Über die innere Unordentlichkeit der Deutschen

27. März 2014

Rede zur Überreichung des Kultur- und Friedenspreises der Villa Ichon am 15. 3. 2014

Im März des vergangenen Jahres, als Rolf Gössner hier geehrt wurde, saß ich irgendwo dort hinten und dachte: ach, wie gut, dass niemand weiß, dass ich – nein, nicht Rumpelstilzchen – sondern Kurt Nelhiebel heiß’ und derjenige bin, der 2014 dort vorn stehen oder sitzen wird. Geborgen kam ich mir vor in meiner Anonymität, aber auch etwas fremd zwischen all den Gästen, die einander zumeist wie Angehörige einer großen Familie begrüßten.

Bis auf Klaus Hübotter, der mich kurz davor in Habenhausen besucht hatte, kannte mich augenscheinlich niemand. Umso mehr berührt mich die hanseatische Geste der Anerkennung, die mir mit der Verleihung des diesjährigen Kultur- und Friedenspreises der Villa Ichon zu teil geworden ist. Ich bedanke mich dafür von dieser Stelle aus noch einmal mit Freude und Demut im Herzen. In diesen Dank schließe ich Herrn Professor Dr. Hans Henning Hahn und Frau Dr. Eva Hahn ein, die als Historiker meine Arbeit soeben gewürdigt haben.

Wenn man, wie ich, quasi zweimal existiert, einmal real und einmal virtuell, erlebt man immer wieder merkwürdige Situationen. Nachdem ich während meiner Zeit bei Radio Bremen wieder einmal unter meinem Autorennamen Conrad Taler den Frühkommentar gesprochen hatte, hörte ich durch die halb geöffnete Tür eine neue Sekretärin erstaunt sagen: „Der Conrad Taler hat dieselbe Stimme wie Herr Nelhiebel.“

Umgekehrt fiel es einem Bremer Politiker, der später als Kulturstaatsminister von sich reden machte, nicht auf, dass der Nachrichtenchef von Radio Bremen, dessen Arbeit er nach eigenem Bekunden schätzte, dieselbe Stimme hatte, wie jener Conrad Taler, über dessen Kommentare er sich als Mitglied des Rundfunkrates hin und wieder heftig geärgert hat.

Ein anderer Bremer Politiker war als Innensenator besser im Bilde, wenn auch in ganz anderer Hinsicht. Kurz vor Ablauf meiner Probezeit suchte er den Intendanten des Senders in dessen Büro in der Heinrich-Hertz-Straße auf, um ihm – lange bevor es den Radikalenerlass gab – Erkenntnisse des Verfassungsschutzes über den Neuling zu unterbreiten und ihn vor mir zu warnen. Ich kam nämlich von einer antifaschistischen Zeitung.

Für die Jüngeren sage ich, dass das Wort antifaschistisch Menschen unterschiedlicher Herkunft verbindet, die sich einig sind in der Ablehnung des Naziungeistes. Überall auf der Welt öffnen sich bei dem Wort Türen und Herzen, nur bei uns nicht. Aber der Intendant, der mir von dem Besuch des Innensenators erzählte, vertraute mir. Der Chefredakteur, auf dessen Wunsch hin ich nach Bremen gekommen war, hatte sich mit seinem Amt für mich verbürgt.

Ich begann als Nachrichtenredakteur, war aber von Anfang an auch als Kommentator und Feature-Autor tätig, wurde dann stellvertretender Leiter der Nachrichtenabteilung und schließlich Nachrichtenchef. Als mir der Posten des Chefredakteurs angeboten wurde, winkte ich ab. In den Annalen von Radio Bremen erscheine ich lediglich als Erfinder der plattdeutschen Nachrichten, mit denen der Sender über Deutschlands Grenzen hinaus für Aufsehen sorgte.

Bevor ich im Journalismus Wurzeln schlug, unmittelbar nach der Vertreibung aus meiner Heimat, hegte ich die Illusion, meinen Lebensunterhalt durch das Schreiben von Gedichten bestreiten zu können. Tatsächlich gewann ich 1947 einen Wettbewerb junger Lyriker, der von der Neuen Württembergischen Zeitung in Göppingen ausgeschrieben worden war. Aus jener Zeit stammt das Gedicht

An Goethes Chinesisch-Deutsche Jahres- und Tageszeiten

Womit soll ich euch vergleichen?
Mit Kristallen oder zarten
nie verklingenden Gesängen?

