Hände weg von Fritz Bauer! -Über untaugliche Versuche, eine historische Gestalt zu demontieren

21. August 2014


Im Vorwort zu einer Biografie über den 1968 verstorbenen hessischen Generalstaatsanwalt Dr. Fritz Bauer würdigt der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Prof. Dr. Andreas Voßkuhle, den Initiator des Auschwitzprozesses, Fritz Bauer, 2013 mit den Worten: „Der Demokrat und Patriot Fritz Bauer hat an der deutschen Geschichte mitgeschrieben und sie zum Guten hin beeinflusst. Es sollte uns ein gemeinsames Anliegen sein, die Erinnerung an sein Leben festzuhalten und sein Verdienst in würdigem Andenken zu bewahren.“ Im selben Jahr schreibt der Leiter des Archivs und der Dokumentation des Fritz Bauer Instituts, Werner Renz, ein Vorwort zur Neuauflage eines Buches über den Auschwitz-Prozess, in dem Fritz Bauer nicht vorkommt. Wie soll man sich das erklären? Natürlich ist es jedermanns gutes Recht, sich über eine Person der Zeitgeschichte zu äußern oder auch nicht. Aber bei jemandem, der in einem wissenschaftlichen Institut arbeitet, das nach Fritz Bauer benannt ist, fragt man sich schon, ob er vielleicht ein Problem hat mit dem Namensgeber. Ich will versuchen, am Beispiel einiger Ausätze von Werner Renz darauf eine Antwort zu finden.

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2005 erscheint ein Artikel von Renz mit der Überschrift „40 Jahre Auschwitz-Urteil – Täterexkulpation und Opfergedenken“. Darin schreibt er unter anderem, wenn man den Ausgang des Verfahrens betrachte und Sinn und Zweck staatlichen Strafens in NS-Prozessen überhaupt erörtere, falle das Fazit nicht gerade positiv aus. Er fragt, ob es in der bundesrepublikanischen Gesellschaft hinsichtlich der NS-Täter überhaupt ein Strafbedürfnis gegeben habe, und ob der Rechtsfriede und die Rechtsordnung ohne die Bestrafung der „Handlanger“ gefährdet gewesen wären. Auf diese Fragen, so Renz, könne es nur ein klares Nein geben. Hafte dem Auschwitz-Prozess nicht ein Gerechtigkeitsdefizit an, fragt er weiter, wenn man sich vergegenwärtige, dass die Schreibtischtäter vielfach nicht belangt worden seien? Gewiss hätten einige der Angeklagten, „Führer, Volk und Vaterland in Treue ergeben“, den Vernichtungsprozess bedient. Aber die Auschwitz-Täter hätten auf der letzten Stufe des Geschehens gestanden. Als Bürger der Bundesrepublik hätten sie sich später untadelig verhalten, und die Gefahr des Rückfalls in staatlich befohlenes kriminelles Verhalten habe bei ihnen ebenso wenig bestanden, wie der Verdacht mangelnder Rechtstreue gegenüber dem demokratischen Staat.

So massiv wie in diesem Artikel sind die Verfahren gegen NS-Täter und der Auschwitz-Prozess im Besonderen selten in Frage gestellt worden. Schlimmer als das in diesem Artikel geschieht, kann man die Gegner des NS-Regimes und die Hinterbliebenen der Opfer des Holocaust nach meinem Empfinden nicht vor den Kopf stoßen. Die Art und Weise, in der Werner Renz sich über die Angeklagten im Auschwitz-Prozess äußert, erinnert mich an manche Auftritte der Verteidiger während der Hauptverhandlung, über die ich als Journalist für eine jüdische Zeitung in Wien berichtete habe. Täterexkulpation bedeutet im strafrechtlichen Sinne die Aufhebung der Schuldfähigkeit eines Täters. Meint Renz wirklich, die Angeklagten hätten sich die ihnen vorgeworfenen Taten nicht zurechnen lassen müssen?
Desavouiert er damit nicht Fritz Bauer? Er arbeitet doch im Fritz Bauer Institut, das sich dem geistigen und politischen Erbe seines Namensgebers verpflichtet fühlt. Laut Satzung des Fördervereins Fritz Bauer Institut e.V. soll das Institut die Erinnerung an Leben, Werk und Wirken des ehemaligen hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer im öffentlichen Leben wach halten und fördern. Wie verträgt sich das miteinander?

