismus zur Gnade der späten Geburt“ (W.F. Haug). So wird verständlich, dass die „Gnade der Stunde Null“, die belastete Wissenschaftler wie Politiker emphatisch unter das Signum eines Neubeginns stellten, in Wahrheit die Kontinuität konservativ – reaktionär geprägter kultureller Hegemonie bewahrte.
Lassen Sie mich abschließend an einen entschiedenen Gegner dieser Entwicklung erinnern, an den vor kurzem mit 95 Jahren verstorbenen Stéphane Hessel. In einem Gespräch mit ihm zeigte sich der 1917 in Berlin geborene französische Widerstandskämpfer darüber verwundert, dass die ihm nahestehenden deutschen Gewerkschaften und Sozialdemokraten sich nicht in der Lage sahen und sehen, die konservativ-reaktionären Anhänger und Kriegstreiber aufzuhalten. Und er fragte mich: Warum verurteilen die deutschen Sozialdemokraten nicht überall entschieden die Menschenrechtsverletzungen, wo immer sie auch geschehen, besonders dann, wenn sie von den poltischen Freunden wie den Amerikanern, den Franzosen oder den Israelis begangen wurden und werden? Und er ging dabei zugleich selbstkritisch mit seinen Landsleuten um, die in Frankreich einst mit Hitler und der Vichy-Regierung kooperierten. Denn wir Anhänger der Résistance „blieben in der Minderheit. Wenige waren es im ersten Jahr, dann aber wurden wir mehr. Und deshalb war die Verhaftungswelle von Mitte 1944 so verhängnisvoll. Viele von uns sind durch Verrat an die Gestapo ausgeliefert worden. Und das zu einem Zeitpunkt, als die Nazis die größten Schwierigkeiten mit uns bekamen“. Und er fügte hinzu, was kaum ein Deutscher zu sagen sich erlauben darf: „Und dennoch müssen wir heute konstatieren: Die durchlässige deutsche Besatzungspolitik gestattete noch am Ende des Krieges eine offene Kulturpolitik. Man durfte in Paris Stücke von Jean Paul Sartre aufführen oder Juliette Gréco hören. Und selbst der Kultfilm ‚Die Kinder des Olymp‘ wurde noch in der Endphase des Krieges gedreht. Wenn ich einen kühnen Vergleich als Betroffener wagen darf, so behaupte ich: Die deutsche Besatzung war, wenn man sie vergleicht z.B. mit der heutigen Besetzung von Palästina durch die Israelis, eine relativ harmlose, von Ausnahmen abgesehen wie den Verhaftungen, Internierungen und Erschießungen, auch vom Raub der Kunstschätze. Das war alles schrecklich. Aber es handelte sich um eine Besatzungspolitik in Westeuropa, ganz im Gegensatz zu den faschistischen Massenmorden in Osteuropa, die positiv wirken wollte und deshalb uns Widerstandskämpfern die Arbeit so schwer machte“.
Kurzum: Engagieren wir uns als Minderheit mit Stéphane Hessel, dem „Empört-Euch“-Autor und Mitverfasser der Erklärung der Menschenrechte, in Zukunft immer wieder und weiter gegen die Verletzung der Menschenrechte, gegen Rüstungsexporte und Kriegsvorbereitungen, wo immer sie sich ereignen. Das gilt auch und gerade für unsere politischen Freunde, denen wir historisch verpflichtet sind und bleiben. Denn Bürger- und Menschenrechte sind nicht teilbar. Auch dann nicht, wenn man glaubt, mit Waffenlieferungen und Militäreinsätzen den Frieden herzustellen. Erst recht nicht, wenn man davon überzeugt ist, (wie 1995 in Jugoslawien) mit Waffeneinsatz ein neues Auschwitz oder Hiroshima verhindern zu müssen. In welche Widersprüche der damalige Außenminister Joschka Fischer sich verstrickte, ist der Ausgabe des SPIEGELS vom 25. März 2013 zu entnehmen. Auf Nachfragen behauptet Fischer dort, er habe sich damals von den beiden Lehren von 1945 „Nie wieder Krieg“ und „Nie wieder Auschwitz“ für letztere entschieden. Aber war „Auschwitz“ überhaupt möglich ohne den von Deutschland ausgelösten Krieg? „Nie wieder Krieg“ ist nach wie vor die Voraussetzung dafür, das „Denken und Handeln so einzurichten, dass Auschwitz sich nicht wiederhole, nichts Ähnliches geschehe“ (Theodor W. Adorno).

