Rede von John Gerardu zurEinweihung des Gedenksteins für Julius Dickelam 7. Mai 2022 am Friedhof Buntentor

12. Mai 2022

Vielen Dank Dardo Balke und seinem Sohn Richie Gerardo
für euren musikalischen Beitrag zu dieser Veranstaltung.
Mein Name ist John Gerardu und ich darf Sie an diesem Ort
herzlich im Namen des Arbeitskreises „Erinnern an den März
1943“ begrüßen.
Dies gilt in erster Instanz Frau Simone Schuurhuizen, die
Witwe von Julius Dickel, sowie seiner Tochter Linda Dickel, die
gestern beide aus den Niederlanden angereist sind. (Hinweis
darauf, dass sie Deutsch verstehen, aber nicht sprechen).
Mein Dank gilt auch dem Historiker Dr. Hans Hesse, dessen
wissenschaftlichen Forschungen wir überhaupt verdanken,
soviel über das Schicksal der verfolgten Sinti und Roma in
Nordwest Deutschland allgemein zu wissen, insbesondere über
das der Familie Dickel.
Bedanken möchte ich mich beim Vorstand des Bremer Sinti
Vereins, namentlich bei Hermann Ernst und Marcus
Reichert, dafür dass ihr uns Einblick in die Geschichte und
Traditionen eures Volkes gewährt habt.
Martina Höhns als Vertreterin der Senatskanzlei möchte ich
ebenfalls danken. Sie und den Bürgermeister, Andreas
Bovenschulte, haben uns die Finanzierung des
Erinnerungssteins für Julius Dickel durch das Bremer Rathaus
ermöglicht.
Mein Dank gilt auch den Vertreter:innen von Umweltbetrieb
Bremen und vom Landesamt für Denkmalschutz, ohne
deren Unterstützung wir diesen Stein nicht hätten legen
können. Die Steinmetzin Katja Stelljes dafür, dass sie den
Stein und die Inschrift fachkundig gestaltet und montiert hat.
Donnerstag vor einer Woche hat übrigens der Beirat Neustadt
die Finanzierung einer DENKORTE Stele, die an die Verfolgung
der Sinti und Roma erinnert, bewilligt. Diese soll am 19.
November dieses Jahres im hinteren Teil dieses Friedhofs eingeweiht werden.

Dem Beirat Neustadt gebührt ebenfallsunseren Dank!
Der Arbeitskreis „Erinnern an den März ‚43“ möchte in der
Öffentlichkeit auf das Schicksal und vor allem die Verfolgung
der Sinti und Roma in Bremen aufmerksam machen. Dieser
Arbeitskreis der trifft regelmäßig zusammen. In ihm sind sowohl
der Sinti Verein Bremen und Bremerhaven, wie auch Hans
Hesse, die VVN-BdA, das Kulturzentrum Schlachthof und andere
vertreten.
Der Arbeitskreis benannte sich nach dem Datum der
Deportation der Sinti und Roma aus Nordwestdeutschland
während des Nationalsozialismus. Von hier ging es über den
Bremer Schlachthof nach Auschwitz-Birkenau.
Im Laufe seiner Recherchen stieß Hans Hesse u.a. auf das
Schicksal der fast vollständig ermordeten Familie Petrus Dickel,
von dem nur der Sohn Julius überleben würde. Weitere
Recherchen ergaben, dass sich das Familiengrab der Eltern von
Petrus Dickel immer noch auf dem Friedhof von Buntentor
befindet. 1929 wurde dessen Vater Johann nämlich hier
beerdigt. Es ist wahrscheinlich das älteste erhaltene Sinti Grab
in Bremen.
Ein Zufall ergab, dass wir uns wesentlich intensiver mit dieser
Familie befassten. 2019 fuhr ein Teil des Arbeitskreises nach
Westerbork in den Niederlanden. Das dortige
Erinnerungszentrum wurde im ehem. Durchgangslager
Westerbork eingerichtet. Von hier wurden ab Juli 1942
sämtliche 105.000 Juden und am 19. Mai 1944 fast 250 Sinti
und Roma aus den Niederlanden nach Auschwitz, Sobibor,
Theresienstadt und Bergen-Belsen deportiert.
