Rede in der Kapelle auf dem Osterholzer Friedhof – Ehrenanlage der Opfer von KZ und Zwangsarbeit

geschrieben von Helmut Donat

12. September 2009

Zwei Weltkriege sind im 20. Jahrhundert von deutschem Boden ausgegangen. Sie haben unermessliches Leid über die Menschheit gebracht.

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freunde, zwei Weltkriege sind im 20. Jahrhundert von deutschem Boden ausgegangen. Sie haben unermessliches Leid über die Menschheit gebracht. Zahllos und unvorstellbar sind die Opfer von Krieg und Faschismus. Und gerade weil das Morden noch immer kein Ende gefunden hat, ist zu fragen, welche Lehren wir aus dem doppelten deutschen Versuch ziehen, die Welt zu erobern und in Stücke zu schlagen. Es gibt in Deutschland eine schlimme Tradition, eine Kontinuität der Hochschätzung von Macht und Gewalt und eine Geringschätzung von Ethik und Moral. Damit verbunden ist eine Haltung, die dem Militärischen größere Bedeutung zumisst als dem Denken in zivilen Kategorien. Gegen die Dominanz des Militärischen über die Politik, wie wir es zur Zeit in Bezug auf Afghanistan erleben, haben sich Persönlichkeiten wie Carl von Ossietzky, Kurt Tucholsky, Hans Paasche und die Bremer Heinrich Vogeler oder Ludwig Quidde früh gewandt, unmissverständlich, mutig und im Geiste republikanischen Freiheitsdranges. Für diese Freiheit und das Recht, das Militär und dessen Vertreter überall dort in die Schranken zu weisen, wo man sich anmaßt, dem Menschen seine Würde zu rauben und Konflikte zu schüren und anzuheizen, statt sie zu lösen, haben Tucholsky und Ossietzky gekämpft – wider Kadavergehorsam und Knechtseligkeit, gegen Militärfrömmigkeit und Militärpatriotismus. Ich klage Bundeskanzlerin Angela Merkel, Verteidigungsminister Franz Josef Jung sowie die verantwortlichen Militärs an, Deutschland in einen Krieg verwickelt zu haben und weiter zu verwickeln, den die überwiegende Mehrheit der Deutschen nicht will. Wer in einer Region, in der deutsche Interessen nicht im Geringsten berührt werden, Befehle zum Angriff gibt bzw. sie unterstützt, fordert meines Erachtens zum Mord auf, ist verantwortlich für alle Untaten, die dabei geschehen und verletzt das Gebot: „Du sollst nicht töten!“ Franz Josef Jung hat von einem sogenannten „Stabilisierungseinsatz“ gesprochen und dass es darum gehe, „jetzt die Sicherheitslage in den Griff bekommen, um auch weiter Wiederaufbau vorantreiben zu können.“ Was aber ist wirklich geschehen? An den Kämpfen nahe der Nordafghanischen Stadt Kundus im Distrikt Char Darreh sind rund 300 deutsche Soldaten der schnellen Eingreiftruppe, 800 afghanische Streitkräfte und 100 afghanische Polizisten im Einsatz, wie Jung und Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhan vor einigen Wochen in Berlin darlegten. Erstmals seit Beginn des Bundeswehreinsatzes am Hindukusch greift die Bundeswehr mit Mörsern und Panzern des Typs Marder, also mit 20-Millimeter-Maschinenkanonen und 120-Millimeter-Mörsern in die Kämpfe ein. Schneiderhan betonte ebenso wie Jung, dass es sich, wie sie es nennen, um eine „Detailoperation“ handele, die nicht von Deutschland, sondern von den Afghanen geführt werde. Ob die Offensive wie geplant in einer Woche beendet werden könne, liege nicht in der Hand der Bundeswehr, sagte der Generalinspekteur. Ziel sei es, bis zu den Wahlen im August wieder „Kontrolle über den Raum“ zu bekommen, also zu wissen, wo sich womöglich etwas „zusammenbraut“. An den Äußerungen Jungs und Schneiderhans ist einiges bemerkenswert. Zunächst die strikte Vermeidung des Begriffes „Krieg“. Statt dessen heißt es „Stabilisierungs-einsatz“ bzw. „Detailoperation“, als ob so etwas nicht zu einer Kriegsstrategie gehörte. Mit solchen, den wirklichen Sachverhalt verschleiernden Worten sucht man die Menschen und die Öffentlichkeit in die Irre zu führen und darüber