Offizielles Gedenken und politische Wirklichkeit

21. September 2015

50 Jahre nach dem Auschwitz-Prozess

Vortrag in der Villa Ichon in Bremen am 5. September 2015

Wer in diesen Tagen über das Thema „Offizielles Gedenken und politische Wirklichkeit 50 Jahre nach dem Auschwitz-Prozess“ sprechen will, kommt an den Ausbrüchen von Fremdenhass im Zusammenhang mit dem Zustrom von Asylbewerbern und Flüchtlingen nicht vorbei. Neu ist das alles nicht, nur die Dimensionen haben sich verändert. Von Januar bis August gab es nach offiziellen Angaben in Deutschland 337 derartige Übergriffe. Das heißt, so etwas passiert jeden Tag. Warum nur bei uns?

Das hässliche Bild wird etwas aufgehellt durch die Spendenbereitschaft vieler Deutscher, die den Ankömmlingen über die ersten Tage hinweghilft. Aber milde Gaben ändern nichts an den Problemen, die dem aktuellen Geschehen zugrunde liegen. Wenn die Bundesregierung etwas gegen die rechte Gewalt und gegen die Konflikte tun möchte, die Menschen zu uns treiben, dann sollte sie die vier Milliarden Euro, die sie für neue Panzer und ein neues Luftabwehrsystem ausgeben will, zur Bekämpfung der sozialen Ursachen rechter Gewalt und bestehender Konflikte verwenden. Waffen helfen da sowieso nichts. In Afghanistan haben 3.285 Soldaten aus westlichen Länden ihr Leben gelassen, darunter 40 Deutsche. An den Lebensverhältnissen hat das nichts geändert, sonst kämen nicht so viele Menschen aus Afghanistan zu uns.

Vor 35 Jahren hat der SPD-Vorsitzende Willy Brandt vor einem „explosiven Gemisch aus Rassenhass und Neidkomplexen“ gewarnt, das sich in Deutschland zusammenbraue. Aber im Bundestag redeten die meisten Abgeordneten jenen 82 Prozent der Deutschen nach dem Munde, die damals laut Umfragen der Meinung waren, in Deutschland gebe es zu viele Ausländer. Die Justiz tat das ihre dazu. 1984 hob der Bundesgerichtshof ein Urteil auf, mit dem ein 30Jähriger wegen Volksverhetzung zu 26 Monaten Haft verurteilt worden war.

Der Mann hatte „Ausländer raus“ und Hakenkreuze auf Häuserwände gesprüht. Das höchste deutsche Strafgericht argumentierte, ihrem Wortsinn nach sei die Parole zwar – so wörtlich – „als an Ausländer gerichtete Aufforderung zu verstehen, die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen“. Bei ihr fehlten aber – im Gegensatz zur Parole „Juden raus“ – „allgemein bekannte geschichtliche Erfahrungen, die sie ohne weiteres als Aufforderung zu Gewalt- oder Willkürmaßnehmen erscheinen lassen“. ( 3 StR-36/84)

Den Richtern hätte es nachträglich die Sprache verschlagen müssen, als das Gemisch aus Rassenhass und Neidkomplexen, von dem Willy Brandt gesprochen hatte, explodierte. Von Hoyerswerda über Rostock-Lichtenhagen, Mölln und Solingen bis hin zur Jagd auf Ausländer in Magdeburg hinterließen Neonazis eine blutige Spur quer durch das inzwischen vereinte Deutschland. Ungehindert konnte eine Gruppe, die sich „Nationalsozialistischer Untergrund“ nannte, zehn Jahre lang gezielt Ausländer ermorden, weil Polizei und Verfassungsschutz auf dem rechten Auge blind waren

Eine couragierte CDU-Politikerin, die Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth, schrieb 1993: „Der Rechtsradikalismus und die Gewalttaten haben ein gesellschaftliches Umfeld. Begreifen wir vor allem, dass Demokratie nicht erst dann gefährdet ist, wenn Brandsätze fliegen. Es ist vielmehr das Klima der Duldung, des Zulassens, der Gleichgültigkeit und Passivität, in dem die Gewalt wuchert und Nahrung findet.“ Die Sätze stehen im Manuskript ihrer Rede zum 55. Jahrestag des Pogroms vom 9. November. Auf der Veranstaltung hat Frau Süßmut sie dann ausgelassen.

