13. Fahrt nach Neuengamme

geschrieben von Boris Vicca 24 Jahre (Polizeiinspektior)

6. Mai 2010

Inzwischen sind sechs Jahre vergangen, seit ich mit der Stiftung MK ’44 nach Neuengamme gefahren bin

Inzwischen sind sechs Jahre vergangen, seit ich mit der Stiftung MK ’44 nach Neuengamme gefahren bin. Dieses Jahr wird zum 65. Mal der Befreiung des KZ und des Endes des Zweiten Weltkriegs gedacht. Aufgrund äußerer Umstände konnte ich in den vergangenen Jahren nicht mitfahren. Zu diesem besonderen Jahrestag fand ich, es sei meine Pflicht mir zum Mitzufahren freizunehmen. Es war nicht einfach frei zu bekommen, aber ich bestand darauf, dass mein Urlaubsantrag bewilligt wird. Wie heißt es doch so schön: Beharrlichkeit führt zum Ziel. Ich schreibe diesen Artikel auf Bitte von Ray Gaebelein und höre dabei das Lied der Moorsoldaten. Ich möchte deutlich machen, dass das Darlegen von Gefühlen, wie ich sie in auf dieser Gedenkfahrt erfuhr, nicht so leicht fällt. Besonders nicht für einen jungen Menschen wie mir mit meiner kurzen Lebenserfahrung. Noch nicht ganz von einer Grippe auskuriert, stand ich am 2. Mai mit anderen Mitreisenden am Busbahnhof in Meensel. Ich fühlte mich nicht so besonders, unterdrückte aber den Wunsch mich zu verkriechen und fuhr mit. Wir liefen zuerst Fallingbostel an, wo sich eine britische Militärbasis befindet. Hier besuchten wir ein Armeemuseum. Es erinnerte mich ein wenig an meinen Dachboden, befand sich aber im Keller und war größer. Es war ein kurzer sanfter Einstieg. Als Nächstes hielt der Bus in Bergen-Belsen. Mir war bewusst, dass hier der Naziterror kaum greifbar war. Und doch hinterließ dieser Ort mit seinen langen flachen Hügeln, unter denen Hunderte und Tausende Opfer der Ideologie des Dritten Reichs begraben liegen, einen sehr tiefen Eindruck. Soweit man zwischen den Bäumen dieser Heidelandschaft hindurch sehen konnte, waren diese Grabhügel zu erkennen. Es wirkte wie ein beschaulicher, friedlicher Ort. Die Wahrheit, die unter der Heide begraben liegt, ist allerdings von ganz anderer Art. Auch der Russische Friedhof brauchte mich zum Verstummen. Unter der geringen Größe dieses Friedhofs liegen an die 50.000 Opfer verborgen. Diese Zahlen übersteigen mein Fassungsvermögen. Weiter ging es zum Bullenhuser Damm. Diesen Ort des Schreckens hatte ich schon auf früheren Fahrten besucht. Aber doch wird man jedes Mal wieder ganz still, wenn man in die Gedenkstätte kommt. Jedes Mal habe ich versucht mir ein Bild darüber zu machen, was sich in diesem Keller abspielte. Und immer muss ich feststellen, dass ich es nicht begreifen kann. Was geschehen ist, wirkt zu phantastisch. Als junger Mensch fühle ich mich dabei selbst ein bisschen schuldig. Weil Erwachsene den unschuldigsten aller menschlichen Wesen, den Kindern, ein so entsetzliches Unrecht angetan haben. Als Polizeibeamter habe ich auch schon tote oder schwer traumatisierte Kinder gesehen. Ob man will oder nicht, ein Kind berührt uns Polizisten sehr tief. Man erscheint von bestimmten Dingen abgestumpft zu sein, aber Kinder berühren bei uns eine empfindliche Seite. Im Rosengarten stand ich wieder vor der Tafel, uns anhält an diesem Ort zu schweigen, aber draußen darüber zu sprechen. Das geht mir durch den Kopf, wenn ich heute die Geschichte zu berichten versuche. Bei Abenddämmerung verließen wir den unheilvollen Ort. Am zweiten