hinwegzutäuschen, dass z.B. mit dem Einsatz von schweren Waffen klar eine Grenze überschritten worden ist. Offenbar will man uns an solche „Operationen“, um im Jargon der Gewaltpolitiker zu bleiben, gewöhnen. In die gleiche propagandistische Richtung zielt die verharmlosende Erklärung, die Offensive werde nicht von den Deutschen, sondern von den Afghanen geführt. Für wie dumm hält der Generalin-spekteur die deutsche Öffentlichkeit? Wer auch nur ein wenig Ahnung davon hat, wie solche Einsatzbefehle zustande kommen und gehandhabt werden, kann über die Verlautbarung des Generalinspekteurs nur den Kopf schütteln und sich wundern, mit welch einfachen bis dümmlichen Mitteln er versucht, der Öffentlichkeit Sand in die Augen zu streuen. Denn seit wann tun deutsche Soldaten und Offiziere das, was ihnen eine andere Truppe vorschreibt oder von ihnen will? Das klingt sehr unglaubwürdig. Vielmehr gibt es bei solchen gemeinsamen Kriegshandlungen Absprachen und vorher festgelegte Pläne, und da macht es keinen Sinn, wenn sich der eine hinter dem anderen versteckt. Das tut er auch nicht wirklich, sondern er tut es aus lediglich aus propagandistischen Gründen gegenüber der Öffentlichkeit – aber mit Sicherheit nicht den afghanischen Streitkräften gegenüber. Hauptsache die Menschen daheim denken, wir haben ja, wenn überhaupt, nur am Rande damit zu tun. Wie selbständig und unabhängig von den afghanischen Streitkräften die deutschen Militärs am Hindukusch agieren, hat der Zwischenfall mit den in die Luft gesprengten Tanklastwagen, dem auch Zivilisten zum Opfer gefallen sind, zur Genüge gezeigt. Ob die Offensive schon nach einer Woche beendet sei, auch das, so behauptete Schneiderhan, liege nicht in den Händen der Bundeswehr. Er will uns aber nicht nur an längere Kampfzeiten gewöhnen, er möchte, dass wir seine Verlautbarungen sowie die mehr oder minder gleichen Äußerungen von Jung und anderen deutschen Politikern nicht allzu ernst nehmen bzw. auf die Goldwaage legen, sondern ihnen zugestehen, dass wir uns mit ihnen an den sich wechselnden militärischen Einschätzungen orientieren. Man müsse jetzt die Sicherheitslage in den Griff und, so das Ziel nach den Worten des Generalinspekteurs, bis zu den Wahlen im August wieder „Kontrolle über den Raum“ bekommen, um zu wissen, wo sich womöglich etwas „zusammenbraut“. Was soll uns das sagen bzw. was ist von solchen Argumenten zu halten? Dass man die Sicherheitslage seit langem nicht im Griff hat, dürfte nichts Neues sein; die zahlreichen Anschläge auf militärische und zivile Einrichtungen belegen das eindrücklich. Was aber vor allem auffällt, ist die Tatsache, dass militärische Denkweisen weit vor zivilen Erwägungen rangieren. Da ist die Rede von „Kontrolle über den Raum“ und über das, was sich möglicherweise „zusammenbraut“. So denkt und spricht ein Militär, und vielleicht kann er in seiner beschränkten Wahrnehmung von Konflikten auch gar nicht anders reden. Wenn solche Auffassungen sich aber anheischig machen, die Haltung und Mentalität einer ganzen Nation zu bestimmen, ist mehr als Einhalt geboten. Die jüngsten Ereignisse offenbaren die Absurdität des deutschen militärischen Einsatzes in hohem Maße. Da gibt ein Oberst selbstherrlich den Befehl, auf den Knopf zu drücken und zwei Tanklastwagen in die Luft zu jagen – ohne sich mit Vorgesetzten über den Luftschlag zu beraten und ohne genau zu wissen, was da eigentlich vor sich geht und wer davon betroffen sein könnte. Wie so oft in solchen Situationen geht die Sache schief, und kaum hat man begriffen, welch todbringende Verantwortung man auf sich geladen hat, wird Schadensbegrenzung betrieben und die grausige Tat und ihre Folgen versucht zu rechtfertigen, zu bagatellisieren und als zutiefst bedauernswerte Unvermeidlichkeit hinzustellen. Der Krieg der Bundeswehr sollte dem Schutz der Wahlen in