Medienpolitischer Skandal

„Ein guter Mensch sein? Ja, wer wär’s nicht gern? Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so“, lässt Bertold Brecht in der Dreigroschenoper den Bettlerkönig Peachum singen. Die Bundestagspräsidentin wird ihre Gründe gehabt haben, nicht laut zu sagen, was sie dachte. So ist das manchmal. Auch ich behalte heute etwas für mich, weil ich darum gebeten wurde. Es ging um Fritz Bauer, den legendären Generalstaatsanwalt, der Auschwitz vor Gericht brachte. Aber ich habe dazu noch eine andere Geschichte:

Sie erinnern sich vielleicht, dass vor fünf Jahren der Dokumentarfilm „Fritz Bauer – Tod auf Raten“ in die Kinos kam, der Fritz Bauer dem Vergessen entriss. Der mehrfach ausgezeichnete Film findet immer noch sein Publikum, nicht nur bei uns, sondern auch in vielen anderen Ländern. Aber die ARD weigert sich, ihn im Ersten Deutschen Fernsehen zu zeigen.

Im geschichtlichen Arbeitskreis der ARD seien „gravierende Einwände“ laut geworden, die insbesondere die These vom Mord an Fritz Bauer beträfen, argumentierte ihr stellvertretender Programmdirektor gegenüber der international renommierten Regisseurin Ilona Ziok, obwohl in dem Film an keiner Stelle behauptet wird, der hessische Generalstaatsanwalt sei ermordet worden. Zeitzeugen erinnern lediglich daran, dass Fritz Bauer auf bis heute ungeklärte Weise zu Tode kam.

Das Verhalten der ARD ist ein medienpolitischer Skandal. Wenn das russische oder das chinesische Fernsehen so etwas machten, wäre das Geschrei groß. Der mit öffentlichen Mitteln geförderte und mit dem Prädikat „Besonders wertvoll“ ausgezeichnete Dokumentarfilm über den Initiator des Auschwitz-Prozesses lief bereits auf Phoenix, dem gemeinsamen Dokumentationskanal der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten. Auf 3sat wurde er als „gut recherchierte Würdigung des Aufklärers“ Fritz Bauer angekündigt und erreichte auch dort beachtliche Einschaltquoten. Einwände gab es weder vorher noch nachher.

Da drängen sich Fragen auf. Welche Kriterien haben die Mitglieder des geschichtlichen Arbeitskreises der ARD ihrer Entscheidung zugrunde gelegt? Gab es ein Petitum des Fritz-Bauer-Instituts in Frankfurt, das den Film als einzige Einrichtung in Deutschland boykottiert, weil er – wie der Regisseurin vorgehalten wurde – die Gegner Fritz Bauers nicht zu Wort kommen lässt? Welche Gegner? Die aus der Nazizeit?

Ein Direktor nimmt seinen Hut

Vor einem halben Jahr habe ich im Berliner „Tagesspiegel“ den Umgang des Fritz-Bauer-Instituts mit seinem Namensgeber kritisiert. Die Zeitung veröffentlichte meinen Artikel in großer Aufmachung und wertete ihn als Ausdruck eines Deutungskampfes um das Werk Fritz Bauers. Der Direktor des Instituts hat mich deswegen heftig angegriffen. Zu meiner Überraschung und wohl auch der der anderen Seite stellte sich der hessische Minister für Wissenschaft und Kunst, Boris Rhein, auf meine Seite.

Der CDU-Politiker ist stellvertretender Vorsitzender des Stiftungsrates des Fritz- Bauer-Instituts. Er kündigte an, dass er meine Kritik in diesem Gremium zur Sprache bringen und den wissenschaftlichen Beirat in die Diskussion einbeziehen werde. Bevor es dazu kam nahm der Direktor seinen Hut, um sich, wie er sagte, an anderer Stelle wissenschaftlich zu betätigen.

