Erlebnisse der 2 Jahre am Ende des Krieges
17. März 2014
Und dann kam der Tag des 26. Januar 1944. Das war ein Mittwoch. Ich weiß noch, wir Kinder spielten auf der Straße, als plötzlich Adelbert Wilts zu uns stieß. Er war ganz aufgeregt. Adelberts Vater war der Polizeichef in Emden und der hatte wohl mit seiner Frau darüber geredet, man wolle gleich hier bei uns an der Ziegelei fünf Zwangsarbeiter hinrichten. Dass man Russen in Gewahrsam genommen hatte, war inzwischen überall bekannt. Die noch jugendlichen Männer sollten auf Befehl die Trümmer eines Lebensmittelgeschäftes, das an der Ecke zur Seumestrasse kurz zuvor von einem Volltreffer zerstört worden war, aufräumen und waren dabei im Kellerbereich auf Spirituosen gestoßen. Nun ist allgemein bekannt, wie schlecht die Zwangsarbeiter mit Lebensmitteln versorgt wurden, und der Fund eines Schnapslagers wird doppelt verhängnisvoll auf sie gewirkt haben. Schon wenige Schlucke dürften sie so betrunken gemacht haben, dass ihr Zustand jedem auffiel. Ihre Bewacher machten dann auch kurzen Prozess und verurteilten sie als Volksschädlinge ohne lange Verhandlung zum Tode. Und die Vollstreckung sollte hier bei uns, bei „unserer“ Ziegelei sein! …
In einiger Entfernung stand schon ein einfaches Gerüst bereit: Zwei Holzbalken stecken im Abstand von vielleicht fünf Metern im Boden und ragten beinahe die gleiche Strecke hoch. Ein dritter war quer darüber gelegt. Und an ihm sahen wir fünf dünne Stricke oder Drahtseile herunterhängen. Ein leichter Schauder überlief uns Kinder… Doch ehe wir noch unsere Bemerkungen darüber machen konnten, fuhr am Rande des Platzes ein Lastkraftwagen vor. Und plötzlich war da auch eine kleine Abteilung bewaffneter Soldaten in Wehrmachtsuniformen, die junge Männer in grauen wattierten Steppjacken mit einem blauen Schild daran – ich glaube, darauf stand „Ost“ – bewachten. Jetzt ging alles ganz schnell, und ich erinnere mich an die Details kaum noch. Der Lkw fuhr mit der Ladepritsche unter das Galgengerüst und die fünf jungen Männer wurden einzeln herangeführt, auf die Ladefläche gehoben und ihnen die Stricke um den Hals gelegt. Das ging beinahe reibungslos, denn die Ukrainer hatten sich augenscheinlich in ihr Schicksal ergeben. Nur der letzte, der kleinste von ihnen – ich sah einen Jungen, nicht viel älter als ich selbst! – wehrte sich heftig. Er wollte nicht laufen! Er schrie nach seiner Mutter und stemmte seine Beine gegen die mit viel Kraft an seinen Armen ziehenden Soldaten. Und einer von denen trat ihm immer wieder in den Rücken und das Hinterteil. Trotzdem kämpfte er mit aller Kraft gegen sein bevorstehendes Ende. Wir hockten wie erstarrt vor unseren Löchern. Ein grenzenloses Mitleid erfasste wohl jeden von uns. Adelbert konnte plötzlich nicht mehr einfach nur zusehen. Er sprang auf und rief so laut er konnte: „Lass ihn doch laufen, lass ihn doch laufen!“ Dann brach er in Tränen aus. Wir anderen schnellten sofort hoch und hielten ihm den Mund und die Augen zu, obwohl wir nicht weniger erschüttert waren als er.
Die Soldaten schafften den Kleinen schließlich doch auf den Wagen und unter den Galgen, aber diese Szenen habe ich wohl verdrängt. In unserer Angst, vielleicht selbst entdeckt zu werden, ging die eigentliche Hinrichtung an uns fast vorbei. Das Anfahren des Autos und den Ruck des Erhängens nahmen wir – glücklicherweise – nicht wirklich wahr. Jedenfalls erinnere ich mich kaum daran. Erst, als die fünf Körper leblos an den Seilen hingen, löste sich unsere Erstarrung. Dass wir das gesehen hatten! Das hätten wir ja gar nicht sehen dürfen! Diese Bilder verfolgen mich noch heute in meinen Träumen. Immer wieder durchlebe ich die Augenblicke, und immer wieder frage ich mich, ob man nicht hätte einfach dazwischen gehen müssen und rufen: „Ihr seid ja verrückt geworden, ihr könnte die doch nicht einfach aufhängen..!“ Aber das hätte bestimmt nichts gebracht… die hätten uns womöglich gleich mit aufgehängt – wer weiß? Augenzeugenbericht ………
Nach einem Bericht von Bernhard Brahms aufgeschrieben von Hans-Gerd Wendt (Ubbo Emmius Gesellschaft Emden)