Afghanistan dienen. Inzwischen ist von massivem Wahlbetrug die Rede. Wir wissen auch hier noch nicht, was die Untersuchungen und weiteren Recherchen ergeben werden. Nehmen wir einmal den schlimmsten Fall an und der Verdacht bestätigt sich. Die deutschen Soldaten hätten dann ihre Knochen hingehalten, um Wahlbetrügern den Rücken frei gehalten?! Und wie ist vor diesem Hintergrund der Tod von Zivilisten zu beurteilen? Nicht zuletzt die Dominanz des militärischen Denkens über die Politik hat Deutschland und die Welt ins Unglück gestürzt. Das Denken in Gewalt-, Macht- und Freund-Feind-Kategorien hat zivile und politisch motivierte Lösungen nicht nur ausgeschlossen. Anhänger und Vertreter solcher Vorstellungen galten als „Träumer“, weltfremde Idealisten oder gar als Vaterlandsverräter, die man diffamierte, verfolgte, einsperrte oder gar ermordete. Dabei haben die Verantwortlichen, die sich dem Revanchegeist und Schwertglauben verschrieben, die Folgen ihres Handelns unterschätzt und einseitig auf militärische bzw. gewalttätige Lösungen gesetzt. Zivile Optionen lagen außerhalb ihres Denkens und waren ihnen geradezu verpönt, als unmännlich, undeutsch oder was auch immer. Ähnlich stellt es sich offenbar bei Schneiderhan dar. Ihm gilt es daher mehr als zu misstrauen. Und so ist danach zu fragen: Welche zivilen Mittel hat man bislang in Afghanistan angewandt und ausgeschöpft, um das Land zu „befrieden“? Und wie kann man glauben, ein Land, das von Korruption, Feindschaften, Hass und Gewalt geprägt ist, und in dem große Widerstände gegen die Besatzungstruppen bestehen, das zudem von Attentätern nur so zu wimmeln scheint, in eine solche Ordnung zu bringen, wie es sich westlich orientierte Militärs und Politiker vorstellen? Und: Wenn ein Militär sogenannte „Operationen“ unternimmt, um abschätzen zu können, was sich da vielleicht „zusammenbraut“, so sind das Erwägungen, die militärische Aktionen nicht zu rechtfertigen vermögen und in das Reich einer Verlogenheit gehören, die letzten Endes eines Generals unwürdig ist. Denn seit wann arbeitet man Angriffspläne und Offensivstrategien aus, um mit ihnen herauszubekommen, welches Gebräu sich daraus ergeben könnte? Auch eine solche Denkungsart ist nicht neu: Man glaubt, sich in einer Klemme zu befinden, die „Sicherheitslage“ ist bedroht (wann ist sie das nicht in Afghanistan?), man sieht seine Felle davon schwimmen und plant ins Blaue hinein, den Gegner abzunutzen, ihn zu schwächen oder über ihn die Oberhand zu gewinnen, nur um mal zu sehen, was sich daraus ergibt und sich die Lage danach darstellt. So denken Militärs – vielleicht nicht allein in deutschen Landen. Die Opfer eines solchen Unternehmens spielen für sie dabei offensichtlich keine Rolle; sie sind einkalkuliert. Mit einer Politik, die sich bei der Lösung von Konflikten von zivilen und menschlichen Strategien von Konflikten leiten lässt, hat das nichts mehr zu tun. Und vor diesem Hintergrund ist es nahezu „logisch“, wenn Zivilisten zu beklagen sind. Angela Merkel hat am letzten Montag im Bundestag vor einem „deutschen Sonderweg“ gewarnt. Sie meinte damit, wir, die Deutschen, dürften uns nicht vor dem, was u.a. Amerika will, verschließen. Ein billiges und noch dazu überaus schlechtes Argument. Denken wir nur an Dänemark, Belgien, Schweden, Luxemburg oder Kanada. Gehen sie einen „Sonderweg“, weil sie meinen, in Afghanistan nicht präsent zu sein? Natürlich nicht. Frau Merkel ist eine Kanzlerin des Krieges geworden. Sie und Franz Josef Jung tragen in erster Linie die politische Verantwortung dafür, dass unbeteiligte Zivilisten verletzt und getötet worden sind! Mag sein, dass sie das angesichts der Gewalt, die in unserer Welt tagtäglich Opfer fordert, als „normal“ ansehen, wir bezeichnen es als unerträglich, inhuman und als einen Irrweg, der von Schrecken, Grausamkeit und Tod begleitet