Zwei Verfassungsorgane, Bundespräsident Joachim Gauck, und der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Vosskuhle, haben dazu aufgerufen, die Verdienste Fritz Bauers in würdigem Andenken zu bewahren. Als Vorbild haben sie ihn nicht empfohlen. Manchen liegt der unbequeme Mahner immer noch quer im Magen, weil er sich weniger als Anwalt des Staates, sondern eher als Anwalt der Bürger verstand. Er ermunterte die Menschen zum Widerspruch, zur Verteidigung ihrer staatsbürgerlichen Rechte. Er wollte, dass die Wurzeln des Bösen bloßgelegt werden, das zu Auschwitz geführt hat.

Im Mai hat Bundespräsident Gauck anlässlich des 50. Jahrestages der Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Israel versprochen: „Wir werden nicht zulassen, dass das Wissen um die besondere historische Verantwortung Deutschlands verblasst.“ Viel ist dabei nicht herausgekommen. Im selben Monat ergab eine Bertelsmann-Studie, dass 81 Prozent der Deutschen die Geschichte der Judenverfolgung „hinter sich lassen“ möchten. (SZ 12. 5. 2015, S. 6).

Offensichtlich reicht es nicht, an Gedenktagen die Opfer zu bedauern. Am 70. Jahrestag der Kapitulation Nazideutschlands beklagte der deutsch-französische Historiker Alfred Grosser, dass der deutsche Widerstand übergangen werde. (Weser-Kurier, 8. 5. 2015). Seine Angehörigen waren, wie Willy Brand kurz vor seinem Tod sagte, mit ihren moralischen Grundentscheidungen vielen anderen voraus.

Der deutsche Widerstand – Fundament des Neubeginns

Der britische Premierminister Winston Churchill bezeichnete die deutschen Gegner Hitlers als das Edelste, was in der Geschichte der Völker je hervorgebracht worden sei. „Diese Männer und Frauen kämpften ohne Hilfe von innen und außen, einzig angetrieben von der Unruhe ihres Gewissens“, sagte Churchill. „Ihre Taten sind das unzerstörbare Fundament eines neuen Aufbaus.“ Vielleicht sollten in allen deutschen Schulen, dem französischen Beispiel folgend, einmal im Jahr zu einem festen Zeitpunkt Bekenntnisse deutscher Widerstandskämpfer verlesen werden, um etwas von dem Geist zu vermittelten, der die Gegner der Nazityrannei beseelte.

Bei der Vorbereitung auf diesen Vortrag habe ich die Bremer Bildungs-Senatorin gefragt, auf welche Weise Auschwitz an den Schulen des Landes Bremen behandelt wird. Frau Dr. Bogedan ließ mich wissen, dass Auschwitz im Kontext der Erinnerungskultur für die Schulen ein wichtiges Thema sei. Bei der Vermittlung des Holocaust müsse aber berücksichtigt werden, dass der Unterricht in Klassen gestaltet werde, deren Schülerinnen und Schüler biografische Wurzeln in zahlreichen anderen Kulturräumen hätten. Das ist natürlich eine Herausforderung. Aber die Lehren der Vergangenheit dürfen deswegen nicht zu kurz kommen.

Was lernen die Bremer Schüler zum Beispiel über Martha Heuer, jene bescheidene Frau aus einem Bremer Arbeiterviertel, die während der Nazizeit mit ihrer Mutter unter Lebensgefahr Menschen jüdischen Glaubens versteckte und vor dem Tode bewahrte? Die Israelis haben sie als Gerechte unter den Völkern geehrt. Ich hoffe, es noch zu erleben, dass eine Straße oder ein Platz nach Martha Heuer benannt wird.

Eine der Erfahrungen des deutschen Widerstandes besagt, dass die Ausgrenzung und Diffamierung von Minderheiten nicht geduldet werden darf; denn damit begann das, was mit Auschwitz endete. Wer sich ein Bild vom Ausmaß des Verbrechens machen will, das in Auschwitz begangen worden ist, der möge sich daran erinnern, dass bei der Tsunami-Katastrophe in Ostasien mehr als Zweihunderttausend Menschen dem blinden Wüten der Naturgewalt zum Opfer gefallen sind. Das Entsetzen darüber war groß. In Auschwitz wurden fünfmal soviel Menschen ermordet. Sie starben von Menschenhand.