Schwer ist es, hier abzuwägen,
denn es scheint, als seien beide,
holder Klang und reine Formen,
wundersam zu einem Ganzen
von des Meisters Hand gefügt.

Glocken scheinen wohlverborgen
im Kristallgehäus der Zeilen
träumend ihre Rast zu halten,
bis ein Auge voller Staunen
sie erweckt zu zartem Klingen.

Ich hätte Sie damit verschont, aber die Begründung für den mir zuerkannten Preis hat mir eine Bringschuld auferlegt. Also machen Sie sich noch auf Einiges gefasst.

Als Zwanzigjähriger machte mir allerdings auch Gedanken über die Ursachen von Krieg und Vertreibung. Mein erster politischer Artikel für die Neue Württembergische Zeitung war dann freilich auch mein letzter. „Pessimistische Vision“ hieß die Glosse, die den Deutschen einen Hang zum Militärischen unterstellte. Das empfanden 1948 manche als Provokation. Zwei Jahre später ging es dann los mit der Aufstellung deutscher Streitkräfte.

Mit meinen Gedichten fand ich ausgerechnet bei einer kommunistischen Zeitung in Stuttgart Gehör. Wie sich rasch zeigte, war sie weniger an meinen poetischen Ergüssen interessiert, sondern vermutete in mir ein journalistisches Talent. So kam es zu einem Volontariat und zur Ausbildung als Redakteur. Meine Reportagen, insbesondere meine Gerichtsreportagen, fanden Anklang. Ich sah mich in den Fußstapfen des „rasenden Reporters“ Egon Erwin Kisch, dessen sorgfältig recherchierte geschliffene Texte ich bewunderte.

1956 wurde die Kommunistische Partei mitsamt ihren Zeitungen verboten, und ich stand auf der Straße. Beim Arbeitsamt eröffnete mir der Mann hinter dem Schalter, angesichts meiner bisherigen Tätigkeit könne er mich in meinem Beruf als Redakteur ebenso wenig vermitteln, wie einen Bäcker mit Bäckerkrätze. Das ist eine Erkrankung der Haut an Händen und Unterarmen, die durch Mehl oder Mehlzusätze hervorgerufen wird. Sie macht einen Bäcker berufsunfähig.

Der krasse Vergleich brachte die Zeitumstände auf den Punkt. Eine neue Stelle fand ich bei der Wochenzeitung „Die Tat“, die der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes nahe stand. Als journalistischer Begleiter einer Gruppe von Antifaschisten reiste ich 1957 in die Sowjetunion. Dort wurde ich Zeuge von ergreifenden Begegnungen zwischen ehemaligen deutschen KZ-Häftlingen und ihren russischen Leidensgefährten.

Hinter vorgehaltener Hand erfuhr ich, dass sowjetische Kriegsveteranen nach der Befreiung aus deutscher Haft in ihrer Heimat abermals eingesperrt worden sind. Mit einem von ihnen, er hieß Nikolaj Poljakow, verband mich eine kurze Brieffreundschaft. Sein Überleben im KZ Buchenwald war als Kollaboration mit den Faschisten gedeutet worden. Das machte meine Zweifel an der Richtigkeit des Weges der Sowjetunion zur quälenden Gewissheit.

Zu später Stunde

Müde wie ein Vogel auf matten Schwingen
irrt meine Seele durch die sternlose Nacht.
Meere wollte ich und Stürme bezwingen,
aber alles kam anders, als ich gedacht.

Ich hoffte, die blaue Insel zu finden,
hinter dem Horizont, am Ende der Welt –
wer tröstet zu später Stunde mich Blinden,
der ein Irrlicht dereinst als Leitstern gewählt.