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Im Jahr 2009 nimmt Werner Renz Äußerungen des Historikers Heinz Boberach über ein Gespräch mit Fritz Bauer zum Anlass für „Überlegungen zur einer skeptischen Bilanz Fritz Bauers“. Boberach zufolge soll Bauer kurz vor seinem Tod gesagt haben, es sei vielleicht falsch gewesen, dass er den Historikern mit dem Auschwitz-Prozess habe Arbeit abnehmen und das ganze Ausmaß der Verbrechen habe dokumentieren wollen, ihn dadurch aber verlängert und mehr Zeugen an ihre Leiden erinnert habe, als nötig gewesen sei; es hätte genügen können, die Schuld der Angeklagten nur in einigen hundert oder tausend Fälle nachzuweisen, um sie zur Höchststrafe zu verurteilen. Dazu bemerkt Renz, die von Bauer angesprochenen „negativen Folgen des Auschwitz-Prozesses“ ließen sich unterschiedlich betrachten. Für den Strafrechts- und Strafvollzugsreformer Bauer sei es gewiss nicht akzeptabel gewesen, dass Beschuldigte bzw. Angeklagte mehr als fünf Jahre in Untersuchungshaft gesessen hatten, bis endlich der Prozess begonnen habe. Ein weiterer wichtiger Aspekt bestehe darin, dass sich Zeugen in der Hauptverhandlung anders erinnert hätten, als im Rahmen des Vorverfahrens. Ob der Auschwitz-Prozess, wie Bauer emphatisch erhofft habe, den Deutschen „die historische Wahrheit kund und zu wissen“ gegeben habe, sei ungewiss. Gleichfalls strittig sei, ob das Strafverfahren den Bürgern der Bundesrepublik Lehren erteilt habe. Bauers aufklärerischer Impetus, sein aus Humanismus, aus seinem Menschenglauben geschöpfter volkspädagogischer Ansatz, hätten ihn das leidenschaftlich hoffen lassen. Man sei freilich geneigt, die Sache nüchterner zu betrachten.

Was heißt das? Will Renz damit in Abrede stellen, dass der Auschwitz-Prozess erstmals das ganze Ausmaß des Verbrechens am jüdischen Volk deutlich gemacht und eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit bewirkt hat? Mit dieser Ansicht stünde er ziemlich allein. Oder will er nur Fritz Bauers Anteil an der zeitgeschichtlichen Wende schmälern? Hält es Renz wirklich für eine „negative Folge“ des Auschwitz-Prozesses, dass einer der Hauptangeklagten, der brutale Gestaposcherge Wilhelm Boger, bei Prozessbeginn seit fünf Jahren in Untersuchungshaft saß? Woher weiß er, dass das für den Reformer Fritz Bauer nicht akzeptabel gewesen sein dürfte? Abgesehen davon – Selbstzweifel sind kein negatives Charaktermerkmal. Dass Fritz Bauer sich gelegentlich gefragt hat, ob alles richtig gewesen sei, was er unternommen habe, zeugt von seiner Ehrlichkeit sich selbst gegenüber. Das als „begründete Selbstkritik“ auszugeben, steht niemandem zu.