Einige Beteiligte an dem beispiellosen Verbrechen mussten sich 1963 in Frankfurt am Main vor Gericht verantworten. Die Verkündung des Urteils in dem Jahrhundertverfahren jährte sich am 19. August zum 50. Male. Ich habe den Prozess als Journalist miterlebt. Wer weiß, was in Auschwitz geschah, ist für immer gefeit gegen alles, was auch nur im Entferntesten mit Nazi-Ungeist zu tun hat. Ohne Erinnerung an das Böse, so Bundespräsident Roman Herzog 1996, gibt es weder die Überwindung des Bösen, noch Lehren für die Zukunft.

Wenn von den Gräueltaten der Nazis die Rede ist, antworten manche, andere hätten sich auch die Hände schmutzig gemacht. Das mag sein. Aber niemals und nirgendwo sonst wurden Menschen so systematisch und in so großer Zahl getötet, wie in den deutschen Vernichtungslagern, nirgendwo sonst wurden den Ermordeten die Goldzähne ausgerissen und zur Devisenbeschaffung eingeschmolzen, nirgendwo sonst wurden die Haare der Opfer zur Filzherstellung verwendet.

Gründlich – auch beim Morden

Die Täter mordeten nicht unter Zwang, sie befanden sich nicht in einem Befehlsnotstand, sondern stimmten in ihrem persönlichen Hass auf Juden und Kommunisten völlig mit der Naziführung überein. Dieses freiwillige Mittun ist das eigentlich Unfassbare. Abgesehen davon – Menschen lassen sich manipulieren. Hier schlummert eine Gefahr für die Zukunft.

Ich war als Journalist dabei, als die Überlebenden der Todesfabrik in den Zeugenstand traten und in Gegenwart ihrer Peiniger zu Protokoll gaben, was in Auschwitz geschah. Auf der Anklagebank sah ich Männer mit Durchschnittsgesichtern. Kaufleute waren darunter, Handwerker, Apotheker und Zahnärzte, Menschen wie du und ich. Aber sie verkörperten ein Grauen, das mich bis in den Schlaf hinein verfolgte. Als die Verhandlung begann, war ich Mitte dreißig. Über Auschwitz hatte ich Einiges gelesen. Dennoch erlebte ich den Prozess wie einen Alptraum. Quälend war jedes Mal auch die Rückkehr in den Alltag.

Musste das Leben nicht stillstehen angesichts des Grauens, das eben noch im Gerichtssaal auf mich eingestürmt war? Aber draußen nahm alles seinen gewohnten Gang. Geschäftig wie immer eilten die Menschen hin und her und ihre unbeteiligten Gesichter wirkten auf mich wie Masken aus einer anderen Welt. In den Prozessberichten erfüllte ich meine Chronistenpflicht nach bestem Wissen und Gewissen. Ein neutraler Beobachter war ich nicht. Wenn mir jemand wegen meiner Parteinahme für die Opfer mangelnde Objektivität vorwirft, dann ehrt mich das.

Sechsmal lebenslanges Zuchthaus, elfmal begrenzte Freiheitsstrafen zwischen 3 und 14 Jahren und dreimal Freispruch – das ist in dürren Worten die Bilanz dieses Prozesses. Bis auf zwei Ausnahmen verloren die Angeklagten kein menschliches Wort des Bedauerns für die Opfer. Die meisten zeigten nur Mitleid mit sich selbst. Selbst wenn alle Angeklagten die höchste Strafe bekommen hätten, bliebe Auschwitz ungesühnt.

Es gibt keine Strafe, die dem Unfasslichen gerecht werden könnte. Die nachfolgenden Generationen können nur eines tun: durch ihr klares Nein gegenüber allen Versuchen, das Geschehene zu bagatellisieren oder zu relativieren, den Opfern ihren Respekt zu erweisen. Damit schützen sie sich selbst vor einem wie auch immer gearteten Rückfall in die Unmenschlichkeit.

