Kolbe
10. September 2015
Ein kleiner Beamter des Auswärtigen Amtes in Berlin wird mitten im Zweiten Weltkrieg zum stillen Helden. Fritz Kolbe war kein Nazi. Beharrlich widersteht er bis zum Schluss allen Aufforderungen seiner Vorgesetzten, der Nazipartei beizutreten. Vor dem Krieg ist er im deutschen Konsulat in Kapstadt tätig. Sein Vorgesetzter, der erzkonservative Konsul Biermann, besteht darauf, Fritz Kolbe zu Kriegsbeginn mit zurück nach Berlin zu nehmen. Carlsroupe, dem Sekretär des britischen Gesandten und Freund, drückt Kolbe zum Abschied einen handgeschriebenen Zettel mit den Codes der Funkstellung und Namen zurückbleibender deutscher Agenten in die Hand. Schweren Herzens lässt er seine Tochter Katrin in Obhut seiner Freunde Hiltrud und Werner Lichtwang in Südwest zurück. Die Überfahrt mit einem niederländischen Dampfer wird zu einer bedrohlichen Höllenfahrt.
Seine Freunde Walter und Käthe Braunwein holen ihn ab und bringen ihn nach Berlin. Eine zentral gelegene Wohnung haben sie ihm auch besorgt. Fritz Kolbe gelangt ins Vorzimmer von Ernst von Günther, Botschafter zur besonderen Verwendung in der Wilhelmstraße. Über seinen Schreibtisch laufen tausende streng geheimer Akten, Bau der V2-Anlage, Entwicklung der Messerschmidt 206, Deportation Römischer Juden, Wannseekonferenz, Verhungern-Lassen sowjetischer Kriegsgefangener, Stimmungsberichte von der Front. Fritz Kolbe soll für die ordnungsgemäße Vernichtung der Akten im Keller des Auswärtigen Amtes sorgen. August 1943 soll er eine Kurierfahrt nach Bern zur deutschen Botschaft antreten. Am rechten Bein befestigt, schmuggelt er brisante, zur Vernichtung bestimmte Akten. Die Zeit ist knapp bemessen. Er muss zurück nach Berlin. Sein Freund Eugen Sacher stellt den Kontakt zu Allen Dulles und William Priest vom amerikanischen Geheimdienst OSS (Office of Strategic Services) her. Nach einem intensiven Verhör werden die mitgeführten Geheimdokumente geprüft. Es geht um Nazi-Agenten in Ankara, Pläne zur Deportation römischer Juden, Wolframlieferungen aus Spanien.
Kolbe begleitet seinen Vorgesetzten Ernst von Günther zu Hitlers Hauptquartier, der Wolfsschanze. Aus dem Gedächtnis zeichnet er Details auf einen Lageplan ein. Originalakten kann er nicht mehr herausschmuggeln, da die Abgabe am Verbrennungsofen dokumentiert wird. Hunderte von Seiten abschreiben, wie soll er das schaffen? Er riskiert es in einer Bunkernacht, Marlene Wiese aus der Charité zur Hilfe zu bitten, mit der er ein geheimes Verhältnis hat. Ein weiteres Mal muss Kolbe nach Bern. An Botschafter von Lützow vorbei soll er geheime Unterlagen an dessen Sekretär Weygand geben. Erneut kann er Allen Dulles sprechen und ihm seinen selbstgefertigten Lageplan von Hitlers Hauptquartier übergeben, außerdem Pläne der Leunawerke, Eichmanns Judenvernichtungsplanungen, einen Geheimsender in Dublin, die Einschätzung amerikanischer Flottenverbände im Pazifik. Als Gegenleistung verlangt er das Herausschmuggeln von Marlene und den Schutz seiner Tochter Katrin. Die Amerikaner sind skeptisch. Sie verlangen Informationen über General Gehlen, über den deutschen militärischen Geheimdienst im Osten und über japanische Verbände im Pazifik. Kolbe gerät in Gefahr, Spielfigur zwischen amerikanischem, britischem und sowjetischem Geheimdienst zu werden. Der Tod seines Freundes Walter Braunwein in Dublin trifft ihn hart. Er fühlt sich daran schuldig und versinkt in Resignation.
Eugen Sacher sucht ihn in Berlin auf und macht ihm die Wichtigkeit der von ihm gelieferten Informationen für die Zeit nach Beginn der alliierten Landung in der Normandie deutlich. Er will ihn im Auftrag von Allen Dulles zurückgewinnen. In der Nazihierarchie beginnen vorsichtige Absatzbewegungen, Goldreserven und Devisen werden in die Schweiz gebracht. Anfang 1945 reist Fritz Kolbe in diplomatischem Auftrag ein drittes Mal in die Schweiz. Er setzt Botschafter von Lützow unter Druck, um ihn für die Alliierten zu gewinnen. Der wählt den Freitod. Noch einmal geht Kolbe zurück nach Berlin, will Marlene herausholen. Kurz vor der Befreiung gelingt es ihnen mit ordnungsgemäßen Papieren bis zur Schweizer Grenze zu fahren, von wo sie bei Nacht von William Priest mit dem Boot herübergeholt werden.
„Kolbe“ von Andreas Kollender ist packend geschrieben, eine Mischung aus dokumentarischer und fiktiver Wiedergabe. Es ist keine Autobiographie, Erläuterungen werden in eine fiktive Interviewsituation mit Schweizer Journalisten verpackt. Kolbes Motive lassen sich erst bei gezieltem Nachlesen erschließen. Seine Tochter darf er nicht nach Berlin mitnehmen. Seine Freunde sind eher konservativ eingestellt. Als Diplomat hat er Vergleichsmöglichkeiten und Auslandskontakte. Aufgrund seiner Kenntnisse geheimer Vorgänge hat er ein klareres Bild über die Kriegslage und über die Verbrechen, die in deutschem Namen begangen werden. Er verlangt kein Geld für seine Kundschafter-Tätigkeit, er will zwei geliebte Menschen beschützen.
Andreas Kollender „Kolbe“, 448 S., Pendragon Verlag Bielefeld, 16,99 Euro, ISBN 978-3-86532-489-4