Der Krieg, den keiner wollte
3. September 2019
„So rollte der Wahnsinn ab“, betitelt Frederick Taylor das letzten Kapitel seines Werks, das die Ereignisse von September 38 bis September 39 aus Sicht des Bürgertums beurteilt. Die Ereignisse seien innerhalb eines Jahren „von der Friedensverheißung in den totalen Krieg“ geschlittert. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs seien sich die Europäer des Preises des Ersten Weltkriegs durchaus noch bewusst gewesen, der Toten, der Zerstörung. Seit Ende des Krieges waren gerade einmal zwanzig Jahre vergangen. Das Ergebnis war der Wunsch, am allgemeinen Leben teilnehmen zu können, was durch die Weltwirtschaftskrise 1929 unterbrochen wurde. In Deutschland führte es zu einem Devisen- und Rohstoffmangel, was scheinbar nur durch neue Eroberungen gelöst werden konnte. Den herrschenden Eliten Englands und Frankreichs unterstellt Taylor, die unfriedlichen Absichten Hitlers nicht erkannt zu haben. Grundlage der Appeasementpolitik Chamberlains war der sich abzeichnende Niedergang des britischen Weltreichs. Vielleicht war es während der Sudetenkrise September 1938 auch die Angst vor Bomben. Chamberlain erhielt zahllose Anrufe aus der Bevölkerung mit der Bitte um Frieden. Das Land schien gelähmt, es gab Notkäufe, Theaterbesuche wurden seltener. Die Akzeptanz des Regimes in der deutschen Bevölkerung beruhte auf den ohne Krieg gelungenen Eroberungen (und in den ersten Kriegsjahren in der Blitzkriegserfolgen). Wiewohl niemand den Krieg wollte, vielleicht nicht einmal Hitler, so Taylor, hätten sie ihn letztlich „toleriert“ und entschlossen daran teilgenommen. Taylor möchte nicht die diplomatische und politische Seite der Vorgeschichte des zweiten Weltkriegs aufrollen, sondern die psychologische Sichtverschiebung des Bürgertums in England und Deutschland. Es geht ihm um die Alltagssorgen und täglichen Abläufe, um Freizeitgestaltung und Familienleben, soweit es noch nicht vom bevorstehenden Krieg beherrscht ist. Er möchte die Alltagsgeschichte erfassen und die Gefühle der Bevölkerung nachzeichnen. Methodisch kann er dabei nach eigener Aussage auf seine Veröffentlichungen über die Bombardierung Dresdens und Coventrys zurückgreifen. Erschreckend für ihn war, dass nur wenige Wochen nach dem Münchener Abkommen die Novemberpogrome gegen die jüdische Bevölkerung stattfanden. Anschaulich belegt er, dass die Ängste vor einer massenhaften Einwanderungen nicht wenige Briten gegen Aufnahme von Juden einnahm. Als Zeitzeuge stehen ihm fast ausschließlich Personen zur Verfügung, die damals Neunjährige waren. Der Krieg blieb ihnen lebhaft in Erinnerung. Als weitere Quellen boten sich Tagebücher und Zeitungsartikel aus dieser Zeit an. Ängste, Hoffnungen, Vorurteile wurden in erheblichem Maße von der Boulevardpresse kolportiert. Tagebücher aus deutschen Archiven belegen, wie sehr sich der durchschnittliche Deutsche der faschistischen Herrschaft anpasste bis dahin, sie schließlich lebhaft zu begrüßen. Überschattet wird Taylors Untersuchung aktuell durch die krisenhafte Wirtschaftsentwicklung und das Aufkommen eines extremen Nationalismus heute. Ein erneuter Krieg sei nicht mehr völlig auszuschließen.
Frederick Taylor, Der Krieg, den keiner wollte, Briten und Deutsche: Eine andere Geschichte des Jahres 1939, 432 S., Siedler Verlag München August 2019 , mit umfangreichen Anmerkungen, Bibliographie und Personenregister, 30 Euro, ISBN 978-3-8275-0113-4
Raimund Gaebelein