Kreuzende Kurse
12. Januar 2015
Die Kontinuität von Verfolgung und Widerstand wird erst mit einem gehörigen zeitlichen Abstand deutlich. In jahrelangen Recherchen hat Walter Mülich lose Enden gesammelt und ein Knüpfwerk gefertigt. Hier vermischen und durchdringen sich in der Tat Bilder, Namen, Schreie, wie er es auch beabsichtigt hat. Mehr als einhundert Opfer faschistischer Gewalt, Chilenen und Deutsche, werden uns in kurzen Biographien nahegebracht, die Täter beim Namen genannt, ihre verbrecherischen Taten beschrieben. Schiffe, wie Aufenthaltsorte geben ihre Geheimnisse preis.
Ausgangspunkt ist eine Reise der chilenischen Viermastbark La Esmeralda von Valparaiso nach Bremerhaven und Lübeck im September 2003. Dreißig Jahre zuvor wurde die Esmeralda aus Rostock zurückkommend im Hafen von Valparaiso von faschistischen Putschisten besetzt, Mannschaften und Offiziere festgenommen, die Viermastbark Folterschiff für unzählige Kommunisten, Sozialdemokraten und bürgerliche Demokraten. 2003 ankerte sie im gleichen Hafenbecken unweit des Liegeplatzes, an dem 1933 das Minensuchboot FM21 lag, bekannt als „Gespensterschiff“. Hier wurden vom SA-Rollkommando Weikenstorfer Hunderte Bremerhavener und Wesermünder Antifaschisten, oft Opfer von Denunziationen, gefoltert und misshandelt, tagelang der Mund verbunden, die Beine zusammengekettet, geschlagen bis zur Bewusstlosigkeit. Der Besuch der Esmeralda führt die Besatzung auch nach Bremen, wo im September 1933 Bremer Arbeiter, Kommunisten und Sozialdemokraten nach Auflösung des KZ Mißler hinter Stacheldraht auf dem Lloydkahn 86 an der Ochtummündung inhaftiert saßen, um unter Bewachung eine Halbinsel in fruchtbares Land zu verwandeln.
September 1940 wurden 690 französische Kriegsgefangene, 1943 rund 1.200 ukrainische und italienische Zwangsarbeiter im Holzhafen auf der „Admiral Brommy“ festgehalten und nach deren Bombardierung im Schuppen 27. Noch Dezember 1938 gelang es jüdischen Auswanderern in letzter Minute mit der Monserrate vom Schuppen 17 nach Valparaiso zu entkommen. An der organisierten Deportation und Vernichtung Bremer und nordwestdeutscher Juden war maßgeblich SS-Standartenführer Walther Rauff beteiligt, der Vorbild und geistiger Vater von Pinochet und Berater bei der Errichtung eines Gefangenenlagers im Süden von Chile wurde. 1941/42 war er als SS-Gruppenleiter im Stab Heydrich maßgeblich für Organisation von Entwicklung, Bau, Ausrüstung, Lieferung und Einsatz von Gaswagen tätig, in denen schätzungsweise eine halbe Million Menschen ermordet wurden. In diesen Tötungswagen kamen auch 570 jüdische Männer, Frauen und Kinder aus Bremen, Bremerhaven und Regierungsbezirk Stade ums Leben, die am 18. November 1941 nach Minsk deportiert worden waren.
„Kreuzende Kurse“ besticht durch die Gründlichkeit der Recherche. 478 Anmerkungen, ein Verzeichnis enthält Kurzbiographien von mehr als einhundert Opfern und über 30 Tätern. Das geknüpfte Netzwerk fordert zu weiteren Nachforschungen heraus. Bremerhavens Oberbürgermeister Melf Grantz ist darin zuzustimmen, dass das Buch „sehr anschaulich geschrieben“ ist, „durch seine schonungslose Beschreibung die Verbrechen und die Schicksale der Opfer vor Augen“ führt. Das gerade macht es so lesenswert.
Walter Mülich, „Kreuzende Kurse: Bremerhaven, Bremen, Lübeck und Valparaiso, deutsche und chilenische Schiffe als Instrument der Unterdrückung, 329 S., Kulturmaschinen Verlag Berlin, Oktober 2014, 19,90 Euro, ISBN 978-3-943977-45-5