Ansprache zum 65. Jahrestag der Befreiung Neuengammes und seiner Außenlager

geschrieben von Frau Chris Desaever-Cleuren, Bürgermeisterin der belgischen Samtgemeide Tielt-Winge

4. Mai 2010

Heute stehen wir hier zusammen am Fuß eines Erinnerungszeichens zum Gedenken an die Ereignisse in Meensel-Kiezegem (die beiden SS-Razzien im August 1944).

Heute stehen wir hier zusammen am Fuß eines Erinnerungszeichens zum Gedenken an die Ereignisse in Meensel-Kiezegem (die beiden SS-Razzien im August 1944). Unsere ersten Gedanken gelten zunächst unseren Opfern Emiel Reynders, Guillaume Vanhellemont, Oktaaf Janssens, Eduard Vangoidsenhoven, Richard Hendrickx und René Janssens, die von dem Geschehen ereilt wurden und dabei ihr Leben ließen. Standrechtlich ermordet oder verschleppt und dann körperlich und seelisch gefoltert. Unser Besuch der Todeslager hält uns unmittelbar vor Augen, welche Grausamkeit hier herrschte. Völlige körperliche Erschöpfung infolge von Mangelernährung, knallharter Zwangsarbeit und Folterung mussten zweifellos zum Tode führen. In gleichem Maße werden der lang anhaltende seelische Druck, die beständige Erniedrigung, das System von Unmenschlichkeit zum kaum zu ertragenden Elend geführt haben, das unsere Mitbürger erlitten haben. Nur wenige haben diesen Kreuzweg überlebt, sie alleine wissen und können bezeugen, was dort geschehen ist. Ohne jeden Zweifel haben sich diese Ereignisse fest in ihrer Seele eingeprägt. Nie wieder konnten sie ihr Leben auf dieselbe Weise weiterführen. Unsere Gedanken gelten auch denen, die nach diesen Ereignissen (den beiden SS-Razzien) einen oder gar mehrere Familienangehörige verloren haben. Sie blieben fassungslos zurück, ohne zu ahnen, was ihnen und ihren Lieben bevorstehen sollte. Das angstvolle Warten auf Nachrichten, die vielen Fragen, der Aufschrei nach dem Warum haben zweifellos ihr tägliches Leben wie ein Fluch bestimmt. Die Worte, die mir in den Sinn kommen, vermögen dieses Leid nicht annähernd beschreiben. In aller Güte dieser Ereignisse zu gedenken ist eine würdige Form der Ehrung aller Opfer dieser Übeltaten. Bei aller Erinnerungspflege muss diese Gedenkveranstaltung uns auch zur Besinnung und Analyse leiten. Vor allem, um solche Entgleisungen für die Zukunft auszuschließen. Das bringt uns zu der Frage „Wie konnte es soweit kommen?“ Denn in dem angesprochenen Zeitabschnitt des vergangenen Jahrhunderts ist Meensel-Kiezegem nicht das einzige Dorf, das vom Naziregime getroffen wurde. Auch in den Niederlanden, in Frankreich, Italien und unterschiedlichen osteuropäischen Staaten wurden solche Mordaktionen organisiert. Dazu kommt außerdem noch, was Juden, Sinti und Roma, Behinderten und anderen sogenannten Untermenschen zugefügt wurde. Damit möchte ich den Finger auf die Wunde legen, dass besonders das faschistische Gedankengut die institutionalisierte Gewalt in ihrem Schoß birgt. Früher oder später führt das zu solchen Entgleisungen wie sie auch in Meensel-Kiezegem sich zeigten. Die Geschichte lehrt uns, dass quasi alle totalitären Regime ohnehin in gleichem Maße krank sind. Zweifellos ist diese Feststellung die Ursache dafür, dass die Entschuldigung „wir haben es nicht gewusst“ nicht mehr greift. Auf der anderen Seite gibt es uns allen den Auftrag, der in den allgemeinen Menschenrechten festgelegt ist. Wir haben die Aufgabe, unsere Gesellschaft so zu organisieren, dass Ereignisse dieser Art nie wieder geschehen. Nicht nur die Pflege unseres demokratischen Gedankenguts ist wichtig, in gleichem Maße gilt es dafür zu sorgen, dass es im Sinne der Allgemeinen Menschenrechte auch wächst. Wir dürfen nicht davon ablassen, es beständig weiterzugeben, den kommenden Generationen das Erschrecken mit auf den Weg zu geben, darüber, was damals geschehen ist, und ihr den Weg für ein friedliches Zusammenleben zu zeigen. In friedlichen Zeiten ist die Erinnerung der Menschen immer nur von kurzer Dauer, und sie scheinen keine Lehren aus der Geschichte zu ziehen, die uns doch zu einem dauerhaften Frieden bringen könnten. Auf diese Weise müssen wir uns dafür einsetzen, unsere Mitmenschen zu dem zu erziehen, was ich „Kritische Bürger“ nennen möchte. Menschen, die imstande sind einzuschätzen, welche Grundregeln es für ein menschenwürdiges Zusammenleben gibt, und die sich auch unermüdlich dafür einsetzen. Nur so und mit unablässiger Aufmerksamkeit für einander schaffen wir es, eine Gesellschaft zu bauen, in der für jeden Einzelnen eine menschenwürdige Existenz gesichert ist.

Ich danke Ihnen