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Im Jahr 2010 veröffentlicht Renz eine Stellungnahme zu dem Film von Ilona Ziok, „Fritz Bauer – Tod auf Raten“, der von der Deutschen Film- und Medienbewertung mit dem Prädikat „Besonders wertvoll“ ausgezeichnet worden ist. Mit dem Film selbst hält er sich nicht lange auf. Er beschäftigt sich hauptsächlich mit Äußerungen von Zeitzeugen, die seiner Meinung nach einer Überprüfung nicht standhalten. Insbesondere reibt er sich daran, dass der Ministerialdirigent Eduard Dreher vom Bundesjustizministerium als Drahtzieher einer Amnestie durch die Hintertür für NS-Täter bezeichnet wird. Dreher hat bei der im Einführungsgesetz zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten untergebrachten Novellierung des § 50 Abs. 2 StGB eine wichtige Rolle gespielt. Die 1968 vom Bundestag einstimmig beschlossene Änderung sollte hauptsächlich Verkehrssündern zugute kommen, entpuppte sich aber, wie der Rechtswissenschaftler Michael Greve schreibt, auch „als Wohltat für zahlreiche NS-Gewaltverbrecher“ und als eine der gravierendsten gesetzgeberischen Fehlleistungen in der Auseinandersetzung mit dem NS-Unrecht. Renz hingegen meint, in der Forschung sei durchaus offen, ob es sich um eine Panne oder um „Drahtzieherei“ handelt. Was in dem Film als unbestrittene Erkenntnis verkündet werde, ist Renz zufolge „eine mögliche Auffassung – nicht mehr“.

Die abschätzige Bemerkung steht auf wackligen Füßen. Das Echo auf den Fehltritt des Bundestages war überwiegend negativ und ist immer noch nicht verhallt. 2013 bezeichnete Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) die Neufassung des § 50 Abs. 2 des Strafgesetzbuches als „großen Rückschritt“, gemessen an dem Durchbruch in der strafrechtlichen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit durch die Auschwitz-Prozesse, die untrennbar mit der Persönlichkeit von Fritz Bauer verbundenen seien. Das unter Beteiligung des NS-Juristen Eduard Dreher zu Stande gekommene Einführungsgesetz zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten habe, so Maas, schlagartig viele NS-Taten verjähren lassen. Renz hat seinen Lesern nicht gesagt, dass es sich bei Dreher um einen ehemaligen Diener des nationalsozialistischen Unrechtsstaates handelt, der als Erster Staatsanwalt am NS-Sondergericht in Innsbruck mehrmals wegen geringfügiger Delikte die Todesstrafe beantragt haben soll. Die von Renz beanstandete Äußerung, Dreher sei der Drahtzieher einer Amnestie durch die Hintertür für NS-Täter gewesen, findet sich 2011 fast wortgleich in einem Aufsatz der Rechtswissenschaftlerin Prof. Dr. Monika Frommel wieder. Sie schreibt mit Blick auf das Einführungsgesetz zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten: „Unverdächtiger konnte die kalte Amnestie für NS-Täter nicht verpackt werden.“

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2011 veröffentlicht Werner Renz „Anmerkungen zur Entmythologisierung eines NSG-Verfahrens“. Gemeint ist der Auschwitz-Prozess. Die Abkürzung steht für nationalsozialistische Gewaltverbrechen. Renz leitet diesen Artikel wie folgt ein: „Zum 100. Geburtstag Fritz Bauers meldeten sich Verehrer und Kritiker zu Wort. Der Journalist und Jurist Heribert Prantl meinte in der ‚Süddeutschen Zeitung’ ehrerbietig, Bauer habe den
Gerichtssaal ‚zum Klassenzimmer der Nation’ gemacht; der Jurist und Rechtsphilosoph Gerd Roelleke hielt in der ‚Frankfurter Allgemeinen Zeitung’ dem hessischen Generalstaatsanwalt vor, ‚Volksaufklärung durch Strafrechtstheater’ betrieben zu haben. Inwiefern beide Autoren Bauers Intentionen angemessen darstellen, sollen die folgenden Ausführungen zeigen.“ Wer sich in kritischer Absicht mit dem Auschwitz-Prozess befasse, schreibt Renz, der habe es auch mit Mythen tun, die den sachlichen und nüchternen Blick auf das Verfahren verstellten. Da sei zum einen der Mythos Fritz Bauer und zum anderen der Mythos der volkspädagogischen Aufklärung durch NS-Prozesse. Aus Unkenntnis sei oft von konzeptioneller Planung und Vorbereitung des Auschwitz-Prozesses die Rede, wo es schlicht um die Durchführung eines Strafverfahrens nach Recht und Gesetz gehe. Als politischer Beamter habe Bauer seine Behörde mit großer Konsequenz zu einem „vergangenheitspolitischen Instrument“ gemacht und gegen den Widerstand der Frankfurter Staatsanwaltschaft durchgesetzt, dass ihr der Bundesgerichtshof die Verfolgung von Auschwitz-Tätern übertrug. Für die Unwilligkeit der Anklagebehörde gab es nach Meinung von Renz gute Gründe. Der Verbrechenskomplex Auschwitz sei bei der zentralen Ermittlungsstelle in Ludwigsburg in guten staatsanwaltschaftlichen Händen gewesen. Die wiederholt zu lesende Feststellung, ohne Bauer hätte es den Auschwitz-Prozess nicht gegeben, sei „demnach ins sachgerechte Licht zu rücken“. Renz lobt im weiteren Verlauf den Untersuchungsrichter Dr. Heinz Düx, der sich mit großer Tatkraft die von Bauer angestrebte Ahndung der NS-Verbrechen zu Eigen gemacht und auf herausragende Weise der Beweissicherung und Beweisermittlung gedient habe. Ob das Verfahren am Ende zu einem Bewusstseinswandel der Deutschen geführt habe, lasse sich nur recht spekulativ beantworten.