Ein wissenschaftlicher Mitarbeiter fragte uns, ob wir Auskunft zu
einer Familie Dickel in Bremen geben könnten. Hintergrund
dieser Frage war, dass sich eine Linda Dickel aus Rotterdam an
das Erinnerungszentrum in Westerbork gewandt hatte, ob sie
Informationen zu einem Julius Dickel aus Bremen hätten. Diese
Frage wurde an uns weitergeleitet. Als wir diese Frage bejahten,
erhielten wir ihre Kontaktdaten.
Zurück in Bremen tauchte Hans Hesse noch mehr in die
Geschichte der Familie ein, während ich, weil ich Niederländischspreche,

Kontakt mit Linda aufnahm. So schlossen wir
Bekanntschaft mit der Tochter von Julius Dickel. Erstmals erfuhr
sie von uns, was mit der Familie geschehen ist und welches
Schicksal konkret ihr Vater erlitten hat. Und das ist der einzig
schöne Teil dieser Geschichte.
Die andere Seite der Geschichte ist traurig und brutal.
Julius Dickel – und ich betone nochmals, er war der einzige
Überlebende seiner Familie – hat 1968 in Groningen Simone
Schuurhuizen geheiratet. Mit ihr bekam er Dezember ‚69 eine
Tochter, eben Linda. Traumatisiert durch seinen Aufenthalt in
mehreren NS-Lagern, beeinträchtigt durch die ständige
Einnahme von Medizin, darunter schwere Depressiva, lebte
Julius nach seiner Befreiung ein unstetes Leben. Nur 3-4 Jahre
nach der Geburt von Linda verließ er Frau und Kind in
Groningen. Seine Tochter hat er danach nie wiedergesehen.
Einsam ist Julius Dickel letztendlich 1993 in Offenburg/Baden
Württemberg gestorben. 25 Jahre später wurde sein Grab dort
eingeebnet, weil der Friedhofsverwaltung in Offenburg keine
Verwandten bekannt waren.
Linda hat weder Bilder von ihm, noch ist er in ihrem Gedächtnis
präsent geblieben. Auf Grund ihrer Erkrankung kann auch ihre
Mutter keine weiteren Auskünfte zu Julius geben.
Auf Wunsch von Linda haben wir uns drum gekümmert, dass es
einen Erinnerungsstein geben soll. Denn auch wir als
Arbeitskreis haben ein Interesse daran, dass an Julius Dickel
und seine Familie erinnert wird, denn ihre Geschichte steht
stellvertretend für das Schicksal vieler Sinti und Roma Familien.
Was macht genau die Bedeutung von Julius Dickel aus?
Julius wurde als eins von fünf Kindern der Eheleute Petrus und
Maria Albertine Dickel in Osnabrück geboren. Die Familie zog im
Frühling und Sommer mit ihren Wohnwagen durch den
Norddeutschen Raum, während sie sich ansonsten an mehreren
Adressen in Bremen aufhielt. Julius besuchte die Volksschule an
der heutigen Neustadtswall, Ecke Schulstraße, also hier in der
Neustadt.
Am 8. März 1943 wurde die Familie an ihrer damaligen Adresse
in der Stoteler Straße in Gröpelingen vom Kripo-Beamten Wilhelm Mündtrath verhaftet

und in den provisorisch als Lager
eingerichteten Schlachthof in Findorff gebracht.
Mündtrath war als Dienststellenleiter der Kripo-Leitstelle
Nordwest im Bremer Polizeihaus, die heutige Stadtbibliothek,
zuständig für die Verhaftung und Deportation sämtlicher Sinti
und Roma aus Bremen, Oldenburg und Stade. Nur wenige Tage
später wurden über 300 der inhaftierten Familien von
bremischen Kripobeamten, darunter Mündtrath persönlich, nach
Auschwitz-Birkenau ins sog. „Zigeunerfamilienlager“ gebracht.
Nur wenige von ihnen überlebten, andere waren sog.
„medizinischen“ oder „wissenschaftlich notwendigen“
Experimente ausgesetzt.
Der damals 16-jährige Julius Dickel wurde im Familienlager
ausgesondert, weil er körperlich stark genug erschien, um als
Arbeitssklave eingesetzt zu werden. Auf Anraten seiner Mutter
stimmte er die damit verbundene Verlegung ins Stammlager
Auschwitz zu.
Er überlebte diese Sklavenarbeit in Arbeitskommandos im KZ
Buchenwald, KZ Flossenburg und Theresienstadt.
