11. Juni 2012
Aus Liebe zur Musik entwickelten die Swingkids in Hamburg, Frankfurt/Main, Berlin, Düsseldorf, die Schlurfs in Wien, die Potkapi (Haubentaucher) in Prag, die Zazous in Paris, Bordeaux, Rouen, Dijon individuelle Ausdruckformen gegen den Marschtritt.
Aus Liebe zur Musik entwickelten die Swingkids in Hamburg, Frankfurt/Main, Berlin, Düsseldorf, die Schlurfs in Wien, die Potkapi (Haubentaucher) in Prag, die Zazous in Paris, Bordeaux, Rouen, Dijon individuelle Ausdruckformen gegen den Marschtritt. Sie wollten lieber tanzen als marschieren. Wolfgang Beyer und Monica Ladurner sind dieser Subkultur unter Naziherrschaft und deutscher Besatzung nachgegangen. In Hamburg gingen Gymnasiasten und junge Kaufleute in Nadelstreifenanzug, Bowlerhut mit aufgerolltem Regenschirm zu Planten un Blomen, zum Curio-Haus, zum Alsterpavillon, um Musik von Louis Armstrong, Benny Goodman oder Duke Ellington zu hören. Sie gerieten bisweilen mit HJ-Streifen aneinander, denen die Haare zu lang, die Kreppsohlen zu laut, die Musik zu englisch waren. Im besetzten Wien waren die Schlurfs eher Arbeiter oder Lehrlinge, ihre Musik, Haartracht und Kleidung entsprachen amerikanischen oder englischen Vorbildern. Ihre Mädchen waren geschminkt und lackierten sich die Fingernägel, was immer wieder zu Pöbeleien führte. Soweit möglich versuchten sie in Tanzschulen ihre Musik zu hören und zu tanzen. Bis Ende 1941 verstärkten die Behörden die Repressionen gegen sogenannte entartete Musik. Swing war populär, hatte Einzug gehalten in die europäischen Großstädte. Idol der Pariser Zazous war Django Reinhardt, der unter deutscher Besatzung einen gewissen Schutz vor Verfolgungen durch die französischen Behörden genoss. Natürlich mussten die Musikstücke abgewandelte Namen bekommen, aus dem beliebten Tiger Rag wurde Tigerzorn, aus dem St. Louis Blues das Elend von St. Louis. Während der Olympiade 1936 in Berlin konnte die Jugend auf der Treppe Originalswing verfolgen. Um den Tiger Rag oder den St. Louis Blues zu hören, bauten sich handwerklich geschickte Jugendliche eigne tragbare Grammophone, auf denen sie im Park mit Freunden Schellackplatten hörten, die sie sich über Soldaten aus dem besetzten Paris oder Kopenhagen besorgten.
Als es mit den anfänglichen Kriegserfolgen Ende 1941 zu Ende ging, verstärkte sich die zunächst individuelle Unterdrückung persönlichen Lebensstils in systematische Verfolgung. Verstärkt fanden Hausdurchsuchungen, Razzien in Vergnügungsstätten und Parks statt, Himmler beauftragte Reinhardt Heydrich, Jugendliche in KZ oder Arbeitserziehungslager zu überführen. Die meisten Jugendlichen waren nicht politisch, sie wollten einfach etwas vom Leben gehabt haben, während um sie herum die Bomben fielen und die Todesrate unter den Soldaten stieg. Die verstärkte Verfolgung trieb sie dazu, sich mit anderen Verfolgten zu solidarisieren. Coco Schuhmanns Cousin Heinz Rothholz und seine Freunde gehörten in Berlin zur Widerstandsgruppe um Herbert Baum, die nach einem Brandanschlag auf Goebbels hetzerische Ausstellung „Sowjetparadies“ verhaftet wurde und unter dem Fallbeil starb. Coco Schuhmann musste ins KZ Theresienstadt. Dort war er mit dem Prager Tangostar Fritz Weiss bei den „Ghetto-Swingers“ im Nazi-Propagandafilm „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“. Coco Schuhmann überlebte Auschwitz-Birkenau, Fritz Weiss starb in der Gaskammer. Hamburger Swing-Fans suchten den Kontakt zur Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ und verfassten Flugblätter. Günter Discher, der lange Jahre Jazzplatten aus dem besetzten Ausland an Gastwirte in St. Pauli verkaufte, wurde 1943 nach drei Monaten Gestapo-Verhör in Ketten ins Jugend KZ Moringen gebracht.
Wolfgang Beyer, Monica Ladurner, Im Swing gegen den Gleichschritt. Die Jugend, der Jazz und die Nazis, 241 Seiten, 21,90 Euro, Residenz Verlag St. Pölten/Salzburg, ISBN 978-3-7017-3218-0 Das Buch enthält ein ausgezeichnetes Glossar, kommentierte Auswahlbiographie, gutes Personenregister