Offizielles Gedenken und politische Wirklichkeit
21. September 2015
50 Jahre nach dem Auschwitz-Prozess
Vortrag in der Villa Ichon in Bremen am 5. September 2015
Wer in diesen Tagen über das Thema „Offizielles Gedenken und politische Wirklichkeit 50 Jahre nach dem Auschwitz-Prozess“ sprechen will, kommt an den Ausbrüchen von Fremdenhass im Zusammenhang mit dem Zustrom von Asylbewerbern und Flüchtlingen nicht vorbei. Neu ist das alles nicht, nur die Dimensionen haben sich verändert. Von Januar bis August gab es nach offiziellen Angaben in Deutschland 337 derartige Übergriffe. Das heißt, so etwas passiert jeden Tag. Warum nur bei uns?
Das hässliche Bild wird etwas aufgehellt durch die Spendenbereitschaft vieler Deutscher, die den Ankömmlingen über die ersten Tage hinweghilft. Aber milde Gaben ändern nichts an den Problemen, die dem aktuellen Geschehen zugrunde liegen. Wenn die Bundesregierung etwas gegen die rechte Gewalt und gegen die Konflikte tun möchte, die Menschen zu uns treiben, dann sollte sie die vier Milliarden Euro, die sie für neue Panzer und ein neues Luftabwehrsystem ausgeben will, zur Bekämpfung der sozialen Ursachen rechter Gewalt und bestehender Konflikte verwenden. Waffen helfen da sowieso nichts. In Afghanistan haben 3.285 Soldaten aus westlichen Länden ihr Leben gelassen, darunter 40 Deutsche. An den Lebensverhältnissen hat das nichts geändert, sonst kämen nicht so viele Menschen aus Afghanistan zu uns.
Vor 35 Jahren hat der SPD-Vorsitzende Willy Brandt vor einem „explosiven Gemisch aus Rassenhass und Neidkomplexen“ gewarnt, das sich in Deutschland zusammenbraue. Aber im Bundestag redeten die meisten Abgeordneten jenen 82 Prozent der Deutschen nach dem Munde, die damals laut Umfragen der Meinung waren, in Deutschland gebe es zu viele Ausländer. Die Justiz tat das ihre dazu. 1984 hob der Bundesgerichtshof ein Urteil auf, mit dem ein 30Jähriger wegen Volksverhetzung zu 26 Monaten Haft verurteilt worden war.
Der Mann hatte „Ausländer raus“ und Hakenkreuze auf Häuserwände gesprüht. Das höchste deutsche Strafgericht argumentierte, ihrem Wortsinn nach sei die Parole zwar – so wörtlich – „als an Ausländer gerichtete Aufforderung zu verstehen, die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen“. Bei ihr fehlten aber – im Gegensatz zur Parole „Juden raus“ – „allgemein bekannte geschichtliche Erfahrungen, die sie ohne weiteres als Aufforderung zu Gewalt- oder Willkürmaßnehmen erscheinen lassen“. ( 3 StR-36/84)
Den Richtern hätte es nachträglich die Sprache verschlagen müssen, als das Gemisch aus Rassenhass und Neidkomplexen, von dem Willy Brandt gesprochen hatte, explodierte. Von Hoyerswerda über Rostock-Lichtenhagen, Mölln und Solingen bis hin zur Jagd auf Ausländer in Magdeburg hinterließen Neonazis eine blutige Spur quer durch das inzwischen vereinte Deutschland. Ungehindert konnte eine Gruppe, die sich „Nationalsozialistischer Untergrund“ nannte, zehn Jahre lang gezielt Ausländer ermorden, weil Polizei und Verfassungsschutz auf dem rechten Auge blind waren
Eine couragierte CDU-Politikerin, die Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth, schrieb 1993: „Der Rechtsradikalismus und die Gewalttaten haben ein gesellschaftliches Umfeld. Begreifen wir vor allem, dass Demokratie nicht erst dann gefährdet ist, wenn Brandsätze fliegen. Es ist vielmehr das Klima der Duldung, des Zulassens, der Gleichgültigkeit und Passivität, in dem die Gewalt wuchert und Nahrung findet.“ Die Sätze stehen im Manuskript ihrer Rede zum 55. Jahrestag des Pogroms vom 9. November. Auf der Veranstaltung hat Frau Süßmut sie dann ausgelassen.
