Gedenkstätten und Geschichtspolitik

20. Juli 2015

Die verstärkte Europäisierung der historischen Forschung und die zunehmende Infragestellung von Ritualen in der Erinnerungskultur werfen Fragen auf. In acht Beiträgen und einer ausführlichen Dokumentation thematisieren norddeutsche WissenschaftlerInnen aus langjähriger Erfahrung Veränderungen in der Gedenkstättenpolitik. Detlef Garbe (KZ-Gedenkstätte Neuengamme) geht es vor allem um die Perspektive der Gedenkstätten. Von Erstarrung der Erinnerungskultur wird in Feuilletons großer Zeitungen geschrieben, von Pathosformeln und Sinnleere. Hinzu treten verstärkt Angriffe aus Polen, den baltischen Staaten und der Ukraine gegen den antifaschistischen Konsens. Sie erklärten den 23. August 1939 zum Kriegsbeginn (Vertrag zwischen Molotow und Ribbentrop). Vor fünf Jahren bereits hatte das Ename Institut in Deinze eine Konferenz mit Vertretern verschiedener europäischer Gedenkstätten organisiert, bei der im Eingangsreferat faschistische Verbrechen gegen die Menschlichkeit in eine Reihe gestellt wurden mit europäischen Kriegsgräuel seit dem 30-jährigen Krieg.
Dem vorliegenden Heft 16 der KZ-Gedenkstätte Neuengamme liegen Vorträgen einer Tagung in der KZ-Gedenkstätte Ravensbrück vor zwei Jahren zugrunde. Es geht darin um die Erwartungen bei Politikern wie bei gesellschaftlich engagierten Gruppen aus Gewerkschaft und Kirche an die Gedenkstättenarbeit. Es geht um das Wirken von Kräften, die faschistische Verbrechen in eine Reihe stellen wollen mit Ungesetzlichkeiten und Verbrechen in den ehemaligen sozialistischen Staaten. Damit einher geht seit Jahren eine Umwidmung finanzieller Mittel. Es geht im Weiteren um die Fortsetzung der Erinnerungsarbeit, wenn in absehbarer Zeit keine Überlebenden mehr in der Lage sind, über ihre Erlebnisse und ihren Widerstand zu sprechen. Es geht um die Rolle ihrer Nachkommen und der politischen Erben in den Vereinigungen der Zeitzeugen. Verstärkt berühren Forschungen auch Opfergruppen, die keine Vertretungen gründen konnten, sowie Gesprächskreisen von Nachkommen der Täter. Schließlich geht es verstärkt auch um die Frage, wie sich historische Überreste baulicher Art jüngeren Besuchern erschließen, wieweit eine Konservierung Geschehnisse erfassbar machen kann.
Den Weg zur Bildung eines Selbstverständnisses heutiger Gedenkarbeit beschreibt Thomas Lutz (Topografie des Terrors, Berlin). Cornelia Siebeck beleuchtet die staatlich geförderte Gedenkstättenlandschaft der vergangenen 30 Jahre, Detlef Garbe die Veränderungen in der Gedenkstättenkonzeption. Weitere Betrachtungen beschäftigen sich mit den Rahmenbedingungen für das Geschichtsverständnis („Diktaturenvergleich“) und den Erwartungen von BesucherInnengruppen an die Authentizität der Gedenkorte. Besonders sticht dabei die Dokumentation der Auseinandersetzung in Neuengamme um den Einsatz eines Bundeswehrangehörigen als pädagogischer Mitarbeiter heraus.
Gedenkstätten und Geschichtspolitik, Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland Heft 16, 208 S. 32 Abb. Edition Temmen Bremen, 14,90 EUR ISBN 9-783837-84048-3
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