Der Denunziant
12. Januar 2015
Juni 2011 zerstört ein Samuel Saunders in Los Angeles mit der Spitzhacke den „Walk of Fame“ Stern für den Schauspieler Arnie Walton. Er entzieht sich der Aufforderung der Polizei stehenzubleiben, wird angeschossen und erleidet einen tödlichen Herzanfall. Eine Fülle von Notizen, E-Mail- und Disketten-Ausdrucke legen nahe, dass er bezweifelte, dass Arnie Walton wie angegeben 1933 in Berlin mitten in der Spielzeit entlassen worden war, weil er sich mit seinen jüdischen Kollegen solidarisiert hatte. Saunders glaubte hingegen, dass er wegen homoerotischer Neigungen von der Polizei verhaftet wurde. Im Verlaufe seiner Recherchen trifft Saunders 1986 auf die 62-jährige deutschstämmige Schauspielerin Tiziana Adam, die ihn als Walter Arnold kannte. Da den UFA-Regisseuren und Schauspielern angesichts sich häufender Bombardierungen der Boden Ende 1944 zu heiß wurde, wurde der Drehort für einen vorgeblich kriegswichtigen Durchhaltefilm nach Kastelau bei Berchtesgaden verlegt. Der bei Goebbels verfemte Schriftsteller Werner Wagenknecht erhält für notwendige Änderungen am Drehbuch Unterschlupf beim Filmteam. Auf dem Weg nach Kastelau gerät der Wagen mitsamt Filmmaterial in einen Bombenangriff. Im Keller ihrer Unterkunft versorgen Tiziana Adam und Wagenknecht den Deserteur Nikolaus Melchior. Dem Bürgermeister und NS-Ortsgruppenleiter Markus Heckenbichler geben sie vor, dass sich der Beginn der Dreharbeiten wegen eines Unfalls der Hauptakteurin verzögere. Heckenbichler nimmt Walter Arnold fest, lässt ihn tags darauf wieder laufen. Der Deserteur wird am selben Tag festgenommen und in den Keller des Rathauses gesperrt. Kastelau ist Ende Dezember 1944 eingeschneit. Tiziana Adam und Wagenknecht erwarten stündlich ihre Festnahme. Weitere Einwohner Kastelaus kehren jedoch nachts als Deserteure zurück und lassen sich von Heckenbichler gegen gutes Geld Zivilkleidung verkaufen. Das Drehbuch für den Durchhaltefilm wird Mitte Januar 1945 weiterbearbeitet, Filmszenen über eine Festnahme von Deserteuren mit leerer Kamera gedreht. Wagenknecht wird kurz darauf mit einer vermeintlich leeren Pistole erschossen. Heckenbichler ordnet angesichts sich nähernder amerikanischer Truppen an, weiße Laken aus den Fenstern zu hängen und damit die Übergabe Kastelaus.
Charles Lewinskys fiktiver Roman weist auf Reaktionsweisen und Handlungsmöglichkeiten von Politikern und Filmleuten angesichts des nahenden Kriegsendes und in den Monaten nach der Befreiung vom Faschismus. Wie gelang es die Kriegswichtigkeit eines Durchhaltefilms vorzutäuschen? Weshalb glaubt Saunders, der Schauspieler Arnie Walton sei ein gewissenloser Denunziant, der einen Menschen verrät um selbst freizukommen? Wieso lässt der Bürgermeister ihn nicht standrechtlich erschießen? Wieso lässt er sich von Durchhalteparolen nicht beeindrucken? Wieso stirbt der Schriftsteller Werner Wagenknecht, der beim des Filmteam Zuflucht gefunden hatte? Weshalb übernimmt Arnie Walton nach der Befreiung Teile seiner Identität? Es ist ein Lehrstück über Verführbarkeit und Macht. Der Leser ist gehalten die Fülle an Notizen und Fragmenten einzuordnen und sich selbst ein Bild zu machen.
Charles Lewinsky, Kastelau, Nagel & Kimche Verlag, Berlin 2014, 400 Seiten, 24,90 Euro, ISBN 978-3-312-00630-4