„Das Moorsoldatenlied wurde nicht gesungen“
17. November 2014
Gespräch mit dem Zeitzeugen Kurt Nelhiebel zum 25. Jahrestag des Mauerfalls
Wie gehen die Deutschen mit historischen Gedenktagen um und welches Gewicht messen sie ihnen politisch jeweils bei? Als sich 1970 das Ende des Naziregimes zum 25. Mal jährte, hat sich die Bundesrepublik Deutschland nicht monatelang auf diesen Tag vorbereitet, so wie das beim 25. Jahrestag des Endes der DDR der Fall war. Wie erklärt sich dieser Unterschied? Bedeutet den Deutschen der Sieg über ein kommunistisches Regime mehr, als der Sieg über das Naziregime, das Europa in Schutt und Asche gelegt und Schlachthäuser für Menschen errichtet hat. Claudia S c h u l m e r i c h sprach darüber für WELTEXPRESSO mit dem deutschen Zeitzeugen Kurt Nelhiebel. (Abrufbar unter http://www.kulturexpress.de/wpo/ )
Herr Nelhiebel, Sie haben den Untergang zweier Diktaturen miterlebt, erst das Ende des Naziregimes, dann das Ende des SED-Regimes. Was geht Ihnen am 25. Jahrestag des Mauerfalls durch den Kopf?
Ich denke an einen anderen Jahrestag. Gesungen, wie jetzt Wolf Biermann im Deutschen Bundestag zu Ehren der SED-Gegner gesungen hat, gesungen wurde zu Ehren der Nazi-Gegner am 25. Jahrestag der Kapitulation Hitler-Deutschlands im Bundestag nicht. Das „Moorsoldatenlied“, das vom Leid der KZ-Häftlinge handelt, hätte zwar gut gepasst, so wie jetzt das Lied „Ermutigung“ von Wolf Biermann gut gepasst hat. Aber auf die Idee ist niemand gekommen.
In welchem Rahmen hat die Feier damals stattgefunden?
Tagelang gefeiert wurde damals nicht. An einem Tag war alles erledigt, eine 15 Kilometer lange Lichter-Installation gab es natürlich auch nicht. Aber immerhin hat zum ersten Mal ein Bundeskanzler, es war Willy Brandt, im Bundestag eine Erklärung zum 8. Mai abgegeben. Hauptsächlich ging es darin um die Aussöhnung mit dem Osten. Auch Richard von Weizsäcker, der für die CDU gesprochen hat, stellte das in den Mittelpunkt. Fünf Jahre später hat er dann als Bundespräsident erstmals den 8.Mai als Tag der Befreiung bezeichnet. Daran hatten viele zu schlucken.
Zum Jahrestag des Mauerfalls hieß es, die Aufarbeitung des DDR-Unrechts sei noch nicht abgeschlossen und die Opfer dürften auf keinen Fall vergessen werden. Wie hat man sich am 25. Jahrestag der deutschen Kapitulation zur NS-Vergangenheit verhalten?
Das war damals kein Thema. In meinem Archiv habe ich dazu nur zwei Artikel gefunden. In dem Bericht über die Bundestagssitzung steht nichts über NS-Verbrechen und auch nichts über die Leute, die Widerstand gegen Hitler geleistet haben. Über den Widerstand der Bürgerrechtler in der DDR wird jetzt viel mehr geredet und geschrieben. In dem anderen Artikel heißt es, dass Bundespräsident Gustav Heinemann zum 25. Jahrestag der Beendigung des zweiten Weltkrieges erklärt hat, von deutschem Boden dürfe nie wieder Krieg ausgehen.
Das sieht der jetzige Bundespräsident etwas anders. Wie beurteilen Sie das?
Dass Herr Gauck als ehemaliger Pastor meint, wir müssten weltweit auch militärisch mehr Verantwortung übernehmen, ist schon komisch, aber der Bundespräsident hält sich ja auch sonst politisch nicht zurück und wird deshalb sogar gelobt. Da musste sich Heinemann als Bundespräsident ganz andere Dinge anhören. Richard Stücklen von der CSU hielt ihm vor, wenn er Zweifel an seiner Unparteilichkeit aufkommen lasse, werde sich der Bundestag erstmals mit dem Verhalten eines Bundespräsidenten befassen müssen.
Zurück zum Fall der Mauer und zum Thema Unrechtsstaat. Die DDR wird häufig mit Nazi-Deutschland verglichen. Sie haben die Hitlerzeit selbst erlebt und gehören zu Verfolgten des Naziregimes. Wie finden Sie den Vergleich?
Dazu kann ich nur sagen: die DDR hat weder den zweiten Weltkrieg angefangen noch hat sie sechs Millionen Juden umgebracht. Ihre Grenzsoldaten haben – schlimm genug – 136 Tote an Mauer und Stacheldraht auf dem Gewissen – ein einziger Nazirichter hat 231 Todesurteile gefällt und wurde mit der Begründung freigesprochen, ihm sei ein strafbares Verhalten nicht nachzuweisen. Der Mann hieß Hans-Joachim Rehse.
Aber die Menschen in der DDR hatten doch allen Grund, sich zu freuen, dass sie mit ihren Montagsdemonstrationen das Ende des SED-Regimes herbeigeführt haben. Wenn Sie in der DDR gelebt hätten, wie hätten Sie sich verhalten?
Mich haben die Wachtürme an der Grenze der DDR immer an die Wachtürme rund um die Konzentrationslager der Nazis erinnert. Ich fand das abscheulich und hätte dort nicht leben wollen. Ich frage mich allerdings, warum die Deutschen zwar Montagsdemonstrationen gegen die Kommunisten und das SED-Regime veranstaltet haben, nicht aber gegen die Nazis und das Hitler-Regime.