Medienpolitischer Skandal
„Ein guter Mensch sein? Ja, wer wär’s nicht gern? Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so“, lässt Bertold Brecht in der Dreigroschenoper den Bettlerkönig Peachum singen. Die Bundestagspräsidentin wird ihre Gründe gehabt haben, nicht laut zu sagen, was sie dachte. So ist das manchmal. Auch ich behalte heute etwas für mich, weil ich darum gebeten wurde. Es ging um Fritz Bauer, den legendären Generalstaatsanwalt, der Auschwitz vor Gericht brachte. Aber ich habe dazu noch eine andere Geschichte:
Sie erinnern sich vielleicht, dass vor fünf Jahren der Dokumentarfilm „Fritz Bauer – Tod auf Raten“ in die Kinos kam, der Fritz Bauer dem Vergessen entriss. Der mehrfach ausgezeichnete Film findet immer noch sein Publikum, nicht nur bei uns, sondern auch in vielen anderen Ländern. Aber die ARD weigert sich, ihn im Ersten Deutschen Fernsehen zu zeigen.
Im geschichtlichen Arbeitskreis der ARD seien „gravierende Einwände“ laut geworden, die insbesondere die These vom Mord an Fritz Bauer beträfen, argumentierte ihr stellvertretender Programmdirektor gegenüber der international renommierten Regisseurin Ilona Ziok, obwohl in dem Film an keiner Stelle behauptet wird, der hessische Generalstaatsanwalt sei ermordet worden. Zeitzeugen erinnern lediglich daran, dass Fritz Bauer auf bis heute ungeklärte Weise zu Tode kam.
Das Verhalten der ARD ist ein medienpolitischer Skandal. Wenn das russische oder das chinesische Fernsehen so etwas machten, wäre das Geschrei groß. Der mit öffentlichen Mitteln geförderte und mit dem Prädikat „Besonders wertvoll“ ausgezeichnete Dokumentarfilm über den Initiator des Auschwitz-Prozesses lief bereits auf Phoenix, dem gemeinsamen Dokumentationskanal der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten. Auf 3sat wurde er als „gut recherchierte Würdigung des Aufklärers“ Fritz Bauer angekündigt und erreichte auch dort beachtliche Einschaltquoten. Einwände gab es weder vorher noch nachher.
Da drängen sich Fragen auf. Welche Kriterien haben die Mitglieder des geschichtlichen Arbeitskreises der ARD ihrer Entscheidung zugrunde gelegt? Gab es ein Petitum des Fritz-Bauer-Instituts in Frankfurt, das den Film als einzige Einrichtung in Deutschland boykottiert, weil er – wie der Regisseurin vorgehalten wurde – die Gegner Fritz Bauers nicht zu Wort kommen lässt? Welche Gegner? Die aus der Nazizeit?
Ein Direktor nimmt seinen Hut
Vor einem halben Jahr habe ich im Berliner „Tagesspiegel“ den Umgang des Fritz-Bauer-Instituts mit seinem Namensgeber kritisiert. Die Zeitung veröffentlichte meinen Artikel in großer Aufmachung und wertete ihn als Ausdruck eines Deutungskampfes um das Werk Fritz Bauers. Der Direktor des Instituts hat mich deswegen heftig angegriffen. Zu meiner Überraschung und wohl auch der der anderen Seite stellte sich der hessische Minister für Wissenschaft und Kunst, Boris Rhein, auf meine Seite.
Der CDU-Politiker ist stellvertretender Vorsitzender des Stiftungsrates des Fritz- Bauer-Instituts. Er kündigte an, dass er meine Kritik in diesem Gremium zur Sprache bringen und den wissenschaftlichen Beirat in die Diskussion einbeziehen werde. Bevor es dazu kam nahm der Direktor seinen Hut, um sich, wie er sagte, an anderer Stelle wissenschaftlich zu betätigen.
