15. September 2014

Ethnische Säuberungen, Völkermord, Flucht und Vertreibung im Europa der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschreibt der polnische Autor Jan M. Piskorski auf eindrucksvolle Weise. Auch wenn er hin und wieder antisowjetische Ressentiments zum Ausdruck bringt, ist es ein sehr faktenreiches und fundiertes Werk. Zunächst beschreibt er die Massenvertreibungen in den Balkankriegen, die dem Ersten Weltkrieg vorausgingen und endet mit einem Epilog zu den ethnischen Säuberungen in den Staaten des ehemaligen Jugoslawien zwischen 1989 und 1999. Bewusst unterscheidet er zwischen Vertreibungen, Umsiedlungen und ethnischen Säuberungen. In den Mittelpunkt seiner Darstellung stellt er die staatlichen Versuche einer ethnischen „Homogenisierung“ der Mittel- und Südosteuropäischen Länder zwischen 1918 und 1948. In voller Absicht gibt er seinem Buch den Titel „Die Verjagten“ und stellt den Vertreibungsplänen verschiedener Staaten den unbedingten Vernichtungswillen gegenüber der jüdischen, russischen, polnischen, serbischen Bevölkerung durch die Nationalsozialisten entgegen.
Piskorski widerlegt die kruden Thesen Ernst Noltes, der Stalins Umsiedlungsaktionen in den dreißiger Jahren und während des Zweiten Weltkriegs als Modell für Hitlers Vernichtungspläne gegenüber dem europäischen Judentum ausmachen will. Deutlich wird dabei auch, welch lange Tradition zaristische Umsiedlungsaktionen gegenüber ganzen ethnischen Gruppen hatte. Anhand neuerer Archivfunde und realistischer Berechnungen relativiert er die während des Kalten Krieges gängigen Zahlen in Bezug auf die Anzahl ermordeter oder vertriebener Menschen in Ostmitteleuropa. Piskorski stellt der aus Furcht vor einer möglicherweise wieder erwachenden Stärke der Deutschen verordneten Vertreibung kriminelle oder aus Hunger, Rachegefühlen, Neid erwachsene massenhafte Übergriffe in der letzten Kriegsphase und zu Ende des Krieges entgegen. An Einzelbeispielen macht er deutlich, dass „anständige“ Deutsche dabei sehr wohl von Nachbarn wie von Behörden in Schutz genommen wurden.
Fluchtgründe, Ängste, Sehnsucht und Hoffnung der Verjagten versucht Piskorski eindrucksvoll durch Schilderungen aus literarischen Werken deutlich zu machen. Erich Maria Remarque und Irène Némirovsky kommen in ihren Fluchterlebnissen zu Wort. Der aufbewahrte Hausschlüssel ist für ihn Symbol vergeblicher Hoffnung auf eine Rückkehr in ein längst beendetes früheres Leben in gewohnten Bahnen. Mit ausführlichem Ortsregister und Literaturverzeichnis.
Jan M. Piskorski, Die Verjagten. Flucht und Vertreibung im Europa des 20. Jahrhunderts, 433 S., 24,99 Euro, dt. Ausg. Siedler Verlag München 2013, ISBN 978-3-8275-0025-0
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