Müde, eine Lüge zu leben

16. November 2015

Sage Singer, eine 25-jährige, jüdisch-polnische Bäckerin, lebt in Westerbrook, einer nordost-amerikanischen Kleinstadt nahe der kanadischen Grenze. Ihren Vater verlor sie mit 19, ihre Mutter bei einem Autounfall, bei dem sie am Steuer saß. Seither lebt sie bei ihrer Großmutter Minka, die Auschwitz überlebte. In der Trauergruppe, die Sage seit dem Tod ihrer Mutter vor drei Jahren jede Woche besucht, lernt sie Josef Weber kennen, einen über 90-jährigen Deutschlehrer und Sporttrainer. Sage kommt ihm beim gemeinsamen Schachspiel näher. Er zeigt ihr ein Foto von sich in SS-Uniform und bittet sie, ihn sterben zu helfen und ihm zu vergeben. Verstört geht die junge Bäckerin zur Polizei und gelangt über Umwege zu Leo Stein und Genevra Astanopoulos von der Abteilung für Menschenrechte und Sonderermittlungen beim Justizministerium.
Zu unwahrscheinlich erscheint das, was Sage Singer erzählt. Ein Josef Weber ist in den Unterlagen nicht zu finden. Ein unbeschriebenes Blatt. Sage vernachlässigt ihre Arbeit und ihre wenigen sozialen Kontakte, um mehr über Josef Webers Vergangenheit herauszufinden. In seiner Hoffnung auf Vergebung nennt er ihr seinen wahren Namen, Reiner Hartmann, geboren am 12.04.1918. Und er vertraut ihr sein Leben an. Über die Hitlerjugend und die Wewelsburg gelangen sein Bruder Franz und er in die SS-Kameradschaft, über die Junkerschule in Sondergruppe und Totenkopfeinheit. Das gnadenlose Töten von Frauen und Kindern lernt Reiner Hartmann Ende September 1939 beim Pogrom in Chodziez im besetzten Polen. Über den Einsatz in der Ukraine kommt er nach Auschwitz und wird Leiter des Frauenlagers in Birkenau.
Leo Stein verifiziert Einzelheiten von Josef Webers Schilderungen und kann nach Ausräumung einiger Hindernisse Sage Singers Großmutter Minka befragen, die als Kind mit ihrer Mutter im Frauenlager von Auschwitz war. Aus einer Fotoreihe identifiziert sie den Mann, der die beste Freundin ihrer Mutter erschoss, die Zeugin eines Diebstahls des eigenen Bruders in seinem Dienstzimmer war. Er selbst hatte seine schützende Hand über Minka gehalten und sie als Vorleserin einer von ihr selbst verfassten mystischen Erzählung in seinen Arbeitsräumen beschäftigt. Josef Weber hat einen Zusammenbruch. Im Sterben erzählt er Sage Singer, warum er ihre Großmutter Minka hatte erschießen wollen und stattdessen ihre beste Freundin tödlich traf. Seinem Bruder Reiner sollte ihre Beziehung verborgen bleiben. Vor der Selektion konnte er sie retten, indem er sie krankenhausreif schlug und auf Todesmarsch in Richtung Groß-Rosen schickte. Sie konnte fliehen und bei Bauern untertauchen, wurde verraten, auf Transport geschickt und schließlich in Bergen-Belsen befreit.
Konnte ein SS-Mann wirklich auf Vergebung für einen Mord hoffen, den er begangen hat? Schuldig war er an der Beteiligung am systematischen Massenmord an ganzen Bevölkerungsgruppen aus rassistischen Gründen. Josef Weber wollte sein Gewissen erleichtern, ohne zu bereuen, im Wissen, dass er sich in Verbrechen verstrickt hatte. Vergebung hätte er sich allenfalls von Großmutter Minka erbitten können. Unzählige Zufälle bestimmten über Sterben oder Überleben in Ghetto und KZ. Überleben gelang nicht immer ohne den Tod anderer miterleben zu müssen. Jodi Picoult stellt den dünnen Grat zwischen Mitverantwortung und Überlebenswillen in extremen Ausnahmesituationen auf den Prüfstand.
Jodi Picoult, Bis ans Ende der Geschichte, C. Bertelsmann Verlag München, 554 Seiten, 19,99 Euro, ISBN 978-3-570-10217-6

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