Zwei Verfassungsorgane, Bundespräsident Joachim Gauck, und der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Vosskuhle, haben dazu aufgerufen, die Verdienste Fritz Bauers in würdigem Andenken zu bewahren. Als Vorbild haben sie ihn nicht empfohlen. Manchen liegt der unbequeme Mahner immer noch quer im Magen, weil er sich weniger als Anwalt des Staates, sondern eher als Anwalt der Bürger verstand. Er ermunterte die Menschen zum Widerspruch, zur Verteidigung ihrer staatsbürgerlichen Rechte. Er wollte, dass die Wurzeln des Bösen bloßgelegt werden, das zu Auschwitz geführt hat.
Im Mai hat Bundespräsident Gauck anlässlich des 50. Jahrestages der Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Israel versprochen: „Wir werden nicht zulassen, dass das Wissen um die besondere historische Verantwortung Deutschlands verblasst.“ Viel ist dabei nicht herausgekommen. Im selben Monat ergab eine Bertelsmann-Studie, dass 81 Prozent der Deutschen die Geschichte der Judenverfolgung „hinter sich lassen“ möchten. (SZ 12. 5. 2015, S. 6).
Offensichtlich reicht es nicht, an Gedenktagen die Opfer zu bedauern. Am 70. Jahrestag der Kapitulation Nazideutschlands beklagte der deutsch-französische Historiker Alfred Grosser, dass der deutsche Widerstand übergangen werde. (Weser-Kurier, 8. 5. 2015). Seine Angehörigen waren, wie Willy Brand kurz vor seinem Tod sagte, mit ihren moralischen Grundentscheidungen vielen anderen voraus.
Der deutsche Widerstand – Fundament des Neubeginns
Der britische Premierminister Winston Churchill bezeichnete die deutschen Gegner Hitlers als das Edelste, was in der Geschichte der Völker je hervorgebracht worden sei. „Diese Männer und Frauen kämpften ohne Hilfe von innen und außen, einzig angetrieben von der Unruhe ihres Gewissens“, sagte Churchill. „Ihre Taten sind das unzerstörbare Fundament eines neuen Aufbaus.“ Vielleicht sollten in allen deutschen Schulen, dem französischen Beispiel folgend, einmal im Jahr zu einem festen Zeitpunkt Bekenntnisse deutscher Widerstandskämpfer verlesen werden, um etwas von dem Geist zu vermittelten, der die Gegner der Nazityrannei beseelte.
Bei der Vorbereitung auf diesen Vortrag habe ich die Bremer Bildungs-Senatorin gefragt, auf welche Weise Auschwitz an den Schulen des Landes Bremen behandelt wird. Frau Dr. Bogedan ließ mich wissen, dass Auschwitz im Kontext der Erinnerungskultur für die Schulen ein wichtiges Thema sei. Bei der Vermittlung des Holocaust müsse aber berücksichtigt werden, dass der Unterricht in Klassen gestaltet werde, deren Schülerinnen und Schüler biografische Wurzeln in zahlreichen anderen Kulturräumen hätten. Das ist natürlich eine Herausforderung. Aber die Lehren der Vergangenheit dürfen deswegen nicht zu kurz kommen.
Was lernen die Bremer Schüler zum Beispiel über Martha Heuer, jene bescheidene Frau aus einem Bremer Arbeiterviertel, die während der Nazizeit mit ihrer Mutter unter Lebensgefahr Menschen jüdischen Glaubens versteckte und vor dem Tode bewahrte? Die Israelis haben sie als Gerechte unter den Völkern geehrt. Ich hoffe, es noch zu erleben, dass eine Straße oder ein Platz nach Martha Heuer benannt wird.
Eine der Erfahrungen des deutschen Widerstandes besagt, dass die Ausgrenzung und Diffamierung von Minderheiten nicht geduldet werden darf; denn damit begann das, was mit Auschwitz endete. Wer sich ein Bild vom Ausmaß des Verbrechens machen will, das in Auschwitz begangen worden ist, der möge sich daran erinnern, dass bei der Tsunami-Katastrophe in Ostasien mehr als Zweihunderttausend Menschen dem blinden Wüten der Naturgewalt zum Opfer gefallen sind. Das Entsetzen darüber war groß. In Auschwitz wurden fünfmal soviel Menschen ermordet. Sie starben von Menschenhand.