Welcher der beiden eingangs von ihm genannten Autoren die Intentionen Fritz Bauers zutreffend dargestellt hat, sagt Renz am Ende nicht. Auch was ihn zu den „Anmerkungen zur Entmythologisierung“ des Auschwitz-Prozesses bewogen hat, bleibt den Lesern verborgen. Seine Wortwahl lässt auch nicht erkennen, ob er eine Entmythologisierung des Prozesses für notwendig hält, oder ob er sich nur zu einem Faktum äußert. Jedenfalls meint er, wer sich in kritischer Absicht mit dem Auschwitz-Prozess befasse, habe es mit Mythen zu tun, die den nüchternen Blick verstellten. Nur – welchen Grund gibt es eigentlich, sich dem Auschwitz-Prozess in kritischer Absicht zu nähern? Wieso verstellt der Mythos Fritz Bauer den sachlichen und nüchternen Blick auf den Auschwitz-Prozess? Empfinden manche die öffentliche Ausstrahlung Fritz Bauers auch 46 Jahre nach seinem Tod immer noch als so störend, dass sie ihn als historische Gestalt vom Sockel stoßen möchten? Was die Andeutung von Werner Renz betrifft, den Auschwitz-Prozess hätte es auch ohne Fritz Bauer gegeben, da dieser Verbrechenskomplex bei der Ludwigsburger Stelle in guten Händen gewesen sei, so bedarf sie einer Klarstellung. Die zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Ermittlung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen in Ludwigsburg hat keine Prozesse geführt, sondern lediglich Verbrechenskomplexe zusammengestellt und ihre Ermittlungsergebnisse an die jeweils zuständigen Staatsanwaltschaften weiter geleitet. Im Fall Auschwitz wären die Akten vermutlich nach Stuttgart gegangen, weil einer der Hauptbeschuldigten, Wilhelm Boger, seinen Wohnsitz in der Nähe von Stuttgart hatte. Die Stuttgarter Behörden waren bekannter Maßen wenig geneigt, sich mit Auschwitz zu behängen, und auch die Frankfurter Staatsanwaltschaft nahm sich der Sache erst an, nachdem der hessische Generalstaatsanwalt Bauer beim Bundesgerichtshof eine entsprechende Entscheidung herbeigeführt hatte. Das alles weiß natürlich auch Werner Renz.