Tag wurden wir morgens vom Hamburger Senat erwartet. Ein prächtiges Gebäude. Bei den begleitenden Worten zu Krystinyaks Musikkomposition spürten die Gäste die Gefühle des alten Herrn. Auf phantastische Weise formte er Tonfolgen des Horst-Wessel-Lieds „Die Fahne hoch“ um in das herrliche Lied „Die Moorsoldaten“. Als dieses Lied gespielt wurde, erhoben sich alle respektvoll. Nach diesem schönen Empfang fuhren wir nach Neustadt/Holstein, von wo aus wir mit Schiffen zu der Stelle fuhren, wo genau vor 65 Jahren die Cap Arcona und die Thielbeck durch einen britischen Bombenangriff versenkt wurden. Dort, wo beide Schiffe untergingen, bildeten unsere Schiffe mit dem Bug nach innen einen Kreis. Zum Gedenken an die Opfer ließen die Schiffe ihre Sirene ertönen. Hier war nichts von dem zu spüren, was sich damals abspielte, aber die Spannung, die in diesem Moment herrschte, war gut zu fühlen. Das Aussenden der Blumen war eine schöne und ergreifende Geste. Dann folgte das Gedenken an die Opfer der Cap Arcona und der Thielbeck am Denkmal. Respektvoll folgte man der Musik des Moorsoldatenlieds. Der dritte Tag führte uns ins Stammlager Neuengamme. Im „Haus der Erinnerung“ konnten wir lange Listen mit Namen lesen. Unter dem 23. Februar 1945 findet sich zwischen vielen anderen Namen auch der meines Urgroßvaters Frans Pasteyns. Es ist ein Name unter 55.000! Aber das war doch der Name des Mannes den meine Großmutter Papa oder Vater nannte. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass mein eigener Vater ganz plötzlich aus der Familie gerissen wird, und sein Name viele Jahre später auf einem Stoffband verzeichnet ist. Es ist ganz ehrenvoll, bleibt aber doch anonym. Ein Name steht für einen Menschen. Aber genau dieser Mensch hat seine eigene Lebensgeschichte, und da ist – nichts. Für mich schon. Eines Abends fragte ich verschiedene Kriegswaisen, ob sie etwas über meinen Urgroßvater wüssten. Wer war das, wie war er, kannte man ihn im Ort? Fragen, die für mich ohne Antwort blieben. Ich habe mich um einen Menschen bemüht, über den ich gar nicht wirklich etwas weiß. Ich kenne gerade Mal ein klein wenig von seiner Lebensgeschichte, und das ist dazu noch der allerschlimmste Teil seines Lebens. Für manche unbegreiflich, und ehrlich gesagt verstehe ich es auch nicht richtig. An unserem Denkmal „Die Verzweiflung“ haben wir Blumen niedergelegt. Beim Aufziehen der Belgischen Trikolore erklang unsere Nationalhymne als Symphonie. Ich glaube, dass es für alle eines der am meisten bewegenden Augenblicke war. Die sanften Klänge, das langsame Entfalten und Wehen der Fahne, das Wissen darum, wo wir uns befanden, das Erinnern an unsere geliebten Verwandten. Es traf mich tief. Ich habe meinen Urgroßvater nie kennengelernt, aber in diesem Augenblick vermisste ich ihn sehr. Ich kann mir jetzt auch gut vorstellen, wie stark das schmerzliche Gefühl von Verlust für die gewesen sein muss, die ihren Mann, Vater oder Bruder verloren haben. Wie schon am Bullenhuser Damm erhielten wir auch in Neuengamme eine vorbildliche Führung durch Andreas. Ich möchte ihn kurz loben. Er vermittelte uns auch diesmal wieder eine eindrucksvolle Beschreibung der Stätten und hielt sich doch auf recht achtsame Weise bei den bewegenden Gefühlsmomenten für die Gruppe zurück. Das verdient großes Lob! Wir erhielten in den ehemaligen Walther-Werken viel