ist. Statt nach den Erfahrungen des Ersten und Zweiten Weltkrieges jeder Gewalt abzuschwören und sich einer Politik zu verschreiben, die das Glück der Menschen und Völker mehrt, begeben sie sich erneut auf den unheilvollen Weg, mit Hilfe von Waffen Einflusssphären zu sichern bzw. zu erweitern. „Eskalation“ heißt das Zauberwort, hinter dem sich Zerstörung, Tod und Elend verbirgt. Wir haben in dem Land nichts zu suchen, außer wir leisten wirkliche humanitäre Aufbauhilfe. Erinnern wir uns daran, was der Altbundeskanzler Helmut Schmidt bereits im Herbst 2007 in einem Interview mit dem SPIEGEL (Nr. 44) äußerte: „In Afghanistan geht es in erster Linie um Menschen, die unter dem 11. September 2001 gelitten haben, das heißt um die Bekämpfung von al-Qaida und nicht der Taliban … Das Völkerrecht verbietet die militärische Intervention in einem souveränen Staat, wie stark oder schwach er innerlich auch sein mag.“ Und: „Uns stellt sich nicht die Aufgabe, Afghanistan davon abzubringen, Mohn anzubauen. Eine zivile Gesellschaft aufzubauen, ist kein Grund, dort einzugreifen. Der Grund für die Intervention war ausschließlich al-Qaida; und inzwischen ist al-Qaida nach Pakistan gezogen. Sollen wir demnächst auch dort einmarschieren?“ Die Befürworter von Militäreinsätzen berufen sich auf die schwere Aufgabe der Soldaten, die unerträglichen Angriffe, die Verteidigung guter Sitten und darauf, dass die Zeit für einen solchen Schutz reif sei. Dem Kern des Problems weichen sie aus: dass Soldaten in der „Kunst“ des Tötens unterwiesen und auch in der heutigen Zeit zum Massenmord ausgebildet werden, dass Krieg und Grausamkeit unauflöslich miteinander verknüpft sind. Der Pazifist Hans Fülster schreibt dazu: „Die Barbarei läßt sich nicht idealisieren; das Unmenschliche läßt sich nicht humanisieren. Der Krieg zwingt zur Unmenschlichkeit, zur Unmoral, zur Barbarei. Die Blutarbeit erstickt das Gefühl der Menschlichkeit; der Krieger wird unempfindlich gegen fremde Leiden … Der Krieg bringt eine grundstürzende Umwertung aller sittlichen Begriffe. Er zerbricht alle geltenden Maßstäbe von Gut und Böse. Er verkehrt alle ethischen Werte in ihr Gegenteil … Im Frieden gilt das Gesetz: Wer tötet, den trifft lebenslange Strafe. Im Kriege lautet das Gebot: Du sollst töten … Ein unversöhnlicher Gegensatz klafft zwischen der Moral des Friedens und der Moral des Krieges.“ (H. Fülster, Die treibenden Kräfte der überstaatlichen Organisation, Leipzig o.J., S. 93 f.) Wie leicht kann ein Soldat bei Kämpfen in eine Situation geraten, in der alle sittlichen Schranken fallen und er zum Mörder wird?! Solche Erwägungen sind den Befürwortern des Militäreinsätze fremd, und sie tun so, als würde der Soldat nicht das Töten erlernen. Für alle Zeiten, behauptete Graf Kielmannsegg vor fünfzehn Jahren, bleibe es so, dass „Krieg, Gewalt, Tod und Ungerechtigkeit“ sich „eben nicht in einer großen moralischen Anstrengung für immer aus der Welt“ schaffen ließen. Daher gelte es nun einmal, sich des lange verdrängten Tatbestandes zu erinnern, „daß Soldatsein in letzter Konsequenz auch Töten und Sterben heißen kann“. Mir macht solches Denken Angst. Wenn „die Geschichte und das Wesen des Menschen“ auf Gewalt und Krieg konzentriert werden, welche Mittel der Konfliktbewältigung bleiben dann eigentlich noch außer denen, die Tod und Zerstörung bedeuten? Und lehrt nicht gerade das deutsche Beispiel, dass Politiker und Militärs die Welt so behandeln, wie sie sich die Geschichte vorstellen – als ein Schlachtfeld, auf dem es sich zu behaupten gilt und herauskommt dabei am Schluss ein riesengroßer, unüberschaubarer Friedhof. Deutschland ist wieder stark und mächtig. Da ist vom „Frieden“ die Rede, und Kampfeinsatz ist gemeint. Ein „Comeback des Militärischen“ steht uns ins Haus. Die vielbeschworene Rückkehr zur „Normalität“ erweist sich