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In einem Aufsatz mit der Überschrift „Fritz Bauer zum Zweck der NS-Prozesse“ erinnert Renz 2012 an Fritz Bauers Buch „Die Kriegsverbrecher vor Gericht“, das dieser im schwedischen Exil verfasst hat. „Durchaus im Stile eines Praeceptor Germaniae“ habe Bauer dort mit Entschiedenheit dargelegt, dass das deutsche Volk „eine Lektion im geltenden Völkerrecht“ brauche. Mit der ihm eigenen Emphase habe der „patriotische Exilant“ gemeint, ein ehrliches deutsches „J’accuse“ würde das eigene Nest nicht beschmutzen, sondern ganz im Gegenteil das Bekenntnis zu einer neuen deutschen Welt sein. Im Gegensatz zu seinen optimistischen öffentlichen Äußerungen als Generalstaatsanwalt habe Bauer die Situation insgeheim jedoch viel pessimistischer betrachtet und bei sich selbst eine intellektuelle, um der Sache willen gleichwohl erkennenden Auges praktizierte „Schizophrenie“ diagnostiziert. Zu Gunsten der NS-Täter werde man annehmen können, dass sie sporadisch ein schlechtes Gewissen und ein Unrechtsbewusstsein gehabt hätten. Nahezu alle seien der Meinung gewesen, dass sie für ihre staatlich angeordnete Beteiligung an rechtswidrigen Taten strafrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen werden könnten. Nach der Schilderung von Renz empfanden sie es als „schreiende Ungerechtigkeit“, dass es dann anders kam. Bei aller Notwendigkeit, die Verbrechen zu ahnden, dürfte Bauer ihnen gegenüber nicht frei von Gewissenszweifeln gewesen sein.

Mich erstaunt die Kühnheit, mit der Werner Renz den hessischen Generalstaatsanwalt in diesem Artikel als gespaltene Persönlichkeit charakterisiert und ihm Gewissenszweifel gegenüber Nazi-Verbrechern unterstellt, demselben Fritz Bauer, dem er an anderer Stelle vorhält, er habe NS-Täter unterschiedslos „Kriegsverbrecher“ genannt und ihnen „nicht ohne Rigorosität“, vor Gericht „nur die Rolle eines Mittels zum Zweck“ zugewiesen. Nicht weniger erstaunlich ist seine Aussage, zugunsten der NS-Täter werde man annehmen können, sie hätten sporadisch ein schlechtes Gewissen und ein Unrechtsbewusstsein gehabt. Im Auschwitz-Prozess war davon nichts zu bemerken. Keiner der Angeklagten hat sich von seinen Untaten distanziert oder ein Wort des Bedauerns für die Opfer gefunden. Alle hatten nur Mitleid mit sich selbst und empfanden es – wie Renz einfühlsam registriert – „als schreiende Ungerechtigkeit“, zur Rechenschaft gezogen zu werden. Der von Werner Renz lobend erwähnte Untersuchungsrichter Dr. Heinz Düx reagierte auf diesen Artikel mit Erstaunen und außerordentlichem Befremden. Er enthalte seines Erachtens nach Elemente, die als Beginn der Demontage und Desavouierung des Namensgebers des Fritz Bauer Instituts gesehen werden könnten.

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Ein Beitrag von Werner Renz für das 2014 erschienene Begleitbuch zu einer Ausstellung über Fritz Bauer in Frankfurt am Main beginnt mit den Sätzen: „Gemeinhin werden Fritz Bauer und der Frankfurter Auschwitz-Prozess in einem Atemzug genannt. Die ‚Strafsache gegen Mulka u. a.’ vor dem Landgericht Frankfurt am Main, in 20 Monaten und an 183 Verhandlungstagen gegen zuletzt 20 Angeklagte durchgeführt, fand jedoch ohne Bauer statt.“ Später erwähnt Renz in einem Halbsatz Bauers „wichtige Rolle“ in der Vorgeschichte, betont aber nochmals: „In der Hauptverhandlung kommt Bauer nicht vor.“ Dann jedoch spricht er davon, dass es neben der Erstattung zeitgeschichtlicher Gutachten in der Hauptverhandlung einen weiteren Vorgang gegeben habe, der „ganz und gar Bauers Handschrift trug“. Am Ende der Beweisaufnahme habe er „zur Überraschung des Gerichts“ seine „andere Rechtsauffassung“ in den Prozess eingebracht, und zwar habe die Anklagevertretung auf sein Drängen hin beantragt, das Gericht möge die Angeklagten darauf hinweisen, dass in ihrer Anwesenheit in Auschwitz eine „natürliche Handlungseinheit gemäß § 73 StGB“ gesehen werden könne, die sich rechtlich als Beihilfe oder Mittäterschaft zu einem einheitlichen Vernichtungsprogramm qualifiziere, und eine Verurteilung auch ohne konkreten Tatnachweis ermögliche. Diese Rechtsauffassung hätten das Frankfurter Gericht und später auch der Bundesgerichtshof jedoch verworfen. Am Schluss des Artikels schreibt Renz, Bauers Rechtsauffassung habe 2012 eine „überraschende Renaissance“ erlebt, als das Münchner Landgericht II den ehemaligen ukrainischen Wachmann Demjanjuk wegen seiner Tätigkeit im Vernichtungslager Sobibór ohne konkreten Tatnachweis wegen Beihilfe zum Mord verurteilte.