Bei aller Enttäuschung verlor ich nicht aus den Augen, dass der Aussöhnung mit dem Westen die Verständigung mit dem Osten folgen musste, wollte Europa jemals Frieden finden. Kritisch setzte ich mich mit den Scharfmachern in den Reihen der Vertriebenen auseinander, unter denen oft genug alte Nazis waren wie Theodor Oberländer, der schon 1923 bei Hitlers Münchner Putschversuch mitmarschierte.

Über ihn schrieb ich 1959 für „Die Tat“ einen Artikel, der von der möglichen Verstrickung des damaligen Bundesvertriebenen-Ministers in Massenmorde während des zweiten Weltkrieges im ukrainischen Lemberg handelte. Oberländer ließ die Zeitung beschlagnahmen und bewirkte damit genau das, was er verhindern wollte, eine öffentliche Diskussion über seine Vergangenheit. Sie endete mit dem Rücktritt des Ministers. Konrad Adenauer bezeichnete Oberländer am Ende selbst als „tiefbraun“.

30 Jahre später meinte ein Historiker aus dem Umfeld der CSU, Oberländers Rücktritt sei „in der Sache“ unbegründet gewesen. In seiner Dissertation behauptete er, alle – wie er sich ausdrückte – antifaschistischen, neomarxistischen oder sonstigen restaurationskritischen Theorien zur misslungenen Vergangenheitsbewältigung gehörten in „das Reich der Legende“. Um seine These zu belegen, führte er unter anderem an, eine empörte Öffentlichkeit habe 1964 die Verleihung des Großen Bundesverdienstkreuzes an einen Mitschuldigen an Auschwitzverbrechen verhindert.

Über die vermeintlich gelungene Vergangenheitsbewältigung lässt sich trefflich streiten, nicht aber über die angeblich verhinderte Ordensverleihung, die der Verfasser schlicht erfunden hat. Passiert war in Wirklichkeit Folgendes. Unbemerkt von der Öffentlichkeit wurde kurz nach Beginn des Auschwitzprozesses ein Mann geehrt, der als ehemaliger Direktor des IG-Farben-Konzerns 1948 zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt worden war, und zwar wegen Mitverantwortung für die Ausbeutung von Auschwitzhäftlingen zu Sklavenarbeit. Sein Name: Dr. Heinrich Bütefisch.

Als ich davon erfuhr, war ich fassungslos. Auf der ersten Seite der „Tat“ erinnerte ich an die unrühmliche Vergangenheit des Geehrten und bezeichnete den Vorgang als teuflische Satire. Aber was in einer antifaschistischen Zeitung stand, galt als kommunistische Hetze und wurde ignoriert.

Nun hatte ich allerdings auch einen Artikel für eine jüdische Zeitung in der Schweiz geschrieben, die das Präsidialamt in Bonn um eine Stellungnahme bat. Dort stellte man sich zunächst unwissend, alarmierte aber sofort den Bundespräsidenten Heinrich Lübke, der umgehend die Rückgabe des Bundesverdienstkreuzes anordnete. Alle Beteiligten waren über die Unlust zur Beschäftigung mit der Vergangenheit gestolpert.

Derjenige, der nicht in der Lage war, das Ereignis wahrheitsgemäß zu beschreiben, leitet heute die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung, und heißt Manfred Kittel. Ausgerechnet ihm die Darstellung der europäischen Vertreibungs-Geschichte anzuvertrauen, konnte nicht gut enden. Das von ihm entworfene Arbeitskonzept relativiert die Schuld Nazideutschlands und ignoriert die Lebenserfahrungen von Millionen Europäern. Nicht die beiden Weltkriege nehmen in der Rangfolge prägender Merkmale den ersten Platz ein, sondern die – wie es heißt – „nationalen Homogenisierungsversuche“.

Gemeint ist damit die Entstehung neuer Nationalstaaten. Manche argumentieren folgender Maßen: Wenn Polen nach dem des ersten Weltkrieg nicht als selbständiger Staat wiedererstanden wäre, und wenn die Siegermächte den Tschechen nicht erlaubt, hätten, einen eigenen Staat zu gründen, dann hätten sich die dort lebenden Deutschen als Minderheit nicht unterdrückt fühlen müssen, und Hitler hätte ihr Los nicht zum Vorwand für Krieg und Gewalt nehmen können. Das heißt: Schuld an allem Elend waren eigentlich die Sieger des ersten Weltkrieges.