Einige Beteiligte an dem beispiellosen Verbrechen mussten sich 1963 in Frankfurt am Main vor Gericht verantworten. Die Verkündung des Urteils in dem Jahrhundertverfahren jährte sich am 19. August zum 50. Male. Ich habe den Prozess als Journalist miterlebt. Wer weiß, was in Auschwitz geschah, ist für immer gefeit gegen alles, was auch nur im Entferntesten mit Nazi-Ungeist zu tun hat. Ohne Erinnerung an das Böse, so Bundespräsident Roman Herzog 1996, gibt es weder die Überwindung des Bösen, noch Lehren für die Zukunft.
Wenn von den Gräueltaten der Nazis die Rede ist, antworten manche, andere hätten sich auch die Hände schmutzig gemacht. Das mag sein. Aber niemals und nirgendwo sonst wurden Menschen so systematisch und in so großer Zahl getötet, wie in den deutschen Vernichtungslagern, nirgendwo sonst wurden den Ermordeten die Goldzähne ausgerissen und zur Devisenbeschaffung eingeschmolzen, nirgendwo sonst wurden die Haare der Opfer zur Filzherstellung verwendet.
Gründlich – auch beim Morden
Die Täter mordeten nicht unter Zwang, sie befanden sich nicht in einem Befehlsnotstand, sondern stimmten in ihrem persönlichen Hass auf Juden und Kommunisten völlig mit der Naziführung überein. Dieses freiwillige Mittun ist das eigentlich Unfassbare. Abgesehen davon – Menschen lassen sich manipulieren. Hier schlummert eine Gefahr für die Zukunft.
Ich war als Journalist dabei, als die Überlebenden der Todesfabrik in den Zeugenstand traten und in Gegenwart ihrer Peiniger zu Protokoll gaben, was in Auschwitz geschah. Auf der Anklagebank sah ich Männer mit Durchschnittsgesichtern. Kaufleute waren darunter, Handwerker, Apotheker und Zahnärzte, Menschen wie du und ich. Aber sie verkörperten ein Grauen, das mich bis in den Schlaf hinein verfolgte. Als die Verhandlung begann, war ich Mitte dreißig. Über Auschwitz hatte ich Einiges gelesen. Dennoch erlebte ich den Prozess wie einen Alptraum. Quälend war jedes Mal auch die Rückkehr in den Alltag.
Musste das Leben nicht stillstehen angesichts des Grauens, das eben noch im Gerichtssaal auf mich eingestürmt war? Aber draußen nahm alles seinen gewohnten Gang. Geschäftig wie immer eilten die Menschen hin und her und ihre unbeteiligten Gesichter wirkten auf mich wie Masken aus einer anderen Welt. In den Prozessberichten erfüllte ich meine Chronistenpflicht nach bestem Wissen und Gewissen. Ein neutraler Beobachter war ich nicht. Wenn mir jemand wegen meiner Parteinahme für die Opfer mangelnde Objektivität vorwirft, dann ehrt mich das.
Sechsmal lebenslanges Zuchthaus, elfmal begrenzte Freiheitsstrafen zwischen 3 und 14 Jahren und dreimal Freispruch – das ist in dürren Worten die Bilanz dieses Prozesses. Bis auf zwei Ausnahmen verloren die Angeklagten kein menschliches Wort des Bedauerns für die Opfer. Die meisten zeigten nur Mitleid mit sich selbst. Selbst wenn alle Angeklagten die höchste Strafe bekommen hätten, bliebe Auschwitz ungesühnt.
Es gibt keine Strafe, die dem Unfasslichen gerecht werden könnte. Die nachfolgenden Generationen können nur eines tun: durch ihr klares Nein gegenüber allen Versuchen, das Geschehene zu bagatellisieren oder zu relativieren, den Opfern ihren Respekt zu erweisen. Damit schützen sie sich selbst vor einem wie auch immer gearteten Rückfall in die Unmenschlichkeit.
Der Sündenbock-Mechanismus
Seit der Verkündung des Urteils sind fünfzig Jahre vergangen. Wie verhielt es sich in dieser Zeit mit dem Interesse an Auschwitz? Als mir vor Jahren die Idee kam, meine Prozessberichte der Jugend von heute zugänglich zu machen, ahnte ich nichts von den Schwierigkeiten, mit denen ich zu tun bekommen sollte. Sechs Jahre dauerte meine Suche nach einem Verlag. Dabei machte ich die Erfahrung, dass alle gern von der Notwendigkeit des Erinnerns reden, aber ungern in diese Notwendigkeit investieren.
