Joseph Rossaint

16. August 2018

Erinnerungen Wir sind im Osten von Alt-Oberhausen im Ruhrgebiet, also im
Marien- und Knappenviertel. Es ist schmuddelig hier. Arbeitslosigkeit,
Überalterung, Wohnungsleerstände, Kirchenschließungen machen die Zukunft
zur Sackgasse. Das nahe Centro, die „Neue Mitte“, belebt diese Gegend
nicht. Früher war das anders. Die solide Belegschaft einer Zeche und
eines großen Eisenhüttenwerks trug eine prosperierende Mittelschicht.
Die Unternehmen, die Gewerkschaften, aber auch die Katholische
Arbeiterbewegung waren stark und am Puls der Zeit. Der Saal von „Haus
Union“ war zwischen den Kriegen legendärer Versammlungsort. Noch in den
80ern war diese Gastwirtschaft stolz auf jene Vergangenheit. Eine ganze
Pinnwand war voll mit Zeitungsartikeln, Manifestationen und Fotos aus
dieser Zeit. Mehrfach zeigten sie einen jungen Mann: Dr. Joseph Rossaint, Kaplan in St. Marien von 1927 bis 1932. Als wir uns vor fünf Jahren nach der Beerdigung meiner Mutter dort zum Kaffee trafen, war von all dem nichts mehr zu sehen. Der neue Pächter der „Union“ wusste gar nicht, wovon ich rede, als ich ihn darauf ansprach. Meine Mutter kannte Kaplan Rossaint als Kind. Meine Großtante soll als Backfisch von ihm geschwärmt haben. Hinter St. Marien gab es den Graf-Haeseler-Platz (heute John-Lennon-Platz). Dort war früher ein einfaches Fußballfeld, auf dem ich als Kind gekickt habe. Rossaint hat es mit arbeitslosen jungen Männern während der Weltwirtschaftskrise angelegt
1.Prozess und Vorgeschichte
Warum erzähle ich das? Vor 75 Jahren, am 28.April 1937, wurde vor dem Volksgerichtshof in Berlin das Urteil im so genannten „Katholikenprozess“ verkündet. Hauptangeklagter war Dr.
Rossaint, mitangeklagt einige Führungskräfte aus Katholischen
Jugendverbänden, vor allem der Sturmschar (Franz Steber), die zum Teil, wie er selbst, auch im Friedensbund Deutscher Katholiken aktiv waren. Folgt man der gleichgeschalteten Presse, sollte der Prozess – Bestrebungen für eine „katholisch-kommunistische Einheitsfront“
2. aufdecken, – christlich motivierte Friedensarbeit in der Kirche als
staatsfeindlich denunzieren, – eine scharfe Trennlinie zwischen
Seelsorge und politischer Betätigung markieren. Sie feierte die 11 Jahre
Zuchthaus für den „Sowjetapostel“ und „geistlichen Hochverräter“ als
Schlag gegen die „Katholisch-Kommunistische Einheitsfront“
3. So auch das Urteil. Es konzentriert sich auf die Zusammenarbeit mit Kommunisten,
nicht auf die christliche Motivation des Widerstandes selbst, und
versucht den Menschen Rossaint zu diskreditieren, bis hin – aus heutiger
Sicht besonders infam – zu Andeutungen auf sexuellen Missbrauch: „… ein
links eingestellter … und zugleich moralisch tiefstehender Mensch, …
weil er als Geistlicher und Jugenderzieher ohne Hemmungen seinen
widernatürlichen Trieben nachging“
4. Kaplan Rossaint hat schon vor 1933 Jugendliche für Gerechtigkeit,
Frieden und Völkerverständigung und gegen Arbeitslosigkeit, Wehrpflicht
und den aufkommenden Nationalsozialismus mobilisiert. Er sieht früh die Verbindung zwischen Militarismus, Nazismus und Wirtschaft
5. Er sucht Verbündete für seine Arbeit bis in den Kommunistischen Jugendverband Deutschlands hinein. „Es wird dunkler im Saal“ soll man dort, auf seine Soutane anspielend, gerufen haben, aber Rossaint lässt sich nicht
beirren. Er selbst versucht, in Oberhausen den linken Flügel des Zentrum zu stärken; nach der Zustimmung dieser Partei zum Ermächtigungsgesetz
tritt er aus. Er setzt sich für eine Versöhnung mit Polen ein und wird
deswegen vom Polizeipräsidenten verwarnt. In den Düsseldorfer Jahren bis zu seiner Verhaftung Anfang 1936 hilft er mehreren Kommunisten, einfach
weil sie die ersten Opfer nazistischer Verfolgung und Gewalt waren. Ein
Beispiel ist Berta Karg, eine kommunistische Jugendfunktionärin, die
ständig auf der Flucht und dem Verhungern nahe war, und die er
durchzubringen versucht. Er gehört zu den Wenigen, die sich öffentlich
gegen den Boykott der jüdischen Bevölkerung wenden.