Über das Intrigenspiel etwa zwischen den Wortführern der sudetendeutschen Minderheit und der Naziführung schweigt sich das Konzept aus. Für die deutschen Hitlergegner waren die Folgen des Komplotts doppelt schmerzhaft. Auch für sie gab es am Ende kein Bleiben.

Für meine Frau – Geschrieben 1997

Wenn mich im fahlen Morgenlicht
die Last der Träume niederdrückt,
die eine dunkle ferne Zeit
als finstre Boten zu mir schickt,
dann suche ich nach deiner Hand.

Wenn dann dein Puls an meinem schlägt
verspüre ich Geborgenheit,
und was ich eben noch geträumt
von Flucht und Heimatlosigkeit,
hast du mit e i n e m Wort verbannt.

Die Legende vom Versagen und der Schuld der Sieger des ersten Weltkrieges werden wir im Laufe dieses Gedenk- und Jubiläumsjahres noch oft genug hören, und auch die vom Unrecht der Sieger des zweiten Weltkrieges, das sie angeblich mit ihrem Ja zur Abschiebung der Deutschen aus Polen und der Tschechoslowakei begangen haben.

Dass die Alliierten angesichts der von den Nazis hinterlassenen Leichenberge und der europäischen Trümmerlandschaft den Missbrauch von Minderheiten für kriegerische Zwecke ein für allemal ausschließen wollten, wird nicht zur Kenntnis genommen. Im Konzept für die Arbeit der Vertreibungsstiftung wird das komplexe Thema so dargestellt: „Früheres Unrecht, auch wenn es noch so groß war, schafft keine rechtliche oder moralische Legitimation für neues Unrecht.“

Sollte also die Ermordung von sechs Millionen Juden und einer halben Million Sinti und Roma folgenlos bleiben, sollten die Millionen Opfer unter der Zivilbevölkerung in Osteuropa, der Besatzungsterror, der Hungertod von Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen, sollte all das ungesühnt bleiben?

Wer sind wir eigentlich, dass wir den Anderen Moral predigen und ihnen vorschreiben wollen, was Recht ist und was Unrecht? Wer sind wir eigentlich, diejenigen, die Europa vom Faschismus befreit haben, auf eine Stufe zu stellen mit den Naziverbrechern?

Unwidersprochen konnte der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr, Heinz Trettner, behaupten, der Krieg gegen die Sowjetunion sei ein Präventionskrieg gewesen, also ein Krieg zur Abwehr eines drohenden Angriffs, der Deutschland aufgezwungen worden sei. Der CDU-Politiker Alfred Dregger bedauerte den Krieg gegen die Sowjetunion nur aus einem einzigen Grund, weil er „nicht als Befreiungskrieg, sondern als Eroberungskrieg“ geführt worden sei.

Dieselben Leute, die anderen Gleichmacherei und Indoktrination vorwerfen, möchten dem vereinten Europa eine einheitliche Erinnerung verordnen. Wie die aussehen soll, hat die lettische Europa-Abgeordnete und ehemalige Außenministerin ihres Landes, Sandra Kalniete, deutlich gemacht. Nach ihren Worten sind Nazismus und Kommunismus „gleich kriminell“ gewesen. Es dürfe niemals eine Unterscheidung zwischen ihnen geben, „nur weil die einen auf der Seite der Sieger gestanden“ haben. Danach stehen also die sowjetischen Soldaten, die Auschwitz befreit haben, moralisch auf derselben Stufe, wie die SS-Schergen, die das Lager bis dahin bewachten.

In Wirklichkeit geht es natürlich um etwas anderes: der Kommunismus als Menschheitsidee, die die bestehenden Besitzverhältnisse in Frage stellt, soll tödlich getroffen werden, indem man sie gedanklich an den Holocaust kettet. Die große Auseinandersetzung mit der kommunistischen Weltmacht China wirft ihre Schatten voraus.