In Theresienstadt erlebte er, körperlich und seelisch schwer
gezeichnet, seine Befreiung. Die folgenden Monate verbrachte
er in einem Krankenhaus, um eine Typhuserkrankung
auszukurieren.
Es gab weitere körperlichen Verletzungen:
durch einen SS-Mann war ihm ein Zahn ausgeschlagen worden;
ein Peitschenhieb brach ihm das Nasenbein; zudem musste er
während der KZ-Haft oft nachts draußen, auf dem kalten
Zementboden von Bahnhöfen, bei Regen und Kälte, schlafen.
Nach seiner Krankenhausentlassung fuhr Julius Dickel mit einem
Bustransport nach Bremen, der übrigens vom Bremer Carl Katz,
der Vorsteher der Jüdischen Gemeinde in Bremen und ebenfalls
Häftling in Theresienstadt, zusammengestellt worden war.
Hier angekommen wird er mit der schrecklichen Erkenntnis
konfrontiert, dass seine Eltern und Geschwister alle ermordet
worden sind. Er fühlt sich einsam und verlassen und beschließt
zum Grab seines Großvaters Johann auf dem Friedhof in
Buntentor zu gehen.
Von einem Friedhofswächter erfährt er, dass es noch einen
Onkel, einen Bruder seines Vaters, in den Niederlanden geben soll. Der war vor der Machtergreifung der Nazis in die
Niederlanden gezogen und hatte eine niederländische Frau
geheiratet. Dieser Onkel hatte 1931 auch seine Mutter Maria
Dickel, die Großmutter von Julius, zu sich in die Niederlanden
geholt. Als sie dort in Juni 1943 verstarb, gelingt es ihm sie auf
dem Buntentor Friedhof beerdigen zu lassen. Wie dies
geschehen konnte, als alle andere Familienmitglieder bereits in
Auschwitz-Birkenau waren, ist für uns immer noch ein Rätsel.
Julius beschließt bei seinem Onkel in Leersum/NL zu bleiben und
betreibt von dort, teilweise mit Unterstützung eines
niederländischen Anwalts, seine Wiedergutmachung. Sein
Antrag wird von der zuständigen Behörde sorgfältig geprüft,
denn für die „Beantwortung“ (bewusst zwischen
Anführungszeichen) dieser Frage sei es wichtig, (Zitat) „um
festzustellen, ob D. [gemeint ist Julius Dickel, d. A.] überhaupt
in seinem Leben schon gearbeitet hat oder evtl. als
arbeitsscheu zu betrachten ist.“
Zur Erinnerung: Julius Dickel war zum Zeitpunkt seiner
Deportation im März 1943 16 Jahre alt. Welche Arbeit soll er in
diesem Alter schon nachgegangen sein?
Julius litt, wie ich bereits gesagt habe, stark unter den Folgen
der Haft, insbesondere der Typhuserkrankung.
Ohnmachtsanfälle häuften sich. Ebenso tägliche Kopfschmerzen
und epileptische Anfälle. Außerdem litt er unter einer
angstneurotischen Depression. Insgesamt wurde erst 1964 ein
Verfolgungsschaden anerkannt, der eine 30%
Erwerbsminderung zur Folge gehabt hat.
1961 zeigt Julius Dickel den Kripo-Beamten Wilhelm Mündtrath
an, der übrigens auch hier in der Neustadt, in der Friedrich
Ebert Straße lebte.
