„… dass du weißt, was hier passiert ist“ Medizinische Experimente im KZ Neuengamme und die Morde am Bullenhuser Damm
11. Juni 2012
Dank Günter Schwarberg und Fritz Bringmann wissen Angehörige der 20 jüdischen Kinder, die am 20. April 1945 zusammen mit ihren Ärzten und Pflegern und mit 24 russischen Häftlingen im Keller der Schule am Bullenhuser Damm ermordet wurden, ein wenig von ihrem Schicksa
Dank Günter Schwarberg und Fritz Bringmann wissen Angehörige der 20 jüdischen Kinder, die am 20. April 1945 zusammen mit ihren Ärzten und Pflegern und mit 24 russischen Häftlingen im Keller der Schule am Bullenhuser Damm ermordet wurden, ein wenig von ihrem Schicksal. Iris Groschek und Kristina Vagt haben nun in ihren Recherchen weitere Einzelheiten herausgefunden. Das von der Edition Temmen liebevoll gestaltete Buch stellt auf leicht lesbare Weise neue Forschungsergebnisse dar und zeichnet den mühsamen Weg zur heutigen Gedenkstätte am Bullenhuser Damm nach. Ausführlich werden die Biographien der Opfer und ihrer Angehörigen vorgestellt, die Suche nach den Tätern und der juristische Umgang mit ihnen. Es wird ergänzt durch einen hilfreichen Anmerkungsteil und ein gutes Literatur- und Namensregister. Auch im KZ Neuengamme führten Mediziner und Chemiker Menschenversuche durch. Die Behandlung mit Sulfonamiten gegen Fleckfieber erwies sich im Winter 1941/42 als wirkungslos. Von Sommer 1944 an wurde KZ-Häftlingen in einer abgeschotteten Krankenbaracke mit chemischen Kampfstoffen verseuchtes Wasser verabreicht und nachdem sich erste Symptome zeigten gereinigtes Wasser. Dr. Alfred Trzebinski ließ Ende November 1944 20 jüdische Kinder aus Auschwitz kommen, denen er Tuberkulosebakterien einspritzte. Ab Februar 45 wurde verstärkt mit Stickstofflost experimentiert. Frauen wurden in Luftschutzräume gesperrt, um die Wirkung erhöhter Kohlenmonoxydzufuhr zu testen. Wegen zunehmender Bombardierungen wollte die SS KZ-Häftlinge näher an die Produktionsstätten bringen. In einem Teil der Schule am Bullenhuser Damm wurden Ende November 1944 zunächst 50 KZ-Häftlinge zum Trümmerräumen und zum Herstellen von Hohlsteinen eingesetzt. 592 waren es am 29. März 1945 laut Aussagen des Trzebinskis. Am 11. April 1945 wurden die skandinavischen Häftlinge mit den Weißen Bussen des Roten Kreuzes zurück nachhause gebracht. Eine Woche später wurden die verbliebenen polnischen und französischen KZ-Häftlinge des Außenlagers nach Sandbostel transportiert. Wenigstens zwei SS-Wachen blieben zurück und organisierten den Tod der 20 Kinder, ihrer Betreuer und der sowjetischen Häftlinge. Im Curio-Haus-Prozess 1946 machten Lagerkommandant Max Pauly und Dr. Trzebinski widersprüchliche Angaben zum Mordbefehl. Als Entlastungsbeweis wies der KZ-Arzt Dr. Kurt Heißmeyer in seinem Prozess 1964 in Magdeburg auf Krankenakten und Fotos der Kinder hin, die er auf der Flucht vergraben hatte. 1948 wurde die Schule am Bullenhuser Damm wieder zur Schule. Fritz Bringmann und Hans Schwarz führten italienische und französische Besucher zur Mordstätte. Erst nach jahrelangen Anstrengungen wurde 1963 eine erste Gedenktafel enthüllt. Angeregt von Fritz Bringmanns Buch über die Kinder vom Bullenhuser Damm forschte Günther Schwarberg mit Suchplakaten der Sternserie im April 1979 europaweit nach Angehörigen, kam in Kontakt mit Dr. Henri Morgenstern, Philippe Kohn, der Tante der Hornemann-Brüder und Familie Zylberberg, ein Trägerverein „Kinder vom Bullenhuser Damm“ wurde gegründet. 1980 konnte im Keller eine Gedenkstätte errichtet, 1994 nach langem Kampf um den Erhalt eine Dauerausstellung eingerichtet werden. Auf Grundlage neurer Forschungen und pädagogischer Ansätze zeigt sie sich seit 2011 in neuem Licht. Beeindruckend sind vor allem manche jugendlichen Kommentare im Gästebuch. Sie zeigen neben Warnungen vor einer Wiederholung Fassungslosigkeit, Zuneigung, Identifizierung, Verlustgefühle für die 20 Kinder, die nicht vergessen sein sollen. Iris Groschek, Kristina Vagt, „… dass du weißt, was hier passiert ist“ Medizinische Experimente im KZ Neuengamme und die Morde am Bullenhuser Damm, 164 S. Edition Temmen, Bremen 2012, 19,90 Euro, ISBN 978-3-8378-2022-5