Der Mensch Joseph Rossaint Ich habe Ewald Weber, später Inhaber eines
Geschäfts für Damenmoden in Oberhausen, bei der Feier zum 100.
Geburtstag von Kaplan Rossaint noch kennen gelernt – einen von seinen
Sturmschar-Leuten. Schmunzelnd bestätigt er die kolportierte Geschichte,
er habe als Schneiderlehrling die (!) Hose von Rossaint geflickt; und
der musste darauf warten, bevor er sich wieder zeigen konnte. Joseph
Rossaint half, wo er konnte, mit Schlafplätzen, Essen, Kleidung, Geld, – was auch immer nötig war. Herkunft und Werdegang erklären diese
Lebensweise nicht. Die Familie ist nicht proletarisch, der Vater
Straßenmeister, ermöglicht ihm Gymnasium und Theologiestudium. Sein
Promotionsthema „Das Erhabene und die neuere Ästhetik“ ist nicht das
eines frühen „politischen Theologen“. Er leitet sein Verhalten einfach
aus seiner christlichen Weltanschauung und der Betrachtung der Realität
ab. „Die Lebensgesetze des Christentums … sind Opfer und Bruderliebe.
Darüber geredet habe ich nicht zuerst. … Ich habe versucht, aus dieser
Haltung die Konsequenzen zu ziehen.“
6. Prägend ist seine Herkunft aus dem
deutsch-belgischen Grenzgebiet. Er sieht 1914 die Truppen Belgien
überfallen, verwundet zurückkehren, seine Heimat dann an Belgien fallen
– die Familie setzt auf Deutschland, verliert ihr Haus, muss umziehen.
Zeitlebens bekämpft er den Krieg, denn – ganz nüchtern – seine „Folgen …
sind so gewaltig und furchtbar für Sieger und Besiegte, daß sie in
keinem Vergleich zu dem Gut stehen, das durch den Krieg geschützt wird“
7.Nach dem Krieg Joseph Rossaint überlebt den Krieg, weil er im letzten
Moment durch Gefängnispersonal versteckt wird, als die SS im April 1945 politische Gefangene umbringt. Noch am Tag seiner Befreiung fängt er an, Hilfe für ehemalige Gefangene zu organisieren. Er wird Publizist und
Politiker. Ein ganz neues, anderes Leben, aber tief geprägt von seinen
Erfahrungen. Und wieder ist er konsequent: 1946 gründet er den „Bund
Christlicher Sozialisten“ und kämpft gegen die früh erkannte Restauration, bis der Bund von der Adenauer-CDU an die Seite gedrückt wird. 1947 findet er seinen politischen Ort in der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN), ab 1961 in dessen Präsidium und ab 1971 bis 1990 als Präsident des VVN/BA (Bund der Antifaschisten). In der „Internationalen Föderation der
Widerstandskämpfer“ (FIR) ist er führend tätig und im Ausland geschätzt
und anerkannt. Und wieder wird er verfolgt. Die VVN wird von der
Adenauer-Regierung bekämpft; der Verbotsprozess 1962 scheitert, weil der
Vorsitzende Richter als ehemaliger Nazi entlarvt wird. Die Geschichte
wiederholt sich: Rossaint wird jahrelang vom NRW-Innenminister
geheimdienstlich überwacht, denn VVN und FIR seien kommunistisch gelenkt. Dazu Rossaint: „Als Christ darf ich zwar mit Atheisten auf Christen schießen, aber nicht mit Atheisten zusammen für den Frieden kämpfen. Das ist doch ausgemachter Blödsinn.“
8. Sein individuelles Lebenskonzept macht es ihm schwer, sich in der Parteienlandschaft zu beheimaten. Früh kandidiert er, wie auch der spätere Bundespräsident Gustav Heinemann, für die Gesamtdeutsche Volkspartei, später für die Deutsche Friedens-Union. Er wird in kommunistischen Staaten, auch in der DDR, geehrt; in der BRD erst in den 80ern. 1989 erhält er den Aachener
Friedenspreis.
9.Rossaint und die Kirche
Joseph Rossaint war kein bequemer Priester.
Schon die Versetzung von Oberhausen nach Düsseldorf 1932 könnte Folge
seiner lokal erfolgreichen „linken“ Zentrumsarbeit gewesen sein. Im
Prozess leugnet er nicht seinen christlich motivierten Einsatz für
Kommunisten und bringt die Bischöfe in die Zwickmühle, „sich entweder,
trotz ihrer eigenen antikommunistischen Haltung, hinter Rossaint zu
stellen, oder ihn fallen zu lassen“9. Sie ließen ihn fallen. „Niemand
aus der Hierarchie des Erzbistums Köln setzte sich für ihn ein“, wohl
für zwei Mitangeklagte.
10. Selbst der Katholische Jungmänner-Verband
musste sich von seinem ehemaligen Vordenker distanzieren. Einzig im
Ausland und von einzelnen mutigen Katholiken in Oberhausen (Martin Heix)
wurde sein Zeugnis damals gewürdigt. Der deutsche Episkopat lehnte
seinen prinzipiellen Widerstand gegen das NS-Regime, seine Friedensarbeit und jede christlich motivierte Zusammenarbeit mit Kommunisten ab: „Der Führer und Reichskanzler Adolf Hitler hat den Anmarsch des Bolschewismus von weitem gesichtet und sein Sinnen und Sorgen darauf gerichtet, diese ungeheure Gefahr von unserem deutschen Volk und dem gesamten Abendland abzuwehren. Die deutschen Bischöfe halten es für ihre Pflicht, das Oberhaupt des Deutschen Reiches in diesem Abwehrkampf mit allen Mitteln zu unterstützen, die ihnen aus dem Heiligtum zur Verfügung stehen“
11. Wer so redet, hat für Rossaints
radikales Verständnis christlichen Verhaltens nur das Wort „Dummheiten“
(so der Prozessvertreter des Kölner Kardinals Schulte) übrig
12. Das Unglaubliche ist jedoch: Auch nach dem Krieg bis zu seinem Tod 1991 wird Rossaints Widerstand kirchlicherseits offiziell nicht wahrgenommen. Er möchte in die priesterliche Tätigkeit zurück, und Erzbischof Frings bietet ihm eine Pfarrstelle an – unter der Bedingung, sich nicht mehr politisch zu betätigen und die Beziehung zu den Überlebenden aus seiner Haft, mehrheitlich Kommunisten, abzubrechen. Er konnte diese Bedingungen nicht akzeptieren. Er bleibt Priester – ohne Amt. Das im Kirchenmilieu erscheinende (nicht das allgemein-historische) Schrifttum, das sich mit der katholischen Kirche im Dritten Reich auseinandersetzt, verschweigt ihn weitgehend
13. Das wundert nicht bei Veröffentlichungen, die der Amtskirche nahestehen
14, aber selbst ausgewogene oder kritische Schriften erwähnen ihn
im Zusammenhang mit Widerstand im Nazistaat nicht
15. – wohl Blutzeugen wie Metzger, führend im Friedensbund wie er, oder Delp und Letterhaus, auch Franz Steber, seinen Mitangeklagten, aber eben nicht ihn. Pax Christi blieb ihm durch Grußworte solidarisch verbunden. Hier und da liest man, es sei kurz vor seinem Tode zu einer „Versöhnung“ mit der Kirchenleitung in Gestalt des Kölner Erzbischofs gekommen
16. Im Begleitbrief zum Tode Rossaints
17. würdigt der Kölner Weihbischof Frotz, nach Jahrzehnten der Distanzierung, die Gewissensentscheidung des „Mitbruders“ Rossaint, nicht ohne zu erwähnen, dass er seinerzeit die von seinem Erzbischof angemahnte „Besonnenheit“ durch „leidenschaftliche Sorge“ ersetzt habe – aber immerhin spricht er den politischen Konflikt an. Der gern zitierte Brief von Joachim Kardinal Meisner vom Vortag des
Todes grüßt ihn „in der Gemeinschaft unseres Priestertums“
18. nicht aber als konsequenten Zeugen in der Nachfolge des Handelns Jesu. „Versöhnung“ mit dem, wofür Joseph Rossaint stand, geht anders. „Wo wart ihr alle, damals?“ Dieses Zeugnis eines christlichen Lebens im
Deutschland des 20. Jahrhunderts ist unbequem, steht verquer, eckt an.
Inzwischen ist mancherlei reflektiert und geschrieben worden über die
Rolle der Katholischen Kirche vor, während und unmittelbar nach dem
Krieg. Da wird, nach ausführlichem Verweis auf „Mit brennender Sorge“
(Enzyklika von Papst Pius XI. 1936) und auf den „Löwen von Münster“
(Kardinal von Galen), die Einseitigkeit des einen oder anderen Bischofs eingeräumt, da wird bedauert, die Kirche habe mehr für ihre Strukturen als für ihre Botschaft gekämpft, und da werden verschämt die wenigen Blutzeugen geehrt, deren Opfer man quasi stellvertretend für die Kirche in Anspruch nimmt. Aber dieser eine Priester ist wegen seines Glaubenseinen politischen Weg gegangen, ganz früh schon, aber auch nach dem Krieg, der die selbstgewählte Position dieser Kirche in der deutschen Gesellschaft in Frage stellt. Die Kirche spürt, dass die von ihr geforderte Haltung eigentlich ganz einfach, und doch außerordentlich
schwer ist. Der 83jährige Rossaint hat es auf seine klare, nüchterne Art
so ausgedrückt: „Viele gewannen den Eindruck, daß die Kirchen sich mehr
durch ihre Feinde, als durch die Menschen, die ihren Beistand brauchten,bestimmen ließen.“
19. Als ich – Jahrgang 1946 – 14 oder 15 war, habe ich in der Schülerzeitung einmal einen provokanten Artikel geschrieben: Wo wart Ihr alle, damals, Ihr Lehrer, Eltern, Richter, Industriellen und so weiter? Wart Ihr alle „keine“ …? Ein Lehrer hat sich dem Thema in der nächsten Nummer gestellt und mit mir auf Augenhöhe gestritten. Eine seiner Fragen war (er wusste von meinem kirchlichen Engagement): Und die Pfarrer? Die hast Du wohl vergessen bei Deiner Aufzählung? Hatte ich. Für mich war die Kirche scheinbar abgeschirmt durch diese Zeit gegangen. Erst später hörte ich mehr und verstand tiefer. Von ihm, Kaplan Joseph Rossaint, 30 Jahre zuvor ganz in der Nähe, hat mir damals keiner erzählt, weder in der Pfarrei, noch in der Jugendbewegung, noch in der Schule.
Joseph Rossaint: Der Verfolgte von Jochen Windheuser (erschienen in:
Publik-Forum, 20.04.2012)