Die SS nach 1945. Entschuldungsnarrative, populäre Mythen, europäische Erinnerungsdiskurse
30. Juli 2019
Was wäre aus Deutschland geworden
Die Frage stellt sich mir immer wieder. Ein Nachkriegsdeutschland in dem ein Heinrich Lübke (Barackenlübke) oder Karl Carstens Bundes- und ein Hans Filbinger Ministerpräsident werden konnte. Oder der Chefideologe (Mitverfasser und Kommentator NS-Rassegesetze), Hans Globke, Kanzleramtschef. Der Aufbau der Bundeswehr u.a. durch Adolf Heusinger (Festung Harz) hätte sich sicherlich auch weniger wehrmachtartig dargestellt. Was wäre aus Deutschland geworden, wenn keiner der „Oberen“ noch einmal einen Posten in Politik, Justiz oder Wirtschaft hätte besetzen dürfen. Ein besseres Deutschland auf jeden Fall. Das Wirtschaftswunder à la Ludwig Erhard (seine Ideen kamen aus den End-Dreißiger) wäre langsamer und vielleicht auch nachhaltiger vonstattengegangen.
Das Ganze lief nun Mal anders ab. Neben den NS-Richtern, -Pädagogen, -Politikern, -Beamten und -Militärs gab es aber auch noch die Hard-Core-Nazis, die „überlebt“ haben. Die SS (inkl. Waffen-SS). Über die alljährlichen lettischen „Ehrungen“ der SS wurde berichtet. Aber auch in unserem Land sind noch viele SSler in Amt und Würden gekommen respektive geblieben. Jan Erik Schulte und Michael Wildt beschäftigen sich als Herausgeber des Buches: „Die SS nach 1945 Entschuldungsnarrative, populäre Mythen, europäische Erinnerungsdiskurse“ mit den SS-Schergen in der Bundesrepublik Deutschland. Der Internationale Militärgerichtshof zu Nürnberg hat die SS als verbrecherische Organisation eingestuft. Nichtsdestotrotz sind SS-Täter wie Paul Carell und Joachim Peiper so gut wie ungeschoren davongekommen und konnten später ihre „Kameraden“ in Büchern und Artikeln weißwaschen. Viele von ihnen fanden Obdach bei Reinhard Gehlens Bundesnachrichtendienst (BND) oder man half ihnen wieder „Fuß zu fassen“ in der BRD. In diesem Zusammenhang sei auch der fiktive Roman von Frederick Forsyth, „Die Akte Odessa“, erwähnt. Das Organisationen wie die «Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS e. V. (HIAG)», 1951 als „Traditionsverband“ gegründet, legal existieren konnten, zeigt den Einfluss der SS im Nachkriegsdeutschland.
Aber auch im Bundeskriminalamt (BKA) fanden sich die SSler wieder. So war Eduard Michael in seinem „Vorleben“ als SS-Hauptsturmführer an der Deportation von 4.000 Juden ins Vernichtungslager nach Treblinka in Tschenstochau mitverantwortlich. Beim BKA war er dann zuständig für Einstellung von Personal (Nachtigall, ick hör dir trapsen). Zu allem Überfluss wurde er noch von 1952 bis 1959 BKA-Verwaltungschef.
Natürlich wurde der SS- und KZ-Ornithologe Günther Niethammer an der Uni Bonn habilitiert und später „ordentlicher“ Professor. Die Präsidentschaft der Deutsche Ornithologen-Gesellschaft e. V. (DO-G) hatte er von 1968 – 1973 inne. Auch er wird mit größter Sicherheit „Kameraden“ geholfen haben.
Die SS-Schergen sind verstorben, aber ihre Ideologien leben weiter. Sie haben die Grundlagen nach 1945 in Bildung, Justiz, Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Wissenschaft, übrigens mit Wissen und Willen der damaligen Politiker, gelegt und noch heute belasten sie uns alle.
Das in der BRD die Demokratie nicht ganz den Bach herunter ging, lag allerdings nicht an der SSlern.
Jan Erik Schulte, Michael Wildt (Hg.): „Die SS nach 1945. Entschuldungsnarrative, populäre Mythen, europäische Erinnerungsdiskurse“, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2018, 451 Seiten, 45 Euro, ISBN 9-78-384710820-7