Zu den Wenigen, die öffentlich immer wieder vor einem Rückfall in frühere Denkweisen gewarnt haben, gehörte Fritz Bauer. Eindringlich beschrieb er, wie es dazu kommen konnte, dass die erste deutsche Republik gewalttätigen Rechtsextremisten in die Hände fiel.
„Statt einer ‘Bewältigung der Vergangenheit’, die auch damals notwendig war und die einen harten Willen zur Wahrheit erforderte, zog man den Betrug und Selbstbetrug eines angeblichen Dolchstoßes vor und suchte krampfhaft nach Sündenböcken. Man fand sie bald in ‘Marxisten’, bald in Juden. Jeder Sündenbock-Mechanismus erwächst aus Charakterschwäche; er ist ein infantiler Zug und alles andere als eine männliche Reaktion.“
„ Je schwächer die Leute sind und je mehr sie von Minderwertigkeits-Komplexen geplagt werden, desto mehr rufen sie nach Härte und desto gewalttätiger und brutaler treten sie auf, um ihr
eigenes Ungenügen und das Fiasko ihres Daseins zu verbergen. Die Kraftmeierei des Nazismus, sein Geschrei, seine Demonstrationen, seine Verbrechen, waren die Maske von neidischen Schwächlingen.”
Dieser Sündenbock-Mechanismus hat die Nazizeit überlebt. Als Ende der siebziger Jahre wider einmal Hakenkreuz-Schmierereien für peinliches Aufsehen sorgten, machte der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß, dessen 100. Geburtstag morgen pompös gefeiert werden wird, kommunistische Geheimdienste verantwortlich. Das rechtslastige „Deutschland-Magazin” behauptete, der „angebliche Neonazismus sei in Wahrheit eine Waffe Moskaus”.
Rechts wo die Mitte ist
Inzwischen gibt es keine kommunistischen Geheimdienste mehr, aber noch immer werden Hakenkreuze auf Grabsteine geschmiert und jüdische Einrichtungen angegriffen. Während seiner Amtzeit als Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland verlangte Paul Spiegel, beim Kampf gegen die Neonazis nicht bestimmte Entwicklungen in der Mitte der Gesellschaft aus dem Blickfeld zu verlieren; dort gebe es immer noch hartnäckige Vorurteile gegenüber Menschen anderer Hautfarbe, anderer Herkunft und anderer Religion.
Wie es in der Mitte der Gesellschaft zur Zeit des Auschwitz-Prozesses aussah, verdeutlichte ein Vorfall kurz nach Prozessbeginn. Ein ehemaliger Spitzenmanager des IG-Farben-Konzerns, der wegen des Einsatzes von Auschwitzhäftlingen zu Sklavenarbeit, zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt worden war, wurde mit dem Großen Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet, weil er sich angeblich um den Wiederaufbau verdient gemacht hatte. Als einzige deutsche Zeitung prangerte die antifaschistische Wochenzeitung „Die Tat“ den Skandal an. Erst als eine jüdische Zeitung aus der Schweiz bei der Ordenskanzlei in Bonn anrief, musste der Geehrte das Verdienstkreuz zurückgeben.
Zyniker sagen, die Wiederbeschäftigung alter Nazis habe der Demokratie nicht geschadet. Alle hätten sich doch vom Ungeist des Nazismus distanziert. In der Tat hat es an solchen Beteuerungen nicht gefehlt. Immer hieß es, die Bekämpfung des Rechtsextremismus gehöre, wie die Bekämpfung des Linksextremismus, zu den Lehren der Vergangenheit.
In Wirklichkeit hatte man hauptsächlich die Linken im Visier, darunter die aktivsten Gegnern Hitlers, deren Widerstand gegen die Wiederbewaffnung und die Notstandsgesetze als Widerstand gegen den Rechtsstaat gedeutet und deren Verdienste im Kampf gegen den nazistischen Unrechtsstaat ignoriert wurden.
