Ansprache

geschrieben von René Thirion, ehemaliger Häftling des Lagers - Nr. B - 45508

4. Mai 2010

es bewegt mich sehr, heute vor Ihnen im Namen aller Toten und ehemaligen Häftlinge dieses Lagers Schützenhof zu sprechen.

Sehr geehrte Damen und Herren, Liebe Freundinnen und Freunde, Widerstandskämpfer und Häftlinge der Konzentrationslager,

es bewegt mich sehr, heute vor Ihnen im Namen aller Toten und ehemaligen Häftlinge dieses Lagers Schützenhof zu sprechen. Schützenhof war ein Unterlager von Blumenthal, das selbst Außenlager von Neuengamme war, dem einzigen großen Konzentrationslager Norddeutschlands, 23 km südöstlich von Hamburg. Dieses Stammlager umfasste ein Gebiet von 340 km von der dänischen Grenze im Norden bis Hildesheim im Süden und 300 km von der holländischen Grenze im Westen bis Schwerin im Osten. Es umfasste mehr als 80 Außenlager, auf die die Häftlinge verteilt waren. ES wurde im Dezember 1938 für Häftlinge aus Sachsenhausen errichtet und im Juni 1940 eigenständiges Lager. 106.000 Häftlinge, darunter 13.500 Juden, waren dort gefangen. Wenigstens 55.000 sind dort ums Leben gekommen. Das Unterkommando Schützenhof entstand Ende 1944/Anfang 1945 und wurde im April 1945 geräumt. Unter den 600 Häftlingen dieses Lagers gab es 71 Belgier. 13 von ihnen haben überlebt. Ich bin der letzte noch Lebende. Wegen einer bewaffneten Widerstandstat gegen die Besatzungsmacht unseres Landes wurde ich am 16. Juni 1944 in der Gegend von Huy festgenommen und in Lüttich inhaftiert. Am 31.08.44 wurde ich nach Neuengamme in Deutschland verschleppt, wo ich am 02.09.44 ankam. Am 6.9.44 erreichte ich Blumenthal. Am 15.01.45 wurde ich in den Schützenhof verlegt. Dieses Lager bestand aus 4 Baracken und dem Krankenrevier sowie mehreren Gebäuden, in denen sich die Küche, die Wäscherei und die Toiletten befanden. Alle diese Gebäude umgaben den Appellplatz. Ich wurde als Schweißer zur A.G.Weser geschickt. Unser Tagesablauf war sehr genau geregelt: – 5.30 Uhr: Aufstehen – Toilette – Bettenbau, Baracke fegen. Wir erhielten nur eine Schale mit schwarzer Brühe, die Kaffee genannt wurde! – 7.00 Uhr: Appell auf dem Lagerplatz – 7.45 Uhr: Abmarsch zu Fuß in 5er-Reihen in Begleitung der Kapos und Vorarbeiter unter Bewachung durch Marinesoldaten und SS. – 8.00 Uhr: Betretten des Werks. Die Arbeit wurde von zivilen deutschen Vorarbeitern eingeteilt. – 12.00 Uhr: Wir erhielten 1 Liter Suppe, die nur aus Wasser mit ein paar Kohlrabi und Steckrüben bestand. – 18.30 Uhr: Rückmarsch ins Lager – 19.00 Uhr: Zählappell auf dem Lagerplatz, der sehr lange dauern konnte. Wenn die Zählung stimmte, wurde das Essen ausgeteilt. Es gab ein Stück Brot, etwas Margarine und manchmal eine Scheibe Wurst. So verliefen sechs Tage in der Woche. Der Sonntag wurde als „Ruhetag“ bezeichnet, aber unsere Wachen fanden immer etwas für uns im Lager zu tun. Wir wurden nie in Ruhe gelassen. Wenn mittags die Suppe verteilt wurde, kämpften die Häftlinge um die vordersten Plätze in der Schlange vor den Kübeln. Die Kapos schlugen mit der Faust zu, manchmal ins Gesicht, oder verteilten Fußtritte, um Ordnung zu schaffen. Wir waren der Willkür der Kapos und vor allem der SS ausgeliefert. Der Lagerschreiber war Belgier, tat aber nichts, um seinen Landsleuten zu helfen. Ganz im Gegenteil, er hatte eine Gruppe Jugendlicher um sich, die im Lager als „Wachhunde“ auftraten. Einmal bin ich nicht mit meinem Kommando ins Werk arbeiten gegangen. Ich habe mich im Lager versteckt, wurde aber von einem dieser „Wachhunde“ aufgespürt. Ich habe die übliche Strafe erhalten: 25 Knüppelhiebe auf das Hinterteil. Als ich ohnmächtig wurde, hat man mir einen Eimer kaltes Wasser ins Gesicht geschüttet, um mich wieder zu Bewusstsein zu bringen… In diesem Kommando gab es keinen Verbrennungsofen. Die Toten wurden entkleidet und vor dem Waschhaus nackt aufeinandergelegt. Eine Tür verdeckte sie, aber man konnte ihre armen, abgemagerten Körper noch sehen. Ich weiß nicht, was anschließend mit ihnen geschah. Beim Suchdienst zu den Kriegsverbrechen in Bremen gibt es die Zeugenaussage eines Bewohners der umliegenden Häuser vom 9.11.45 über sämtliche Misshandlungen, denen wir ausgesetzt waren. Als sich die alliierten Truppen näherten, wurden am 6. April 1945 die im Revier befindlichen Kranken mit dem Lastwagen zum Bahnhof gebracht und in einen Zug verladen. Am 7. April wurden die anderen, noch für gesund gehaltenen Häftlinge in 5er-Reihen zu Fuß evakuiert. Wir kamen zurück ins Lager Blumenthal. Am folgenden Tag wurde das ganze Lager geräumt: die Kranken mit der Bahn, die anderen zu Fuß in Gruppen zu 100 Häftlingen in Richtung Neuengamme. Sie gingen durch Schwanewede und machten nachts in Hagen, Kirchwistedt und Barchel halt. In Bremervörde wurden wir in einen Zug verladen und fuhren bis Winsen/Luhe. . Schließlich ging es zu Fuß weiter bis Neuengamme, wo wir am 15. April ankamen. Am 18. April wurden wir in Richtung Lübeck evakuiert und auf die Schiffe Cap Arcona und Athen verladen. Wir haben die Bombardierung der Schiffe am 3. Mai 1945 überlebt und am selben Tage durch die Briten befreit. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit