Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne

15. März 2018

1970 verstarb ein Mann, der als Justizinspektor in der oberhessischen Kleinstadt Laubach 1939 – 1945 Tagebuch führte. Der Sozialdemokrat Friedrich Kellner macht in seinen Aufzeichnungen deutlich, wieviel ein durchschnittlicher Deutscher während des Krieges darüber wissen konnte, was geschah. Seinem Enkel Robert Martin Scott Kellner ist es zu verdanken, dass diese Aufzeichnungen einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Darüber hinaus befragte er selbst Ende der 60er Jahre in Kenntnis der Tagebücher Zeitzeugen in Hessen. Es gelang ihm nach Jahren die verschollen geglaubten ersten Aufzeichnungen zu erhalten, die ein Freund seines Großvaters aufbewahrt hatte.

Dieser verließ 1934 Mainz, wo er sich als Justizinspektor nicht mehr sicher glaubte, und ließ sich in die tiefste Provinz versetzen. Zehn Tagebücher enthalten Hunderte Berichte, Schlagzeilen, Fotos, Karikaturen, Ausschnitte von Tages- oder Wochenzeitungen, die er sorgfältig ausschnitt, einklebte und kommentierte. Phrasen und dreisten Lügen faschistischer Amtsträger begegnete er mit klassischen Zitaten. Mehr noch, er deckte Widersprüche in den Aussagen über einen größeren Zeitraum auf. Als im August 1942 von Judendeportationen die Rede war, fragte er sich nach dem Wohin. Er zeichnete auf, was Soldaten auf Heimaturlaub über Mordgräuel im Osten berichteten. Bis zuletzt hoffte er auf Einsicht der Generäle, dass die Lage aussichtslos war. Den Abschluss der Aufzeichnungen bildet der Bericht eines KZ-Überlebenden.

Friedrich Kellner muss sich des Risikos bewusst gewesen sein. Zu Beginn der braunen Zeit hatte er seine Kritik noch gegenüber Arbeitskollegen geäußert. Seine Akte enthält den Vermerk, er übe „durch seine Haltung einen schlechten Einfluß auf die übrige Bevölkerung“ aus. So ging er dazu über, seine Gedanken und die Stimmungslage in einem linierten Rechnungsbuch festzuhalten. Das Propagandaministerium habe „das deutsche Volk in eine Herde tumber Tiere verwandelt“. Vergeblich versucht das Ehepaar Kellner Ausschreitungen gegen die jüdische Nachbarsfamilie Heynemann zu verhindert. Anzeigen gegen die Täter werden in der Dienststelle nicht entgegengenommen. Dagegen führt es zu Nachforschungen und Ermittlungen gegen die Kellners. Immerhin gelang es, den Heynemannkindern zu Ausreise zu verhelfen.

Er beschreibt den anfänglichen Kriegstaumel und die Unzufriedenheit über die Rationierungen im Alltag. „Der anständige Deutsche hat kaum mehr den Mut, überhaupt zu denken, geschweige denn etwas zu sprechen“, notiert er. März 1940 wird er vom Bürgermeister und NS-Ortsgruppenleiter verhört. Lediglich die Kenntnis von Grundstücksaneignung und Steuerhinterziehung durch beide Amtsträger schützen ihn vor weiterer Verfolgung. Entsetzt ist er von der flächenmäßigen Bombardierung alliierter Städte. Schwer zu begreifen sei, dass ausgebombte Deutsche beim Angriff auf die Sowjetunion jubeln. Boshaft findet er die Neutralität der Schweiz und Schwedens. Heil- und Pflegeanstalten hält er für Mordzentralen. Angst vor Vergeltung fürchtet ein Soldat auf Fronturlaub. Die Ausrottung der Juden, notiert Kellner, sei das einzige Versprechen, das die Nazis eingehalten hätten. Er schätzt ein, dass der Krieg 1943 zu Ende sei. Mit vertrauenswürdigen Freunden trifft er sich zu Gesprächsrunden und verteilt heimlich alliierte Flugblätter. Schließlich wird er zum Volkssturm eingezogen. Nach der Befreiung wird er stellvertretender Bürgermeister in Laubach und konzentriert sich auf den Aufbau der SPD. Friedrich Kellners Enkel Robert Martin Scott Kellner erbte die Aufzeichnungen. Nach Armeedienst, Studium und Promotion konzentrierte er sich auf Übersetzung, Überprüfung und Herausgabe der Kriegstagebücher des Großvaters. Der Durchbruch gelang Jahrzehnte später mit der Ausstellung in der George Bush Presidential Library and Museum und der kanadischen Filmproduktion „Mein Widerstand“.

Friedrich Kellner, „Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne“, Tagebücher 1939 – 1945, 2 Bde. 1.130 S., 59,90 Euro, Wallstein Verlag Göttingen, 6.Aufl. 2017, ISBN 978-3-8353-0636-3