Der Sündenbock-Mechanismus

Seit der Verkündung des Urteils sind fünfzig Jahre vergangen. Wie verhielt es sich in dieser Zeit mit dem Interesse an Auschwitz? Als mir vor Jahren die Idee kam, meine Prozessberichte der Jugend von heute zugänglich zu machen, ahnte ich nichts von den Schwierigkeiten, mit denen ich zu tun bekommen sollte. Sechs Jahre dauerte meine Suche nach einem Verlag. Dabei machte ich die Erfahrung, dass alle gern von der Notwendigkeit des Erinnerns reden, aber ungern in diese Notwendigkeit investieren.

Zu den Wenigen, die öffentlich immer wieder vor einem Rückfall in frühere Denkweisen gewarnt haben, gehörte Fritz Bauer. Eindringlich beschrieb er, wie es dazu kommen konnte, dass die erste deutsche Republik gewalttätigen Rechtsextremisten in die Hände fiel.

„Statt einer ‘Bewältigung der Vergangenheit’, die auch damals notwendig war und die einen harten Willen zur Wahrheit erforderte, zog man den Betrug und Selbstbetrug eines angeblichen Dolchstoßes vor und suchte krampfhaft nach Sündenböcken. Man fand sie bald in ‘Marxisten’, bald in Juden. Jeder Sündenbock-Mechanismus erwächst aus Charakterschwäche; er ist ein infantiler Zug und alles andere als eine männliche Reaktion.“

„ Je schwächer die Leute sind und je mehr sie von Minderwertigkeits-Komplexen geplagt werden, desto mehr rufen sie nach Härte und desto gewalttätiger und brutaler treten sie auf, um ihr
eigenes Ungenügen und das Fiasko ihres Daseins zu verbergen. Die Kraftmeierei des Nazismus, sein Geschrei, seine Demonstrationen, seine Verbrechen, waren die Maske von neidischen Schwächlingen.”

Dieser Sündenbock-Mechanismus hat die Nazizeit überlebt. Als Ende der siebziger Jahre wider einmal Hakenkreuz-Schmierereien für peinliches Aufsehen sorgten, machte der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß, dessen 100. Geburtstag morgen pompös gefeiert werden wird, kommunistische Geheimdienste verantwortlich. Das rechtslastige „Deutschland-Magazin” behauptete, der „angebliche Neonazismus sei in Wahrheit eine Waffe Moskaus”.

Rechts wo die Mitte ist

Inzwischen gibt es keine kommunistischen Geheimdienste mehr, aber noch immer werden Hakenkreuze auf Grabsteine geschmiert und jüdische Einrichtungen angegriffen. Während seiner Amtzeit als Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland verlangte Paul Spiegel, beim Kampf gegen die Neonazis nicht bestimmte Entwicklungen in der Mitte der Gesellschaft aus dem Blickfeld zu verlieren; dort gebe es immer noch hartnäckige Vorurteile gegenüber Menschen anderer Hautfarbe, anderer Herkunft und anderer Religion.

Wie es in der Mitte der Gesellschaft zur Zeit des Auschwitz-Prozesses aussah, verdeutlichte ein Vorfall kurz nach Prozessbeginn. Ein ehemaliger Spitzenmanager des IG-Farben-Konzerns, der wegen des Einsatzes von Auschwitzhäftlingen zu Sklavenarbeit, zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt worden war, wurde mit dem Großen Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet, weil er sich angeblich um den Wiederaufbau verdient gemacht hatte. Als einzige deutsche Zeitung prangerte die antifaschistische Wochenzeitung „Die Tat“ den Skandal an. Erst als eine jüdische Zeitung aus der Schweiz bei der Ordenskanzlei in Bonn anrief, musste der Geehrte das Verdienstkreuz zurückgeben.

Zyniker sagen, die Wiederbeschäftigung alter Nazis habe der Demokratie nicht geschadet. Alle hätten sich doch vom Ungeist des Nazismus distanziert. In der Tat hat es an solchen Beteuerungen nicht gefehlt. Immer hieß es, die Bekämpfung des Rechtsextremismus gehöre, wie die Bekämpfung des Linksextremismus, zu den Lehren der Vergangenheit.