Der plumpe Antikommunismus aus der Zeit des Kalten Krieges hilft da nicht weiter. An seine Stelle soll, wie Bundespräsident Joachim Gauck vorgeschlagen hat, ein „aufgeklärter Antikommunismus“ treten, der aus der „Erfahrung von Willkür und Unrecht“ entstanden sei, obwohl das letztlich Jacke wie Hose ist. Jedenfalls hält er ihn für ein „Erfordernis zur Verteidigung unserer politischen Kultur, und – aus Empathie mit den Opfern – als ein Gebot des Humanismus“.

In der Tat erwarten die Opfer des Stalinschen Terrors völlig zu Recht, dass auch ihr Leid gewürdigt wird. Warum das allerdings an einem gemeinsamen Gedenktag für die Opfer aller totalitären Regime geschehen soll, den das Europäische Parlament vor fünf Jahren beschlossen hat, leuchtet nicht recht ein. Dazu sind die Lebenserfahrungen der Menschen in Ost und West wohl doch zu verschieden. Nicht von ungefähr haben sich bislang nur fünf der 28 EU-Mitgliedsstaaten der Idee angeschlossen.

Zu den Initiatoren des gemeinsamen Gedenktages gehört der Sprecher der Sudetendeutschen Landsmannschaft, Bernd Posselt, der von der CSU ins Europa-Parlament entsandt worden ist. Sein Beitrag zur Einebnung der europäischen Geschichte besteht darin, die Vertreibung der Deutschen als „gezielten Völkermord“ zu denunzieren und dem millionenfachen Mord an den Juden gleichzustellen.

Der in Pforzheim geborene Politiker steht damit in der Tradition eines seiner Vorgänger, des Altnazis Walter Becher, der den Massenmord an den Juden herablassend mit dem Satz kommentierte: „Holocaust war überall“. Das aus dem Munde eines Mannes zu hören, der als Kulturredakteur einer Nazizeitung für die „Entjudung“ des sudetendeutschen Kulturlebens gekämpft hat, ist schwer zu ertragen.

Es waren Leute seines Schlages, die Hitler in seinem Überlegenheitswahn gegenüber den Slawen bestärkt und die ihm den Weg in den Krieg geebnet haben, ohne den Millionen Deutsche und Millionen andere noch immer dort leben würden, wo sie immer gelebt haben. Dem gesellschaftlichen Ansehen Walter Bechers hat das nicht geschadet. Seine politische Vergangenheit wurde nicht als eine Art von Bäckerkrätze gedeutet, die mir als Makel ein Leben lang anhing.

40 Jahre nachdem ich meine Heimat wegen anderer Leute Schuld hatte verlassen müssen, sah ich das Land meiner Kindheit erstmals wieder.

In der alten Heimat

Lange suche ich im grauen Gesicht der alten Gassen
nach einem Zeichen der Vertrautheit,
aber die Steine sehen mich teilnahmslos an.
Kalt fährt es mir unvermittelt durchs Herz:
Hier hast du nichts mehr verloren.

Draußen dann vor der Stadt das unvergleichliche Bild
der böhmischen Landschaft. Nirgendwo sonst
entflammt der September das Ahornlaub so in leuchtendem Rot,
verströmt so verschwenderisch die Erde
ihr Blut an den herbstlichen Himmel.

Wie in der Dünung eines gütigen Ozeans
wiegen rostfarbene Felder sich von Hügel zu Hügel,
und der frische Acker duftet wie in den Tagen der Kindheit.
Behutsam legt die Erinnerung ihren Arm um mich
und lässt mich die Kälte des Abschieds vergessen.

Inzwischen schieben sich neben die Erinnerung an die alte Heimat auch andere Bilder. Wenn es mich im Traum in ein fernes Land verschlägt, sehne ich mich nach der norddeutschen Landschaft, nach dieser Stadt, die seit 50 Jahren mein Zuhause ist, wo meine Kinder leben, meine Enkel und meine Urenkel, wo meine Frau begraben ist. Ich sehne mich nach der Weite des Watts und dem unendlichen Himmel beim Gang über den Deich.

