Ist Gedenken zu vermitteln?

4. Januar 2017

Aufgrund langjähriger Erfahrung in der Erarbeitung politisch-historischer Diskurse, in der Erstellung von Ausstellungen, in der Vermittlung antifaschistischen Denkens, stellt Thomas Willms in seinem jüngsten Buch einige recht provokante Thesen vor, um Anforderungen an den Umgang mit den Erinnerungen an Zeitzeugen und die Institutionalisierung der Gedenkarbeit zu hinterfragen. Er zeichnet die Situation der deutschen Mehrheitsbevölkerung in den ersten Jahren nach der Befreiung vom Faschismus nach, das alliierte „Umerziehungsprogramm“. Erinnerungskultur war das Eintrittsgeld, um international wieder akzeptiert zu werden. Thomas Willms äußert seine Zweifel an der Tiefe, in der dies in der deutschen Gesellschaft verstanden wurde: „Keineswegs entsteht durch die Besichtigung nazistischer Mordstätten eine automatische Immunisierung gegenüber faschistischem Denken.“ Es geht dabei nicht nur um mangelnde Kenntnis über diese Zeit, nicht nur um unhinterfragtes Hinnehmen von dem, was erzählt oder gezeigt wird. Die Flut von Filmen, Spielen, Heften über die vorgebliche Heldenhaftigkeit des eigenen Verhaltens wächst sich mit zunehmendem zeitlichen Abstand zu einer „kritiklosen Bewunderung des Militärischen“ aus. Extrem rechte Traditionen des Erinnerns jedenfalls arbeiten massiv daran, die Verbrechen des Faschismus zu verleugnen und vergessen zu machen.
Vom Ersten Weltkrieg bis heute spannt Thomas Willms den Bogen in seiner Betrachtung. Liegt das Motiv für das weit verbreitete Schweigen der Nachkriegsgeneration darin „Rache (zu) verhindern und die Gesellschaft (zu) befrieden“, wie Christian Meier 1996 festgestellt haben will? Ist das „Erinnern an Krieg und Gewalt (nicht viel mehr) Mittel und Zweck der Verbreitung und Absicherung zukünftiger Kriege und Gewalt“, wie Thomas Willms meint? NS-Gedenkstätten atmen für ihn „ernüchterte, distanzierte, musealisierte Distanz“, sie beschreiben ohne zu werten, sie sammeln akribisch Einzelheiten der Erinnerungen. Die Betroffenheit kommt moralisierend daher und vermag nicht zu erfassen, welches Vorverständnis und welches Handlungswissen bei dem einzelnen Besucher zu finden ist. Mit Primo Levi schätzt der Autor, dass Erfahrungen der Überlebenden den Jüngeren „im Laufe der Jahre immer fremder“ werden. Die Wirklichkeit tritt uns in der Regel nur in bearbeiteter Form entgegen, selbst in den Erinnerungen der Überlebenden. Wer will sich schon vorstellen, wie beschaffen die stündliche Angst um die nackte Existenz war, welche wirklichen Gefühle im Kampf um Erhalt der einfachsten Lebensbedingungen herrschte? Charlotte Delbo beschreibt beispielhaft die Sinneseindrücke von Auschwitz als eine Welt, in der es „kein Mitleid und keine Solidarität“ gab, eine Welt nächtlicher Scheinwerfer und unfassbaren Gestanks. Traumata und Verdrängung zeichnen heute noch die nachkommenden Generationen der Verfolgten. Ohne die Bedeutung institutionellen Einwirkens auf das politische Verständnis zu verkennen, schätzt der Autor, dass die Wege hinterfragt werden müssen.
Thomas Willms, Auschwitz als Steinbruch – Was von den NS-Verbrechen bleibt, 136. S., PapyRossa Verlag Köln 2016, 12,90 Euro, ISBN 978-3-89438-622-1