In Wirklichkeit hatte man hauptsächlich die Linken im Visier, darunter die aktivsten Gegnern Hitlers, deren Widerstand gegen die Wiederbewaffnung und die Notstandsgesetze als Widerstand gegen den Rechtsstaat gedeutet und deren Verdienste im Kampf gegen den nazistischen Unrechtsstaat ignoriert wurden.
Die „unbußfertige Verschwörung des allgemeinen Nichtwissens”, die Fritz Bauer bei den Angeklagten im Auschwitz-Prozess beobachte hatte, beschränkte sich nach seiner tiefen Überzeugung nicht auf den Kreis der unmittelbar an den NS-Verbrechen Beteiligten; er hielt sie für ein verbreitetes Phänomen.

Für eine Radio-Bremen-Sendung habe ich den Stuttgarter Oberlandesgerichtspräsidenten Richard Schmid 1966 gefragt, wie er die Stimmung im Lande beurteilt. Er sagte, das deutsche Volk zeige noch immer die alte Mischung von Intoleranz und Autoritätsglauben und neige zu irrationalen nationalistischen Anwandlungen. Auch sonst gebe es Anzeichen, dass das deutsche Bürgertum das alte Gift noch nicht ausgeschieden habe. Das waren prophetische Worte.

„Raus dem Schatten Hitlers!“

1983 appellierte der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU im Deutschen Bundestag, Alfred Dregger, an die Deutschen, aus dem Schatten Hitlers herauszutreten und normal zu werden. Für den Generalinspekteur der Bundeswehr, Heinz Trettner, war der Überfall auf die Sowjetunion, „anders als die Umerziehungspropaganda“ behaupte, „in erster Linie ein nur schweren Herzens begonnener, aufgezwungener Präventionskrieg“. (Zitiert nach Walter Kolbow, Rede im Deutschen Bundestag am 13.März1997, S.14724)

Der Historiker Ernst Nolte löste 1986 mit seiner Frage, ob der „Archipel Gulag”, also das Verbannungssystem unter Stalin, nicht „ursprünglicher als Auschwitz” gewesen sei, den Historikerstreit aus. Der grüne Außenminister Joschka Fischer rechtfertige die deutsche Teilnahme am völkerrechtswidrigen Luftkrieg gegen Jugoslawien mit dem Satz, er habe nicht nur „Nie wieder Krieg” gelernt, sondern auch „Nie wieder Auschwitz”, so als hätten auf dem Balkan Gaskammern und Verbrennungsöfen verhindert werden müssen.

Bahnchef Hartmut Mehdorn ließ 2002 mit Rückendeckung des Bundesverkehrsministers Manfred Stolpe (SPD) die Namen der Widerstandskämpfer Sophie Scholl und Graf Stauffenberg von den ICE-Zügen entfernen, weil sie angeblich zu lang waren. Entfernt wurden auch die Namen der Pazifisten Carl von Ossietzky und Ludwig Quidde. Ersetzt wurden sie durch Städtenamen, die beim geplanten Gang der Bahn an die Börse weniger störten. („Ossietzky“, Heft 2, 2009). Niemand nahm Anstoß. Auch der Verein „Gegen Vergessen, für Demokratie“ unter Vorsitz von Joachim Gauck schwieg. Acht Jahre danach ließ Gauck sich in München mit dem Geschwister-Scholl-Preis auszeichnen, umrauscht vom Beifall prominenter Gäste.

Auschwitz – ein Phänomen moderner Zivilisation?

Auf Einladung der Robert-Bosch-Stiftung referierte Joachim Gauck am 26. März 2006 in Stuttgart über das Thema „Welche Erinnerungen braucht Europa“. Zum Massenmord der Nazis an den Juden sagte er, der Holocaust sei inmitten einer hoch entwickelten Zivilisation und im Umfeld außergewöhnlicher kultureller Leistungen konzipiert und durchgeführt worden. Deshalb müsse er als Problem dieser Zivilisation und Kultur betrachtet werden.

Der Gulag, Auschwitz und Hiroshima, also der Atombombenabwurf der Amerikaner, gehören – in dieser Reihenfolge – für Gauck als Symbole des Inhumanen zusammen. (www.bosch-stiftung.de/content/language1/downloads/Stiftungsvortrag_Gauck_fuer_internet.pdf) Das wird die Unbelehrbaren freuen. Deren Fazit lautet seit jeher: Die Russen haben es vorgemacht, die Amerikaner haben es nachgemacht. Also lasst uns mit Auschwitz endlich in Ruhe.