Dickel warf Mündtrath vor, dass dieser gewusst haben musste,
(Zitat) „dass das Ziel unserer Reise ein Konzentrationslager
und damit die Vernichtung war.“ Er mache diese Aussage erst
jetzt, (Zitat) „weil ich glaubte, solche Personen wie Mündtrath
könnten auf Grund ihrer damaligen Tätigkeit nicht mehr verfolgt
werden.“
Die Anzeige hatte ein Ermittlungsverfahren gegen Wilhelm
Mündtrath zur Folge.Im September 1962 wurde das Ermittlungsverfahren jedoch
eingestellt. Man habe, so der Staatsanwalt, nicht beweisen
können, (Zitat) „dass er beim Transport von
Zigeunermischlingen aus Bremen am 8. März 1943 ins
Konzentrationslager Auschwitz gewusst hat, dass die dort
hinverlegten Menschen einmal getötet werden würden.“
Trotz dieses gescheiterten Versuchs einer justiziellen
Aufarbeitung der NS-Verbrechen an den Sinti und Roma in
Bremen, aber auch bundesweit, ist zu konstatieren, dass – wie
schon bei der Entnazifizierung — es die überlebenden Opfer
waren, die die Verfahren gegen die aus ihrer Sicht
verantwortlichen Kriminalpolizeibeamten initiierten. Ihre
unermüdlichen Versuche, so etwas wie Gerechtigkeit zu
erlangen, schufen quasi als Nebeneffekt überhaupt erst die
Quellen, die es späteren Historikern, wie Hans Hesse,
ermöglichten, die NS-Verbrechen aufzuarbeiten und zwar
weil die Täter in den Verhandlungen gezwungen wurden,
auszusagen,
weil die überlebenden Opfer als Zeugen des Geschehens
ihre Erlebnisse im wahrsten Sinne des Wortes zu Protokoll
gaben,
weil darüber hinaus Ermittlungen angestellt wurden, mit
denen die tatsächlichen oder behaupteten Lücken in der
amtlichen Quellenüberlieferung geschlossen werden
konnten.
Darin liegt der historische Wert dieser Aussagen, wie die von
Julius Dickel, trotz des ohne Zweifel unbefriedigenden Ausgangs
dieser Anzeigen und Wiedergutmachungsanfragen. Keiner der
beteiligten Beamten wurde verurteilt oder in der
Entnazifizierung über den Status eines „Mitläufers“
hinausgehend eingestuft.
Vergessen sollten wir außerdem nicht, wie die
Nachkriegsgesellschaft und die Behörden mit den aus den KZ’s
zurückkehrenden Sinti und Roma umgingen. Die ersten
siedelten sich u.a. in unmittelbarer Nähe von diesem Ort im
Geschwornenweg an. Sie stellten ihre Wohnwagen auf dem
Schulhof der durch alliierten Bombenangriffe zerstörten
Grundschule auf. Beschwerden aus der Nachbarschaft und von der Polizei führten hier

und woanders dazu, dass man die
Familien 1948 an einen zentralen Ort überführte: zum ehem. KZ
Riespott auf dem Gelände der heutigen Stahlwerke. Nur 7 Jahre
später, als die Klöckner Werke und der Senator für Häfen das
Gelände für andere Zwecke beanspruchten, wurden sie unter
Polizeiführung wiederum umgesiedelt, diesmal zur Mülldeponie
an der Warturmer Heer Straße, nicht weit vom „Storchennest“
entfernt.
Dazu ein Zitat des Regierungsdirektors Dr.Löbert aus der
Bürgerschaftsdebatte vom 18. Juni 1955:
„Ein Erfolg sei wenigstens bereits erreicht, denn die im Lager
Riespott ansässigen „Landfahrer“, von denen ein großer Teil
gebürtige Bremer waren, sind sesshaft geworden“. „Sie haben
somit die erste Stufe der Zivilisation erklommen.“
Verehrte Anwesende, Sie können Marcus und Hermann gerne
mal fragen, wie sie ihre Kindheit in Warturm auf diesem vom
damaligen Senat bereitgestellten Platz auf der Mülldeponie mit
seiner „höheren Zivilisationsstufe“ verbrachten. Dies war nach
der Deportation, die Nicht-Berücksichtigung bei der
Wiedergutmachung in der frühen Bundesrepublik bereits so
etwas wie eine „zweite Verfolgung“!
Nun möchte ich Linda Dickel das Wort erteilen (Kurzer
Redebeitrag, John übersetzt). Anschließend legt Linda einen
Blumenstrauß auf das Grab.
Dankeschön an die Anwesenden! Morgenfrüh um 11.00 Uhr gibt
es für Sie die Möglichkeit zu einer Stadtteilführung zum
Thema „Verfolgung von Sinti und Roma“, die Hans Hesse
und ich durchführen. Start ist ebenfalls bei der Kapelle und wir
besuchen nicht nur das Familiengrab Dickel, sondern auch das
Gräberfeld um anschließend noch eine kleine Wanderung zu
anderen Orten hier in der Nachbarschaft zu machen, die im
genannten Kontext erwähnenswert sind.
Schluss der Veranstaltung. Dardo und Richie spielen noch
ein Stück.