Ansprache zur Gedenkveranstaltung
4. Mai 2010
„Es gibt 300 Tote jeden Tag. Überall Stapel von Leichen, manchmal sorgfältig aufgereiht. Von Zeit zu Zeit bewegt sich eine Hand, öffnet sich ein blickloses Auge.“
Sehr geehrter Herr Thirion, verehrte Anwesende,
ich möchte mit einem Zitat beginnen: „Es gibt 300 Tote jeden Tag. Überall Stapel von Leichen, manchmal sorgfältig aufgereiht. Von Zeit zu Zeit bewegt sich eine Hand, öffnet sich ein blickloses Auge.“ Dieses Zitat, meine Damen und Herren, stammt von Dr. Pierre Fertil. Der 86-jährige Franzose beschreibt damit das erduldete und gesehene Leid im Lager Sandbostel bei Bremervörde, das zum KZ Neuengamme gehörte. In dieses Lager wurde auch unser heutiger Gast, Herr René Thirion, getrieben. Und zwar am 7. April 1945, nachdem er zuvor fast drei Monate im Lager Schützenhof zur Zwangsarbeit verpflichtet worden war. Verfolgung, Demütigung und Entmenschlichung bestimmten seinen Alltag und den Tausender anderer bis vor 65 Jahren, als das KZ Hamburg-Neuengamme und seine Außenlager unter anderem in Bremen endlich befreit wurden. Seien Sie herzlich willkommen, verehrter Herr Thirion. Dass Sie als Opfer an den Ort Ihrer Peiniger zurückkehren und zu uns sprechen werden, empfinden wir als große Geste. Dafür sind wir Ihnen zutiefst dankbar. Die Zeit wird kommen, da die Stimmen der letzten Zeitzeugen verstummen müssen. Umso wichtiger ist es, Gedenk- und Aufklärungsstätten zu den deutschen Menschheitsverbrechen wie die in Neuengamme oder Bergen-Belsen im Bewusstsein auch der nachfolgenden Generationen zu verankern – als Mahnung und als Hoffnung: Wir dürfen nicht nachlassen, uns unserer Geschichte zu stellen und sich mit ihr auseinanderzusetzen. Nur daraus lernen wir, es besser als unsere Väter und Großväter, es besser als unsere Mütter und Großmütter e zu machen. Eine Herausforderung besteht darin, solche Mitbürgerinnen und Mitbürger in die Gedenkkultur einzubeziehen, denen die deutsche Geschichte eher fremd ist oder denen der Bezug zur Zeit des Nationalsozialismus fehlt.
Meine Damen und Herren, das Konzentrationslager Hamburg-Neuengamme funktionierte wie eine Krake im Terrorsystem der Nazis. Mehr als 80 Außenlager in vielen Teilen Norddeutschlands wurden der Bestie angegliedert. Was sie verband, war die Zwangs- Folter- und Mordmaschinerie. Mehr als 100.000 Menschen aus über 20 Ländern wurden zwischen 1938 und 1945 von diesem Monstrum gefangen gehalten. Fast die Hälfte davon überlebte den Horror nicht. Nur, es war kein Tier, das Schrecken, Schmerz und Tod verbreitete. Es handelte sich vielmehr um Männer und Frauen, von denen die meisten nach vollbrachter Tat seelenruhig zum gemütlichen Feierabend in die Familie heimkehrten. Das erste Bremer Außenlager von Neuengamme entstand 1943 in Farge, wo Häftlinge zum Bau des U-Boot-Bunkers „Valentin“ eingesetzt wurden. Insgesamt zählte man zehn Orte der Zwangsarbeit in Bremen und der näherer Umgebung. Das schwere Schuften setzte die Insassen ebenso zu wie die völlig unzureichende Ernährung. Der Schützenhof hier galt vor dem Krieg als Treffpunkt der Schützengilde, während des Krieges war er zunächst Sammelstelle von Bremer Sinti und Roma vor ihrer Deportation und von 1942/43 an Arbeitslager, in dem Aufträge vor allem des Krupp-Konzerns erledigt werden mussten. Das Lager in Gröpelingen wies eine überdurchschnittlich hohe Sterberate unter den Häftlingen aus. Hunger wurde zum Dauerzustand – wie auch die regelmäßigen Misshandlungen durch die SS. Im Frühjahr 1945, die alliierten Truppen nicht mehr fern von den deutschen Konzentrationslagern, ließen SS-Schergen die Lager räumen. Die Zeugen der Gräuel wollte man so oder so „eliminieren“. Es begannen die berüchtigten „Todesmärsche“. Tausende Häftlinge wurden in andere Lager getrieben – zu Fuß oder per Zug. René Thirion gelangte auf Umwege an die Lübecker Bucht und schließlich auf hohe See. Gott sei Dank hat er überlebt.
Meine Damen und Herren, wir sind heute dankbar, dass vor 65 Jahren die Todeslager in Bremen und anderswo von den Alliierten befreit wurden. Gleichzeitig erinnern wir uns an die Geschichte vor der Befreiung, die uns beschämt, die uns unverändert fassungslos macht. Insbesondere aber nimmt sie uns in Verantwortung und verpflichtet uns auf Menschlichkeit und Respekt, Redlichkeit und Toleranz. Und zwar Toleranz im Alltag, nicht in Sonntagsreden. Toleranz gegenüber Fremden und gegenüber Anderssein. Den Menschen, deren Leben die Nationalsozialisten häufig auf bestialische Weise auslöschten insbesondere unter unseren jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, und den Menschen, die dem Terror in letzter Minute entkamen, sind wir es schuldig, braune Ideologien in Deutschland nie wieder aufkommen zu lassen. Doch die Realität sieht anders aus: Hakenkreuz-Schmierereien auf jüdischen Grabsteinen passieren immer wieder. Am Ostermontag wurde das Mahnmal in Neuengamme mit Nazi-Sprüchen und SS-Runen beschmiert. Das schockiert uns. Darüber hinaus fordert es uns heraus, der Aggression von Neonazis den Nährboden zu entziehen. Rechtsextremismus und Antisemitismus bilden eine Gefahr für Mensch und Demokratie. Sie greifen die Basis der Zivilgesellschaft an, in der Menschenrecht und Menschenwürde höchsten Schutz genießen. Bleiben wir also wachsam und wehrhaft.
Vielen Dank!