Persönliche Gefühle sollten niemals zu politischen Zwecken missbraucht werden. Das hat mich immer abgestoßen. Ich habe auch nicht verstanden, dass Helmut Kohl 17 Jahre nach dem Untergang des so genannten Dritten Reiches erklärte, der zeitliche Abstand sei noch zu kurz für ein abschließendes Urteil über den Nationalsozialismus. Ich war dabei, als er das gegenüber dem Initiator des Auschwitzprozesses, Fritz Bauer, geäußert hat. 17 Jahre nach dem Ende der DDR hat niemand gesagt, der zeitliche Abstand sei noch zu kurz für ein abschließendes Urteil über den dort praktizierten Sozialismus.

Und es hat auch niemand danach gefragt, warum es so etwas wie die Montagsdemonstrationen gegen die kommunistische Herrschaft in der DDR nicht auch gegen die Nazidiktatur gegeben hat. Es liegt wohl an der inneren Disponiertheit eines Großteils der Deutschen. Auch in anderen Ländern hat es nach dem ersten Weltkrieg Massenarbeitslosigkeit gegeben, aber nur in Deutschland sind Millionen einem Hetzer wie Hitler nachgelaufen.

Der ungarische Schriftsteller und Dramatiker Sándor Márai spricht in seinem Roman „Bekenntnisse eines Bürgers“ von einer „inneren Unordentlichkeit“ der Deutschen. Ich möchte Ihnen diese kurze Passage nicht vorenthalten. Sie zeugt vom Kummer der Vielen, die an ihrem Land gelitten haben und im Exil daran zerbrachen, dass es ihnen nicht Heimat sein wollte, Stefan Zweig, Joseph Roth, Else Lasker-Schüler, Kurt Tucholsky, Paul Celan, und eben auch Sándor Márai:

„Heimlich befiel mich in dieser langen Nacht schon das Heimweh nach dem anderen, dem bekannteren, heimischeren, dem treulos verlassenen Europa, dem anderen Deutschland. Ja, vielleicht waren die Deutschen wirklich gefährlich für Europa mit ihrem ungesühnten mythischen Schuldbewusstsein, ihrem erbarmungslosen Ordnungsdrang und ihrer inneren Unordentlichkeit.“

„Doch hinter diesem pedantischen und wirren, säbelrasselnden und in seiner Furcht kämpferischen und manisch organisierenden Deutschland dämmerte deutlich und unauslöschlich in sanftem Schein das andere, und wer wusste, wer wagte zu sagen, welches das wahre ist.“ (S.315/316, Piper Verlag, München 2000).

Wie ein roter Faden zieht sich die „innere Unordentlichkeit“ der Deutschen durch die Geschichte. Sie bewirkt jene Ambivalenz im Urteil unserer europäischen Nachbarn, die manche als Undankbarkeit empfinden. Irritiert stellte die „Süddeutsche Zeitung“ unlängst fest: „ Je mehr Deutschland den Takt angibt in der Gemeinschaft, desto mehr Widerstand provoziert es.“

Wenn es um Auslandseinsätze geht, sieht die Sache plötzlich ganz anders aus. Da sollen wir den Takt angeben, da sollen wir uns einmischen, auch militärisch. Wahrscheinlich weil es dann für die anderen billiger wird Nach den Worten von Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier ist Deutschland „zu groß, um die Weltpolitik nur zu kommentieren“. Es werde „zu Recht von uns erwartet, dass wir uns einmischen.“ (SZ 30.1.2014)

Bei seinem Parteifreund Rudolf Scharping hörte sich das einst ianders an. „Das wollen wir nicht mitmachen“, sagte er als SPD-Vorsitzender zu der Forderung, „die Deutschen müssten, wie alle anderen auch, überall auf der Welt militärisch intervenieren können“. Das war 1993. (FR 9.10.1993) Wenige Jahre später schickte ein Sozialdemokrat deutsche Soldaten nach Afghanistan, weil am Hindukusch Deutschlands Sicherheit verteidigt werden musste.

Inzwischen hat eine CDU-Verteidigungsministerin und Mutter von sieben Kindern die Mütter in Deutschland darauf vorbereitet, dass ihre Söhne und Töchter nach Afrika geschickt werden könnten, um dort die Sicherheit Deutschlands zu verteidigen und Terroristen zurückzudrängen. Was würde sich Ursula von der Leyen vergeben, wenn sie hinzufügte, dass es auch um anderes geht, in Mali beispielsweise um Uran, das Frankreich für seine Atomkraftwerke dringend benötigt.