Mit diesem Artikel verhält es sich so, wie mit den meisten anderen. Renz stellt unstrittige Sachverhalte so dar, dass sie Fritz Bauer schlecht aussehen lassen. Im Auschwitz-Prozess kam der hessische Generalstaatsanwalt aus gutem Grund nicht vor: die Vertretung der Anklage lag in den Händen von vier Staatsanwälten, die Fritz Bauer mit dieser Aufgabe betraut hatte. Die Sache so darzustellen, als würde Fritz Bauer zu Unrecht für etwas gerühmt, mit dem er nichts zu tun hatte, ist einer der Seitenhiebe, die Renz immer wieder austeilt. Im Gegensatz zu seiner Behauptung, in der Hauptverhandlung komme Bauer nicht vor, spricht er später von zwei Vorgängen, die ganz und gar Bauers Handschrift getragen hätten. An keiner Stelle lässt Renz erkennen, wie er zu dem auf Drängen Bauers eingebrachten Antrag steht, die Angeklagten davon zu unterrichten, dass sie im Einzelfall wegen Beihilfe oder Mittäterschaft zu Verantwortung gezogen werden könnten. Auch zu seiner Haltung gegenüber der „überraschenden Renaissance“ der Bauerschen Rechtsauffassung im Fall des ukrainischen Wachmanns Demjanjukj äußert er sich nicht. Einem institutsfernen Historiker würde ich diese Distanz nachsehen, einem Mitarbeiter des Fritz Bauer Instituts nicht.

Fazit

Das Schweigen von Werner Renz über Fritz Bauer, seine Bemerkungen über den vermeintlich innerlich zerrissenen „Praeceptor Germaniae“, der den Deutschen die Ursachen ihrer Verführbarkeit bewusst machen wollte und mit sich selbst nicht zurecht kam, all das steht in krassem Widerspruch zu der Aussage des obersten Verfassungsrichters der Bundesrepublik Deutsachland, Fritz Bauer habe die deutsche Geschichte zum Guten hin beeinflusst. Fritz Bauer verkörperte das „andere Deutschland“, mit dem sich Teile der konservativen Elite nie angefreundet haben. Sie möchten die Erinnerung an dieses andere Deutschland und an die NS-Vergangenheit auf ein unvermeidliches Maß zurückschrauben, damit Deutschland seine neue Rolle in der Welt ungehindert wahrnehmen kann. Aber die Erinnerung an die von Deutschen begangenen Verbrechen sind zu fest im kollektiven Gedächtnis der Menschheit verankert, als dass sie jemals vergessen werden könnten. Als der kürzlich verstorbene amerikanische Schauspieler Robin William gefragt wurde, was er auf die Frage einer deutschen Talkmasterin geantwortet habe, warum es in Deutschland so wenig Comedy gebe, antwortete er: „Na ja, ich habe gesagt, habt ihr schon mal überlegt, ob ihr die lustigen Leute vielleicht alle umgebracht habt?“

Fritz Bauer war auch aus anderen Gründen manchen ein Dorn im Auge. Sie nahmen ihm übel, dass er mit seinem im Remer-Prozess erstrittenen Recht auf Ungehorsam der Aufstellung deutscher Streitkräfte in die Quere kam. Nicht minder verübelten sie ihm, dass er den Aufenthaltsort Adolf Eichmanns an die Israelis „verriet“ und damit die Gefahr heraufbeschwor, Eichmann könne etwas über die Verstrickung von Hans Globke in die Judenverfolgung aussagen, ganz abgesehen von dem Ermittlungsverfahren gegen den Staatssekretär im Bundeskanzleramt, mit dem er sich den Zorn der Bundesregierung zuzog.