als eine Rückkehr zum bloßen Machtdenken und geht einher mit einer nach 1945 beispiellosen Militarisierung der deutschen Außenpolitik. Es scheint inzwischen so, dass sich, wie es der ehemalige christdemokratische Verteidigungs-Staatssekretär Willy Wimmer einmal bezeichnete, „der Apparat verselbständigt“ hat. Da ist natürlich die Erinnerung daran, wohin solche Machtpolitik führen kann, fehl am Platz. Und da wird natürlich eine deutliche Sprache darüber, was von dem Soldatenhandwerk zu halten und zu erwarten ist, nicht gern gehört. Daran werden auch die neuen, sogenannten „Tapferkeitsorden“ nichts ändern. Viele hervorragende Persönlichkeiten haben sich in der Geschichte des 20. Jahrhunderts in Deutschland gegen eine von militärischen Gesichtspunkten sich leitende Politik gewandt. Zu ihnen gehören neben dem Bremer Heinrich Vogeler der 1920 von einer Reichswehrtruppe ermordete Pazifist Hans Paasche. In seiner 1919 erschienenen Flugschrift „Meine Mitschuld am Weltkriege“ schreibt er: „Es ist so unsinnig Menschen zu erschießen und zu erschlagen, ganz unsinnig aber, wenn es sich, wie immer am Ende des Krieges herausstellt, daß nicht einmal das eine sicher war: Es war dein Feind, den du tötetest! Oft töten die Krieger aus Angst um ihr eigenes Leben, um sicher zu gehen … sie sehen Hinterhalt, sie fürchten Grausamkeit des Feindes, sie neigen dazu, sich selbst durch Abschreckung zu schützen, und Abschreckung wiederum ist ein Wahn. Eines Tages wurden wir aus dem Hinterhalt beschossen und hatten Tote. Es war nur eine Stimme: Die Gefangenen von diesem Tage müssen erschossen werden. Sofort muß das geschehen, wenn wir hier hinauskommen wollen, Schwäche würde uns und das ganze Land gefährden, und es ist so Brauch. Allen leuchtete es ein, daß es recht sei, die Gefangenen zu morden. Es gab keine Grenze zwischen Notwehr und Mord. So ist die Seelenverfassung von uns schwachen Menschen im Kriege. Scharfmacherei, Mordlust, Mitleidlosigkeit, Gereiztheit regieren.“ (S. 10) Ähnlich wie Paasche rief auch Vogeler nach 1918 zu einer Umkehr auf. In einem Brief an seine Frau Martha forderte er Ende 1917: „Wir müssen zu einer Politik kommen, die von einer tiefen Ethik unterlegt ist.“ Es komme darauf an, Abschied zu nehmen von der „Selbst-herrlichkeit einer tiefgründigen Menschheitsentwicklung gegenüber“, von der „berühmten deutschen Arroganz, die uns so ungeheuer beliebt gemacht hat bei der ganzen Welt und auch die zarte Pflanze des Friedens vernichten kann … Betreiben wir [aber] unsere alte, hinterlistige Politik der Schwachheit [weiter], die reine Frucht des Friedens wird dahin siechen oder sinken – aber damit begönne der fürchterlichste innere Krieg, der je da gewesen ist.“ Wie Paasche trat Vogeler für eine Neuorientierung der deutschen Politik ein; sie sollte nicht weiter auf Gewalt- und Machtkategorien basieren, sondern auf Verständigung und Aussöhnung sowie auf der Grundlage von Moral und Ethik beruhen. Und hat Vogeler nicht Recht gehabt, wenn er warnte, dass anderenfalls der „fürchterlichste innere Krieg begönne, der je da gewesen ist“? Sind nicht viele Deutsche genau in diesen Konflikt geraten: Angehörige eines Volkes zu sein, das in seiner Mehrheit den Weg in die Barbarei fortsetzte und gegen das sie sich, wenn sie dem Recht und der Humanität treu bleiben wollten, wenden mussten? Vogeler selbst war davon betroffen, und es sieht Vieles danach aus, dass wir es auch sein werden, wenn wir nicht „Nein!“ sagen und uns aktiv in das Geschehen einschalten. Es ist hohe Zeit, dass wir über neue Formen des zivilen, gewaltlosen Widerstandes nachdenken. Wir wollen nicht, dass Deutsche sich erneut dazu hergeben müssen oder sollen, über das Leben und den Tod anderer Menschen zu entscheiden! Wir haben genug davon und wehren uns dagegen, wie es jüngst Hans Metzler in dem folgenden Gedicht getan hat:

