Winter der Welt

geschrieben von Raimund Gaebelein

17. November 2012

Der umfangreiche Roman Ken Folletts spiegelt sein Verständnis des Umbruchs in Europa vom Faschismus zum Kalten Krieg wieder.

Die Familie des sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Walter von Ulrich und seiner britischen Frau Maude Fitzherbert erlebt die Zerstörung jeglicher Rechtsgrundsätze nach der Machtübertragung Ende Januar 1933. Maud von Ulrich und die britische Parlamentsabgeordnete Ethel Leckwith, verbunden durch jahrelangen gemeinsamen Kampf um das Frauenwahlrecht, erleben im Berlin des Jahres 33 einen SA-Überfall auf Mauds Zeitungsredaktion. Die Polizei sieht nicht nur tatenlos zu, sondern verhaftet Zeitungsredakteure, die sich dem Überfall entgegenstellen. Bei einer von faschistischen Schlägern gestürmten Wahlkampfveranstaltung lernen Walter und Maud von Ulrich sowie Ethels Sohn Lloyd Williams über den Wissenschaftler Wilhelm Frunze die Gymnasiasten Werner Franck und Wladimir Peschkow kennen, den Sohn des sowjetischen Militärattachés. Sie erleben die Verhaftung von Walters Cousin Robert, seines Lebensgefährten Jörg Schleicher und Lloyd Williams’, als Robert von Ulrich sich weigert, dem Schwager des frisch beförderten Leiters der politischen Abteilung Thomas Macke das Szenerestaurant Chez Robert gegen 20.000 Reichsmark zu verkaufen. In Oranienburg erlebt Lloyd Williams den menschenverachtenden Terror des deutschen Faschismus. Um Robert von Ulrich gefügig zu machen, lässt Macke Roberts Freund Jörg von Hunden zerfleischen. Trotz Massenverhaftung Tausender Arbeiterfunktionäre vertraut Walter von Ulrich immer noch auf den bürgerlichen Anstand, selbst als das Zentrum dem Ermächtigungsgesetz zustimmt. Nach Cambridge zurückgekehrt, organisiert Lloyd Williams Protestkundgebungen gegen das Auftreten britischer Faschisten um Mosley. Als Redner gewinnt er den emigrierten Robert von Ulrich. Lloyd verliebt sich in Daisy, die Tochter des russisch-amerikanischen Magnaten Lev Peshkow. Um gesellschaftlich anerkannt zu werden, heiratet sie jedoch seinen Studienfreund und faschistischen Jugendleiter Boyd, Sohn des Kohlebarons Fitzherbert, Bruder Maud von Ulrichs. Mit seinen Freunden Lenny Griffiths und Dave Williams schließt sich Lloyd Williams 1937 in Spanien den Interbrigaden an, um an der Seite der Spanischen Republik den faschistischen Putsch zurückzuwerfen. An der Belchitefront werden ihm die Rivalitäten zwischen den unterschiedlichen linken Gruppierungen bewusst. Erneut begegnet er Wladimir Peschkow, der im Auftrag des sowjetischen Nachrichtendienstes nach einem faschistischen Spion in den Reihen der Interbrigadisten fahndet. Lloyd muss erleben, wie aus privaten Rivalitäten Spionagevorwürfe entstehen, wie ein taktischer Rückzug mit Kriegsrecht geahndet wird, dem seine Freunde zum Opfer fallen. Desillusioniert kehrt er nach England zurück. 1940 entkommt er mithilfe französischer Partisanen der deutschen Gefangenschaft. Über Spanien kehrt er nach England zurück und wird für die Fluchthilfe alliierter Gefangener aus dem besetzten Frankreich eingesetzt. Wladimir Peschkow führt der Weg 1939 nach Berlin zurück, wo er im Auftrag des militärischen Nachrichtendienstes GRU ein Nachrichtennetz aufbaut, damit die Sowjetunion frühzeitig über Aufrüstungs- und mögliche Angriffspläne informiert ist. Carla von Ulrich, Werner und Frieda Franck und der ehemalige Zentrumsabgeordnete Heinrich von Kessel erfahren durch intensive Nachforschungen von der systematischen Euthanasie Behinderter. Die Ermordung ihres Vertrauten, Pastor Ochs, und Walter von Ulrichs durch die Politische Abteilung Thomas Mackes bringt sie an die Seite von Wladimir Peschkows Nachrichtengruppe. Es gelingt ihnen, Informationen und Dokumente zum bevorstehenden Angriff auf die Sowjetunion nach Moskau zu senden, die Richard Sorges Meldungen aus Tokio bestätigen. Nach langem Zögern wird Stalin aktiv. Tod und Gefangenschaft Hunderttausender von Rotarmisten und Hunderte von Kilometern Geländegewinn konnte die deutsche Wehrmacht von Juni bis Dezember 1941 erzielen. Zum