68. Täterkinder und Rebellen
2. November 2017
Der Aufstieg der selbsternannten „Alternative für Deutschland“, wachsender Antisemitismus, das Nichtverbot der NPD, die Beobachtung der VVN-BdA durch einschlägige Dienste sind drohende Signale einer erneuten Erkaltung der gesellschaftspolitischen Lage in der Bundesrepublik. 50 Jahre nach dem weltweiten Aufbruch einer ganzen Generation gegen die konservative Erstarrung einer Nachkriegsordnung geraten ihre Errungenschaften in Verruf. Sollte die von Helmut Kohl geforderte „geistig-moralische Wende“ nun von einer Jamaika-Koalition umgesetzt werden? Ausgangspunkt eines „Familienromans“ ist die Ermordung des Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1968 in Westberlin, Hintergrund die weltweiten Proteste gegen den Krieg der US-Regierung gegen die vietnamesische Bevölkerung, der Vormarsch der neofaschistischen NPD in die Landtage, das Infragestellen gesellschaftlicher Normen, deren Wurzeln in die Kaiserzeit zurückreichten, die Unzufriedenheit mit den Ausbildungsinhalten und -formen an Schulen und Universitäten. Hunderttausende junger Menschen erfasste diese Bewegung. Schon der Blick ins Inhaltsverzeichnis des „Familienromans“ enthüllt den tiefgehenden Konflikt von Kriegskindern aus nichtwiderständigen Elternhäusern mit ihrer Elterngeneration. Sahen sie sich als vergessene Generation, war ihr Aufbegehren ein Mythos, wohin sollte sich der gesellschaftliche Aufbruch bewegen, welche Bilanz ist am Ende zu verzeichnen?
Das Schweigen der Eltern über ihre Rolle in den zwölf Jahren Faschismus steht im Mittelpunkt der Gespräche der Autorin Karin Wetterau mit 23 AktivistInnen der Westberliner Studentenbewegung 2007/09, darunter auch Susanne Schunter-Kleemann und Eike Hemmer. „Das ist alles verdrängt worden, dass ganz viele Menschen in Deutschland in dieses Nazi-System verwickelt waren“, sagt Eike Hemmer. Der Aufbruch einer ganzen Generation sollte hin zu einer neuen Welt gehen, daher suchten sie ihre Vorbilder in den Befreiungsidealen der „Dritten Welt“. „Die Bilder sind eindrücklich gewesen: die treibenden Kräfte des Kapitalismus, die um jeden Preis Profit machen wollen ohne Rücksicht auf Menschen, auf Umwelt, auf andere Völker“, sagt Eike Hemmer. Die Auseinandersetzung mit der Verstrickung der Elterngeneration in den „Zivilisationsbruch des 20. Jahrhunderts“ sollte in der Folge zu einer massiven Konfrontation mit der Staatsmacht führen. In der Erfahrung mit der Staatsgewalt und der ersten Niederlage im Frühjahr 1968 polarisierten sich die Beteiligten. Manche entpolitisierten sich und suchten die Selbstverwirklichung in Stadt- und Landkommunen, einige suchten die Selbstbefreiung mit der Waffe in der Hand, einige wenige gerieten ins Fahrwasser des Faschismus. Der größere Teil allerdings suchte die Veränderung im langen Marsch durch die Institutionen, durch Theoriezirkel und geduldige Projektarbeit mit Randgruppen, durch Selbstorganisation oder Anschluss an bestehende Organisationen der Arbeiterbewegung. Die Staatsgewalt reagierte mit 3,5-millionenfacher Überwachung, mit 11.000 Verfahren wegen Verdachts auf Verfassungsuntreue. Fazit der Autorin: „Es ist die große Leistung von 68, sich durch diese Vergangenheit hindurchgearbeitet zu haben, Scham und Schrecken ausgehalten, die Täter ermittelt und angeprangert und schließlich auch eine Sprache für das Leid der Opfer gefunden zu haben…“
Karin Wetterau, 68. Täterkinder und Rebellen. Familienroman einer Revolte, Aisthesis Verlag Bielefeld 2017, 325 S, 28,- Euro, ISBN 978-3-8498-1168-6