Ich habe Fritz Bauer schon vor dem Auschwitz-Prozess gekannt. Ich habe ihn in Bad Kreuznach im Streitgespräch mit Helmut Kohl erlebt und während seines Frankfurter Vortrages über die Ursachen des Bösen. Damals sagte er: „Ohne Frage nach den Wurzeln des Bösen gibt es kein Heil und keine Heilung. Nichts gehört der Vergangenheit an, alles ist noch Gegenwart und kann wieder Zukunft werden.“ Von diesem Fritz Bauer finde ich bei Renz so gut wie nichts. Bauers Vortrag über „Die Wurzeln faschistischen und nationalsozialistischen Handelns“, der Schlüssel zum Verständnis des Lebenswerkes von Fritz Bauer, ist ihm allenfalls eine Fußnote wert, obwohl er Fritz Bauer für einen Mann von funkelnder Intelligenz, umfassenden Wissen und klassischer Bildung hält, umgetrieben von heißer Menschenliebe und verzehrender Sorge um das Menschengeschlecht, leidenschaftlich und engagiert, rastlos und unermüdlich, selbstlos und aufopfernd, ein couragierter Streiter und mutiger Kämpfer, aber auch ein seelisch Verletzter. Allem Anschein nach hat Renz persönlich ein gespaltenes Verhältnis zu Fritz Bauer, das ihm den Blick mitunter trübt. Ich bin der Letzte, der ihn deswegen kritisieren würde. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter des Fritz Bauer Instituts ist es jedoch seine Pflicht, ein authentisches Bild von Fritz Bauer zu zeichnen und ihn vor Fehldeutungen zu bewahren.
Kurt Nelhiebel (Träger des Kultur- und Friedenspreises der Villa Ichon in Bremen)

1.Werner Renz, Täterexkulpation und Opfergedenken, Newsletter Nr.27 des Fritz Bauer Instituts (Herbst 2005).
2. Werner Renz,(Un-)Begründete Selbstkritik, Tribüne, Heft 190, 2. Quartal 2009
3. Werner Renz, Mediale Missgriffe – Fritz Bauer im Dokumentarfilm, 2010, Einsicht 04.
4. Michael Greve, Amnestierung von NS-Gehilfen – eine Panne?, Kritische Justiz 2000, H 3, S. 412-424.
5. Monika Frommel, Taktische Jurisprudenz – die verdeckte Amnestie von NS-Schreibtischtätern und die Nachwirkung der damaligen Rechtsprechung bis heute, 2011, Festschrift für Hubert Rottleutner.
6. Werner Renz, Der 1. Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963-1965 und die deutsche Öffentlichkeit. Anmerkungen zur Entmythologisierung eines NSG-Verfahrens, in NS-Prozesse und deutsche Öffentlichkeit, herausgegeben von Jörg Osterloh und Clemens Vollnhals, Vandenhoek & Ruprecht, Göttingen 2011, S. 349-36.
7. Werner Renz, Der 1. Frankfurter Auschwitz-Prozess, 2011, S.350
8. Werner Renz, Fritz Bauer und der Auschwitz-Prozess, in Fritz Bauer. Der Staatsanwalt. NS-Verbrechen vor Gericht, Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York, 2014, S. 149 f.
9.Susan Vahabzadeh, Der gute Amerikaner, FAZ 13. August 2014, S. 3.
10. Werner Renz, Mediale Missgriffe – Fritz Bauer im Dokumentarfilm, Einsicht 04, Bulletin des Fritz Bauer Instituts, 2010.