und gut zu Essen, ganz im Gegensatz zu dem, was die KZ-Häftlinge früher immer erhielten. Die Stadt Hamburg hat wirklich den Euro nicht umgedreht, wofür auch ein Wort des Dankes fällig ist. Am Ende hielten wir Totenwache an den Grundmauern des früheren Krematoriums. Dort sind viele unserer Verwandten zur Asche verbrannt. Natürlich wurden auch hier mit der Nationalhymne und dem Senken der Fahnen die nötige Ehre und Respekt bezeugt An unserem vierten und letzten Tag ging es an die Rückfahrt. Nicht ohne an den Orten anzuhalten, an denen Menschen aus Meensel-Kiezegem umkamen. Am Schützenhof erwarteten uns Ray Gaebelein, unser kleiner Freund mit großem Herzen, und die Bremer VVN-BdA. Da waren auch Schüler Bremischer Schulen, was ich ganz wichtig finde. Wozu sind Erinnerungen gut, wenn daran auch Menschen teilnehmen, die die Geschichte kennen? Wenn wir die Jugendlichen nicht an das Gedenken heranführen, lernen sie auch nichts über die Vergangenheit. Erinnerungen sind wichtig für Nahestehende, aber auch Außenstehende sollen betroffen sein. Nach der Veranstaltung, bei der ich über eine Stunde lang in Haltung stand und dabei die Fahne trug, folgten die meisten von uns zu Fuß dem selben Weg, den die KZ-Häftlinge tagtäglich zur Weser zurücklegen mussten. Ein paar von uns sprachen mit den Schülern. Das muss sowohl für die Älteren als auch die Jüngeren eine einzigartige und interessante Erfahrung gewesen sein. Wir bekamen ein leckeres Mittagessen in der Schulkantine. Einige Schüler nehmen es auf sich uns zu bedienen, was ich sehr zu schätzen wusste. Nach dem Essen fuhren wir nach Blumenthal, wo ein letztes kurzes Gedenken stattfand. Ein plötzliches Nasenbluten hinderte mich nicht daran, in dieser letzten Gedenkminute die Fahne mit dem nötigen Respekt zu neigen, beim Niederlegen des Blumengebindes und den Klängen der Europahymne zu grüßen. Nach diesem letzten Gedenken führen wir nachhause zurück. Wir kamen dank der Fahrtkünste unseres Chauffeurs Paul sicher und wohlbehalten zuhause an. Mit ein paar Tagen Abstand habe ich beim Schreiben dieses Artikels für mich alles verarbeiten können. Es waren auch vier eindrucksvolle Tage. Ich bin froh, dass ich diese Fahrt noch einmal mitmachen konnte. Ich bin auch etwas stolz darauf, dass ich beim Gedenken meine Ausgehuniform und die Fahne tragen konnte. Ich habe dadurch alles viel intensiver erlebt. Mir ist klar, dass Manchem Uniform und militärisches Gehabe überholt erscheinen, für mich haben sie Symbolcharakter. Ich trage die Uniform einer Einrichtung, deren Werte ich achte. „Aufpassen, helfen, dienen“ war das Motto der Belgischen Polizei. Zugegeben, Manche haben diese Werte in ihrer Laufbahn nicht ehrenhaft genutzt. Ich halte diese Werte und Normen für mich selbst hoch und will sie in Ehren halten. Ich möchte mich bei der Stiftung MK ’44 bedanken wegen ihrer perfekten Organisation. Wir kamen nie zu kurz, und es hat mir trotz der gefühlsbewegenden Form der Fahrt doch Spaß gemacht. Ich habe dann doch noch mal nachgedacht. Ich hoffe als erstes, dass die Gedenkfahrten weiter alle fünf Jahre stattfinden. In fünf Jahren wird uns wieder eine große Zahl Überlebender der Lager fehlen. Bitte lasst es nicht Grund dafür sein mit großen Gedenkveranstaltungen aufzuhören. Wir haben eine wichtige Aufgabe. Die Gefahr heute liegt nach wie vor im Vergessen und Leugnen des Sterbens!