Oder darum, der chinesischen Konkurrenz bei der Ausbeutung der afrikanischen Bodenschätze Paroli zu bieten. Das kommunistische China ist inzwischen größter Handelspartner einer Vielzahl afrikanischer Staaten und – was einem schier den Atem verschlägt – größter Kreditgeber der USA. 2012 stand die westliche Führungsmacht in Peking mit 1,17 Bllionen Dollar in der Kreide.

Ich gehöre nicht zu denen, die Militäreinsätze generell ablehnen, vorausgesetzt sie beruhen auf einem Mandat des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. Nach den Erfahrungen der Vergangenheit muss die internationale Staatengemeinschaft in der Lage sein, einer Bedrohung des internationalen Friedens wirksam zu begegnen.

Leider hat man sich nicht immer an die Regeln gehalten. Daher das Unbehagen vieler Menschen gegenüber Auslandseinsätzen. Mit ihren Überlegungen für ein – wie es verharmlosend heißt – verstärktes weltweites Engagement – ignoriert wieder einmal eine Große Koalition, wie seinerzeit bei den Notstandsgesetzen, den Mehrheitswillen der Bevölkerung. Die wahren Gründe des Geschehens erfahren wir in der Regel erst Jahre später.

So wird das auch beim Konflikt um die Ukraine und die Krim sein. Als sich der Kosovo 2008 von Serbien abspaltete, sah der so genannte Westen keinen Grund zur Kritik. Er hatte das Ganze schließlich inszeniert. Der Internationale Gerichtshof befand in einem Rechtsgutachten, die Abspaltung sei völkerrechtlich nicht zu beanstanden. Das veranlasste den Völkerrechtler Professor Miachael Bothe zu der Feststellung, doppelte Standards, die je nach Sympathie der einen oder anderen Seite Rechtsmäßigkeit oder Unrechtmäßigkeit bescheinigen, dürfe es nicht geben. (SZ 6. 3. 2014, S. 11)

Gestern las ich in der Süddeutschen Zeitung, die Abspaltung eines Landesteils sei nur dann legitim, wenn sie einen Notstand beseitige. Eine Teilbevölkerung dürfe sich von ihrem Staat trennen, wenn sie so bösartig unterdrückt und ihrer ethnischen Eigenheit beraubt werde, dass eine friedliche innerstaatliche Lösung ausgeschlossen sei. Davon könne auf der Krim keine Rede sein. Das mag wohl zutreffen. Dass mit dieser Argumentation die Abspaltung des Sudetengebietes von der Tschechoslowakei durch Hitler für legitim erklärt wird, ist dem Verfasser entgangen, mir als Betroffenem aber nicht. (SZ 14.3.2014)

„Menschen, ich hatte Euch lieb, seid wachsam“, mahnte der tschechische Schriftsteller Julius Fučik, bevor er 1943 in Berlin vom Volksgerichtshof unter Vorsitz von Roland Freisler zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. Wir sollten uns gelegentlich daran erinnern, die Freude am Leben darüber aber nicht vergessen.

Es gibt ja auch anderes, woran sich zu erinnern lohnt. Mein alter Freund Oswald in München und ich, wir freuen uns immer wieder diebisch über unsere Jugendstreiche, wenn wir miteinander telefonieren. Ihm habe ich folgende Zeilen gewidmet, mit denen ich Ihnen den Heimweg erleichtern möchte:

Spaziergang mit einem alten Freund

Wir wandern durch unsre Vergangenheit
wie zwei alte, fast halb taube Hirsche.
Du sagst selbst dann versonnen: Ja, so war’s,
wenn ich mit meinen Zähnen mal knirsche.

Lärmt die Kehrmaschine grade vorbei,
als gäb’s heute keine leiseren Besen,
knurrt einer von uns bestimmt vor sich hin:
früher ist alles besser gewesen.

Die jungen Mädchen, das geben wir zu,
an denen wir seufzend vorüber geh’n,
die sind, verglichen mit früher, na ja
wie soll ich’s sagen, nicht weniger schön.

In diesem Sinne, alles Gute für Sie, und nochmals herzlichen Dank.