Mit seiner Stuttgarter Rede verabschiedete sich Gauck von der Aussage Richard von Weizsäckers, der Völkermord an den Juden sei „beispiellos in der Geschichte“. Er schob beiseite, was der Rechtswissenschaftler Bernhard Schlink zu bedenken gab, für den Holocaust und Drittes Reich, anders als etwa die Untaten Stalins, „Perversionen bürgerlicher Kultur“ sind. Wenn damals das Eis, auf dem man sich kulturell und zivilisatorisch sicher wähnte, in Wahrheit so dünn gewesen sei, wie sicher sei dann das Eis, auf dem wir heute leben, fragt Schlink in seinem Buch „Vergangenheitsschuld und gegenwärtiges Recht“. (Ffm. 2002, S. 148-154) „Ist das Eis mit dem Ablauf der Zeit dicker geworden, oder hat uns der Ablauf der Zeit nur vergessen lassen, wie dünn es ist?“

Schlussstrich-Mentaltität

In Frankreich hat der rechtsgerichtete Front National seinen Parteigründer Le Pen dieser Tage ausgeschlossen, weil er die Gaskammern der Nazis als Detail der Geschichte des Zweiten Weltkrieges bezeichnet hat. Joachim Gauck wurde 2010, also nach seinen schillernden Äußerungen zum Holocaust, von SPD und Grünen als Kandidat bei der Bundespräsidentenwahl aufgestellt und 2012 zum Staatsoberhaupt gewählt – in eben jenem Plenarsaal des Bundestages in dem der Historiker Heinrich August Winkler die Deutschen am 8. Mai 2015, ganz im Sinne Alfred Dreggers, unter Beifall dazu aufrief, sich „durch die Betrachtung der Geschichte nicht lähmen zu lassen“.

Alles nur Einzelmeinungen? Alles nur Einzelfälle? Ja, alles nur Einzelfälle, aber sie ergeben wie Mosaiksteinchen ein Gesamtbild, das nachdenklich stimmt. Anscheinend hat Bundespräsident Roman Herzog 1998 umsonst daran erinnert, „dass wir nicht in den alten Überlegenheitswahn zurückfallen wollen“. Sein Nachnachfolger Gauck hält es, ebenso wie Bundesregierung, für richtig im Kampf für die Menschenrechte auch zu den Waffen zu greifen, er, der als Pfarrer auf der Seite jener Bürgerrechtler stand, die in der DDR unter dem Motto „Schwerter zu Pflugscharen“ für eine friedliche Welt kämpften.

In einem Kommentar zu Gaucks Plädoyer für den Einsatz von Waffen fragte die „Süddeutsche Zeitung“ vom 16. Juni 2014, warum die früher geübte Zurückhaltung jetzt abgelegt werde. „Weil das Trauma von Schuld und ‚Nie wieder Krieg’ ins Geschichtsbuch gehört? Gauck sagt es nicht, aber es klingt bei jedem seiner Worte mit: dass irgendwann mal Schluss ist. Das ist der eigentliche Sprengstoff seiner Botschaft. Er sollte ihn schleunigst unschädlich machen.“

Nichts gehört der Vergangenheit an

Bis heute hat er das nicht für notwendig gehalten. Vielleicht sollte Bundeskanzlerin Merkel ihn daran erinnern, dass sie mit ihrem Satz von der „immerwährenden Verantwortung“ für das von Deutschland begangene Menschheitsverbrechen bei den Hinterbliebenen der Ermordeten im Wort steht. Sie haben am schwersten daran zu tragen, dass die Vergangenheit peu à peu entsorgt und der Welt gegenüber gleichwohl der irrige Eindruck erweckt wird, es gebe nach dem deutschen Wirtschaftswunder jetzt auch noch ein deutsches Vergangenheitsbewältigungswunder.

In Wirklichkeit gilt immer noch, was Fritz Bauer unter dem Eindruck einer verbreiteten Indolenz gegenüber der Nazivergangenheit dem deutschen Volk bewusst zu machen versuchte: „Nichts gehört der Vergangenheit an. Alles ist noch Gegenwart und kann wieder Zukunft werden. Nichts ist, wie man zu sagen pflegt, bewältigt, mag auch die Öffentlichkeit sich gerne in dem Glauben wiegen, dass ihr zu tun fast nichts mehr übrig bleibe.”

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