Die „unbußfertige Verschwörung des allgemeinen Nichtwissens”, die Fritz Bauer bei den Angeklagten im Auschwitz-Prozess beobachte hatte, beschränkte sich nach seiner tiefen Überzeugung nicht auf den Kreis der unmittelbar an den NS-Verbrechen Beteiligten; er hielt sie für ein verbreitetes Phänomen.
Für eine Radio-Bremen-Sendung habe ich den Stuttgarter Oberlandesgerichtspräsidenten Richard Schmid 1966 gefragt, wie er die Stimmung im Lande beurteilt. Er sagte, das deutsche Volk zeige noch immer die alte Mischung von Intoleranz und Autoritätsglauben und neige zu irrationalen nationalistischen Anwandlungen. Auch sonst gebe es Anzeichen, dass das deutsche Bürgertum das alte Gift noch nicht ausgeschieden habe. Das waren prophetische Worte.
„Raus dem Schatten Hitlers!“
1983 appellierte der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU im Deutschen Bundestag, Alfred Dregger, an die Deutschen, aus dem Schatten Hitlers herauszutreten und normal zu werden. Für den Generalinspekteur der Bundeswehr, Heinz Trettner, war der Überfall auf die Sowjetunion, „anders als die Umerziehungspropaganda“ behaupte, „in erster Linie ein nur schweren Herzens begonnener, aufgezwungener Präventionskrieg“. (Zitiert nach Walter Kolbow, Rede im Deutschen Bundestag am 13.März1997, S.14724)
Der Historiker Ernst Nolte löste 1986 mit seiner Frage, ob der „Archipel Gulag”, also das Verbannungssystem unter Stalin, nicht „ursprünglicher als Auschwitz” gewesen sei, den Historikerstreit aus. Der grüne Außenminister Joschka Fischer rechtfertige die deutsche Teilnahme am völkerrechtswidrigen Luftkrieg gegen Jugoslawien mit dem Satz, er habe nicht nur „Nie wieder Krieg” gelernt, sondern auch „Nie wieder Auschwitz”, so als hätten auf dem Balkan Gaskammern und Verbrennungsöfen verhindert werden müssen.
Bahnchef Hartmut Mehdorn ließ 2002 mit Rückendeckung des Bundesverkehrsministers Manfred Stolpe (SPD) die Namen der Widerstandskämpfer Sophie Scholl und Graf Stauffenberg von den ICE-Zügen entfernen, weil sie angeblich zu lang waren. Entfernt wurden auch die Namen der Pazifisten Carl von Ossietzky und Ludwig Quidde. Ersetzt wurden sie durch Städtenamen, die beim geplanten Gang der Bahn an die Börse weniger störten. („Ossietzky“, Heft 2, 2009). Niemand nahm Anstoß. Auch der Verein „Gegen Vergessen, für Demokratie“ unter Vorsitz von Joachim Gauck schwieg. Acht Jahre danach ließ Gauck sich in München mit dem Geschwister-Scholl-Preis auszeichnen, umrauscht vom Beifall prominenter Gäste.
Auschwitz – ein Phänomen moderner Zivilisation?
Auf Einladung der Robert-Bosch-Stiftung referierte Joachim Gauck am 26. März 2006 in Stuttgart über das Thema „Welche Erinnerungen braucht Europa“. Zum Massenmord der Nazis an den Juden sagte er, der Holocaust sei inmitten einer hoch entwickelten Zivilisation und im Umfeld außergewöhnlicher kultureller Leistungen konzipiert und durchgeführt worden. Deshalb müsse er als Problem dieser Zivilisation und Kultur betrachtet werden.
Der Gulag, Auschwitz und Hiroshima, also der Atombombenabwurf der Amerikaner, gehören – in dieser Reihenfolge – für Gauck als Symbole des Inhumanen zusammen. (www.bosch-stiftung.de/content/language1/downloads/Stiftungsvortrag_Gauck_fuer_internet.pdf) Das wird die Unbelehrbaren freuen. Deren Fazit lautet seit jeher: Die Russen haben es vorgemacht, die Amerikaner haben es nachgemacht. Also lasst uns mit Auschwitz endlich in Ruhe.