Krieg!

Wolf Schneiderhan*, Afghanistan, Marder, Mörser, Merkel, Mörder.

Soldatenhand ist schnell verbrannt. Es gibt kein Sieg in diesem Krieg.

Sag mir, wessen Machtint’ressen vertritt Franz Jung: Verteidigung?

Krieg ist kein Spiel. Kostet zu viel. Und allemal das Arsenal

der Waffen spricht. Jung Frieden bricht am Hindukusch, hält jeden Busch

für einen Feind. Deutschland vereint, ergreift das Wort – und wählt den Mord!

Afghanenwut – unschuldig Blut vergossen ist. Ein Zivilist,

er lebt nicht mehr, die Bundeswehr hat seinen Tod im Stand der Not

herbeigeführt – und ist gerührt. Deutschland erwacht: s’t Mördernacht!

Wolf Schneiderhan, Afghanistan, Marder, Mörser, Merkel, Mörder.

Soldatenfuß ist schnell verrußt. Es gibt kein Sieg in diesem Krieg.

* Für alle die es nicht wissen: Der Generalinspekteur der Bundeswehr heißt Wolfgang Schneiderhan und hat sich – kann ein machthabender deutscher General 70 Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkrieges wirklich nicht anders? – vehement dafür ausgesprochen, sich in Afghanistan für den Frieden einzusetzen, also Krieg zu führen.

Angesichts der Tatsache, mit welchen Worten in unseren Tagen ein offenkundiges Verbrechen mit fadenscheinigen Argumenten beschönigt und verharmlost wird, ist an Kurt Tucholskys Appell vom 1. August 1925 zu erinnern: „Was uns so oft fehlt, ist das klare Feldgeschrei, die einfache Losung, die radikale Selbstverständlichkeit. Die heißt nicht nur: Nie wieder Krieg! Die heißt: Gefühle von Mördern bedürfen keiner Schonung. Auf die zarten Seelen von verkleideten Sanitätsräten sei keine Rücksicht genommen. Wer im Kriege getötet wurde, ist nicht zu feiern, sondern aufs tiefste zu bedauern, weil er für einen Dreck gefallen ist. Der Feind steht nicht drüben, sondern hüben. Die Wehrpflicht und der Zwang zur Herstellung von Mordmitteln ist auch gegen das Gesetz zu verweigern.“ Und ich stimme Tucholsky zu, wenn er sagt: „Ich wünsche dem deutschen Pazifismus Soldaten des Friedens.“ In diesem Sinne verneige ich mich vor den Opfern von Faschismus und Krieg und danke für Ihre Aufmerksamkeit.