Die große Illusion
30. Juli 2019
In den letzten zwanzig Jahren wurden eine Reihe von historischen Untersuchungen veröffentlicht, die eine europäische Sichtweise auf die Jahrhunderte alten Konflikte zwischen den Großmächten herauszuarbeiten versuchten. Der Krieg und die damit verbundene Propaganda wurden in einen gesamteuropäischen Kontext gestellt. Zwischenstaatliche Verträge wurden einer quellenkritischen Prüfung unterzogen. Seither sind in etlichen Ländern eine Vielzahl von Akten aus den Archiven der historischen Forschung zugänglich gemacht worden. Mit dem Erscheinen von Christopher Clarkes „Schlafwandler“ wurde der Versuch einer Revision der Kriegsschuldfrage angestoßen. Das stärkte in Deutschland zahlreiche Geschichtsrevisionisten, Von ihnen wurden Fritz Fischers Darlegungen über den „Griff zur Weltmacht“ wurden heftig angezweifelt.
Eckart Conze hat in seinen Ausführungen über „Die große Illusion – Versailles 1919 und die Neuordnung der Welt“ die Vertiefung der europäischen Integration heute und die Frage der Entwicklung einer internationalen Schiedsgerichtsbarkeit in den Kontext der Friedensverträge mit den besiegten Mittelmächten nach dem Ersten Weltkrieg gestellt. Eine sehr akribische Arbeit, wie das ausführliche Anmerkungs-, Literatur- und Personenverzeichnis belegen. Große Aufmerksamkeit widmet Conze den Grundlagen einer internationalen Weltgemeinschaft, dem Völkerbund. Zu Recht hebt er hervor, dass die Unzulänglichkeiten in der anfänglichen Beschränkung auf die europäischen Siegermächte lagen, dass die USA sich nicht beteiligte, die Dominions und Kolonien nicht daran beteiligt wurden. Ähnliches galt für ein internationales Schiedsgericht, dass wegen Ablehnung von Souveränitätsrechten ein weitgehend zahnloser Tiger blieb. Die Politik der Siegermächte blieb von nationalen wirtschaftlichen Interessen bestimmt.
Im Mittelpunkt seiner Untersuchungen steht die Kriegsschuldfrage, die Conze aus Sicht einer europäischen Verständigung heraus bemüht ist zu relativieren. Zweifellos war die Wahl des Spiegelsaals des Versailler Schlosses als Ort der Unterzeichnung des Versailler Friedensvertrags „eine hohe symbolische Inszenierung“. Die Unnachgiebigkeit bei den Reparationszahlungen haben zweifellos nicht zur „Demobilisierung der Geister“ geführt. Mit der Zerschlagung dreier Vielvölkerreiche erhielten die in ihrem Kampf um die nationale Selbständigkeit bestärkten Völker Österreich-Ungarns, Russlands und des Osmanischen Reichs die Illusion einer Beteiligung am Friedensprozess. Conze stellt deutlich heraus, dass es dabei um eine Neuaufteilung der Einflusssphären ging. Die Vorstellung ethnisch reiner Staatsgebiete wurde insbesondere in Ostmittel- und Südosteuropa zur Grundlage jahrzehntelanger Nationalitätenkonflikte und Pogrome gegen Minderheiten. Für die Völker Asiens und Afrikas war der Friedensprozess nach dem Ersten Weltkrieg der Anfang zur Entwicklung von Unabhängigkeitsbewegungen, die ihren Lohn für die Beteiligung am europäischen Bürgerkrieg einforderten, die nationale Selbständigkeit.
Conze beschreibt die Schwierigkeiten des Demokratisierungsprozesses in Deutschland, dessen führende Politiker dem Versailler Vertrag ablehnend gegenüberstanden, der Realität der internationalen Kräfteverhältnisse aber Rechnung trugen. Der ungezügelte Hass konservativer wie extrem rechter Gruppierungen und Parteien scheute nicht vor Diffamierung und politischem Mord zurück. Hasspropaganda bereitete den Weg zu einer Revision der Verhältnisse. Conze nennt zwei Gründe für die Appeasement-Politik Englands und Frankreichs vor Beginn des Zweiten Weltkriegs: Zugeständnisse zu einer Vertragsrevision und die Hoffnung eine kommunistische Entwicklung in Zentraleuropa verhindern zu können, wenn das faschistische Deutschland als Gegengewicht zur Sowjetunion aufgebaut werde. Er unterlässt es allerdings herauszustellen, dass die erfolgreiche Verhandlungspolitik der Weimarer Koalition aus Sozialdemokraten, Zentrum und den Liberalen eine allmähliche Lockerung der Vertragsbedingungen erreichen konnte. Erst mit der Weltwirtschaftskrise sahen die Herren von Banken, Kohle und Stahl die Zeit gekommen, mithilfe einer finanziellen Unterstützung der NSDAP die Kriegsziele des Ersten Weltkriegs doch noch erreichen zu können.
Eckart Conze, Die große Illusion. Versailles 1919 und die Neuordnung der Welt, Siedler Verlag München, 560 Seiten, 30 Euro, ISBN 978-3-8275-0055-7