Mit seiner Stuttgarter Rede verabschiedete sich Gauck von der Aussage Richard von Weizsäckers, der Völkermord an den Juden sei „beispiellos in der Geschichte“. Er schob beiseite, was der Rechtswissenschaftler Bernhard Schlink zu bedenken gab, für den Holocaust und Drittes Reich, anders als etwa die Untaten Stalins, „Perversionen bürgerlicher Kultur“ sind. Wenn damals das Eis, auf dem man sich kulturell und zivilisatorisch sicher wähnte, in Wahrheit so dünn gewesen sei, wie sicher sei dann das Eis, auf dem wir heute leben, fragt Schlink in seinem Buch „Vergangenheitsschuld und gegenwärtiges Recht“. (Ffm. 2002, S. 148-154) „Ist das Eis mit dem Ablauf der Zeit dicker geworden, oder hat uns der Ablauf der Zeit nur vergessen lassen, wie dünn es ist?“
Schlussstrich-Mentaltität
In Frankreich hat der rechtsgerichtete Front National seinen Parteigründer Le Pen dieser Tage ausgeschlossen, weil er die Gaskammern der Nazis als Detail der Geschichte des Zweiten Weltkrieges bezeichnet hat. Joachim Gauck wurde 2010, also nach seinen schillernden Äußerungen zum Holocaust, von SPD und Grünen als Kandidat bei der Bundespräsidentenwahl aufgestellt und 2012 zum Staatsoberhaupt gewählt – in eben jenem Plenarsaal des Bundestages in dem der Historiker Heinrich August Winkler die Deutschen am 8. Mai 2015, ganz im Sinne Alfred Dreggers, unter Beifall dazu aufrief, sich „durch die Betrachtung der Geschichte nicht lähmen zu lassen“.
Alles nur Einzelmeinungen? Alles nur Einzelfälle? Ja, alles nur Einzelfälle, aber sie ergeben wie Mosaiksteinchen ein Gesamtbild, das nachdenklich stimmt. Anscheinend hat Bundespräsident Roman Herzog 1998 umsonst daran erinnert, „dass wir nicht in den alten Überlegenheitswahn zurückfallen wollen“. Sein Nachnachfolger Gauck hält es, ebenso wie Bundesregierung, für richtig im Kampf für die Menschenrechte auch zu den Waffen zu greifen, er, der als Pfarrer auf der Seite jener Bürgerrechtler stand, die in der DDR unter dem Motto „Schwerter zu Pflugscharen“ für eine friedliche Welt kämpften.
In einem Kommentar zu Gaucks Plädoyer für den Einsatz von Waffen fragte die „Süddeutsche Zeitung“ vom 16. Juni 2014, warum die früher geübte Zurückhaltung jetzt abgelegt werde. „Weil das Trauma von Schuld und ‚Nie wieder Krieg’ ins Geschichtsbuch gehört? Gauck sagt es nicht, aber es klingt bei jedem seiner Worte mit: dass irgendwann mal Schluss ist. Das ist der eigentliche Sprengstoff seiner Botschaft. Er sollte ihn schleunigst unschädlich machen.“
Nichts gehört der Vergangenheit an
Bis heute hat er das nicht für notwendig gehalten. Vielleicht sollte Bundeskanzlerin Merkel ihn daran erinnern, dass sie mit ihrem Satz von der „immerwährenden Verantwortung“ für das von Deutschland begangene Menschheitsverbrechen bei den Hinterbliebenen der Ermordeten im Wort steht. Sie haben am schwersten daran zu tragen, dass die Vergangenheit peu à peu entsorgt und der Welt gegenüber gleichwohl der irrige Eindruck erweckt wird, es gebe nach dem deutschen Wirtschaftswunder jetzt auch noch ein deutsches Vergangenheitsbewältigungswunder.
In Wirklichkeit gilt immer noch, was Fritz Bauer unter dem Eindruck einer verbreiteten Indolenz gegenüber der Nazivergangenheit dem deutschen Volk bewusst zu machen versuchte: „Nichts gehört der Vergangenheit an. Alles ist noch Gegenwart und kann wieder Zukunft werden. Nichts ist, wie man zu sagen pflegt, bewältigt, mag auch die Öffentlichkeit sich gerne in dem Glauben wiegen, dass ihr zu tun fast nichts mehr übrig bleibe.”