ersten Mal wird Wladimir Peschkow 1937 mit Berichten über die Entwicklung einer Atombombe konfrontiert. Mithilfe der Physikerin Zoja Worotsyntsow kann er die Berichte verifizieren. Vier Jahre später erhält er Informationen, dass eine Abteilung britischer und amerikanischer Wissenschaftler an der Entwicklung einer Nuklearbombe arbeitet. Greg Peshkov, Daisy Fitzherberts Halbbruder gehört zum Stab Brigadegeneral Grooves, der die Manhattan Engeneer Group überwacht. Zu dieser Gruppe gehört auch der emigrierte Wissenschaftler Wilhelm Frunze aus Berlin. Bei der Moskauer Außenministerkonferenz Oktober 1943 lernt Wladimir Peschkow Woody Dewer kennen, einen Studienfreund seines ihm unbekannten amerikanischen Cousins Greg Peshkovs. Er lässt durchblicken, dass die Eröffnung der zweiten Front in Europa wohl auf sich warten lassen werde, da sich die Aufmerksamkeit der USA auf den Pazifischen Raum und Ostasien konzentriere. Anfang August 1945 platzt in die Hochzeit Wladimirs und Zojas die Nachricht vom Atombombenabwurf auf Hiroschima und Nagasaki. Mit der Verhaftung Zojas wird Wladimir Peschkow dazu gebracht, Wilhelm Frunze in Amerika aufzusuchen, um Kopien der Konstruktionspläne der Bomben zu beschaffen. Zoja wird in der Zwischenzeit im Moskauer Gefängnis Lubjanka festgehalten, um seine Rückkehr zu sichern. Trumans Eindämmungspolitik, Marshallplan, Währungsreform und Luftbrücke sind Schritte zu einem weltweiten Kalten Krieg, die Sowjetunion sichert das Gleichgewicht der Kräfte durch Entwicklung einer eigenen Atombombe. Der umfangreiche Roman Ken Folletts spiegelt sein Verständnis des Umbruchs in Europa vom Faschismus zum Kalten Krieg wieder. Der Leser gerät in eine komplexe Verwicklung handelnder Personen, deren persönliche Beziehungsgeschichte bereits aus dem Band „Sturz der Titanen“ bekannt ist, aber nicht zwingenderweise im zweiten Band „Winter der Welt“ vorausgesetzt wird. Die Zeitspanne der Jahre 1933-49 beschreibt den mittleren Teil von Ken Folletts Jahrhundertsaga. Eindrücklich wird der Terror des deutschen Faschismus dargestellt. Der Abgeordnete Walter von Ulrich hat ein britisches Internat durchlaufen. Seine britische Frau Maud wurde von ihrer adligen Familie ausgestoßen. Bereits im ersten Weltkrieg waren sie Außenseiter. Für ihre demokratische und unkonventionelle Haltung gibt es im Faschismus keine Chance, sie scheitern an ihrer Aufrichtigkeit. Die nächste Generation ist sehr viel stärker den Einflüssen der Zeit ausgesetzt. Sohn Erik nimmt die Phrasen des Faschismus ernst. Aus seiner gutbürgerlichen Erziehung heraus ist es zu erklären, dass er an der Richtigkeit der faschistischen Propaganda zweifelt. Aber es bedarf der Folge von Niederlagen, bis er den vollen Umfang der Lügen sieht. Seine Schwester begreift sehr viel früher die Verlogenheit des Faschismus. Der Autor Ken Follett ist bemüht, die Gründe für die Entstehung des Kalten Kriegs darzustellen. Er verfängt sich nicht in einer Gleichsetzung des Kommunismus mit dem Faschismus. Die Ungesetzlichkeiten des Stalinismus, der große Terror der Jahre 1936/38, die Furcht vor Angriffen auf die sozialistischen Ziele werden angedeutet und in der Beziehung der Familie Peschkow verständlich gemacht. Wladimir Peschkows Vater war ein Held der Oktoberrevolution, Wladimir ist überzeugt von der Richtigkeit der Argumente und wählt die für ihn überzeugende Form zum Aufbau seines Landes und der neuen Gesellschaft: den militärischen Nachrichtendienst. Er wird konfrontiert mit abstoßenden Vorgehensweisen der Geheimpolizei und durchlebt erhebliche Zweifel. Follett urteilt nicht, aber seine Auffassung fließt in das Handeln der dargestellten Personen ein. Auch in die Schilderung der Zurückhaltung einflussreicher Kräfte in den USA vor dem Kriegseintritt und ihrem Hinauszögern der zweiten Front in Europa. Im zögerlichen Handeln der treibenden Kräfte schimmert unverhohlen Profitinteresse als eigentliche Triebkraft der einflussreichen Kräfte in Amerika durch.

20121118_1_050.013.243
Ken Follett, Winter der Welt, 1023 S. Lübbe Verlag, Köln 2012, 29,99 Euro ISBN 978-3-7857-2465-1